1. Februar 2013

Brüderle, Himmelreich, "Stern", der Blick auf den Busen - eine Luxus-Diskussion nach deutscher Art. Der wahre Sexismus, die eigentlichen Interessen

Deutschland hat ein massives Sexismus-Problem. Jährlich suchen 15.000 bis 17.000 von Gewalt betroffene Frauen Zuflucht in einem Frauenhaus. Die Zahl der Frauen, die Jahr für Jahr in Deutschland zwangs­ver­heiratet werden, liegt bei dokumentierten mehr als 3000. Die tatsächliche Zahl dürfte eher bei 30.000 liegen.

Eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts für auslän­di­sches und internationales Strafrecht im Auftrag des Bundes­kriminalamts über Ehrenmorde im Zeitraum von 1996 bis 2005 erbrachte die folgenden Resultate (S. 164):
Wir schätzen die mögliche Gesamtzahl der Ehrenmorde, die von der Justiz erfasst werden, auf etwa zwölf pro Jahr, davon drei Ehrenmorde im engeren Sinne. (...) Häufig stehen die Ehrenmorde im Kontext des Phänomens "arrangierter Ehen", d. h. entweder verstoßen junge Frauen gegen die Norm, dass ihr Partner von der Familie ausgesucht werden soll, oder verheiratete Frauen wollen sich aus einer für sie unerträglichen Beziehung befreien, die das Ergebnis einer arrangierten Ehe ist.
Das ist der alltägliche Sexismus in Deutschland. Er wird kaum diskutiert. Wird das Problem einmal thematisiert, wie Ende 2011 von der Bundesfamilienministerin, dann hagelt es sofort Kritik wegen eines angeblichen "islamophoben Untertons"

Die dringend erforderliche gesellschaftliche Debatte über diesen alltäglichen Sexismus in Deutschland findet faktisch nicht statt. Wer sie zu führen versucht, der wird marginalisiert. Ein marginales Thema wie die Frage, ob am 5. Januar 2012 ein deutscher Politiker eine deutsche Journalistin an einer Hotelbar belästigt hat, beschäftigt hingegen seit nun schon mehr als einer Woche die ganze Nation (siehe Laura Himmelreich ein Opfer? Ja, aber nicht Brüderles, sondern des Medienbetriebs. Ausgleichende Ungerechtigkeit; ZR vom 28. 1. 2013).



Es ist eine dieser sehr deutschen Luxus-Diskussionen. Die gegenwärtige deutsche Gesellschaft hat eine starke Neigung, die Augen vor den realen Problemen zu verschließen und sich lieber im Wolkenkuckucksheim von Fragen zu bewegen, die das Schickliche, das Gute und Moralische betreffen; das, was "man darf" und was nicht. Wir tänzeln im Überbau herum und kümmern uns wenig um die realen Probleme, um die Wirklichkeit da unten auf dem Boden der Tatsachen.

Wir ängstigen uns vor der eingebildeten Gefahr einer Katastrophe à la Fukushima in Deutschland und kümmern uns nicht darum, welche Folgen die mit der "Energiewende" verbundene Verteuerung der Energie für unsere Wirtschaft, für Arbeitsplätze und unseren künftigen Wohlstand haben wird (siehe die Serie Deutschland im Öko-Würgegriff).

Wir verschließen die Augen vor der Christenverfolgung in vielen Ländern der Welt und sorgen uns stattdessen um die "Entpersonalisierung des Tötens", die vorgeblich droht, wenn in einem Kampflugzeug kein Mensch mehr sitzt, sondern es als Drohne ferngesteuert wird (siehe Christenverfolgung in kommunistischen und islamischen Ländern; ZR vom 9. 1. 2013, sowie Zettels Meckerecke: "Entpersonalisierung des Tötens". Das Gedröhne um die Drohnen; ZR vom 26. 1. 2013).

Diese deutsche Gesellschaft hat es fertiggebracht, über ihr wichtigstes Zukunftsproblem, das des demographischen Wandels, selbst dann nicht zu debattieren, als wochenlang um Sarrazins Buch gestritten wurde, in dessen Mittelpunkt dieses Thema steht (siehe die Artikel zu Sarrazin in ZR sowie Mal wieder ein kleines Quiz: "Bei der Familienpolitik geht es um das Überleben eines Landes"; ZR vom 22. 1. 2013).

Daß unsere Gesellschaft im Begriff ist, zu überaltern; daß damit immer weniger produktiv tätige Menschen immer mehr Transferempfänger mitfinanzieren müssen und also der allgemeine Wohlstand drastisch sinken wird, das läßt die meisten Deutschen kalt. Aber der Blick auf den Busen an der Hotelbar - das ist doch einmal ein Thema von Bedeutung!

In "Zeit-Online" hat vorgestern Nina Pauer das Verschwurbelte dieser Diskussion aufs Verschwurbelste zum Ausdruck gebracht:
Man sollte, man sollte nicht, man sollte – dies ist der Duktus eines von Grund auf begrüßenswerten kommunikativen Prozesses, in dem gesellschaftliche Codes immer wieder ausgehandelt und bestätigt werden, in der Grenzverletzungen und deren Akteure markiert und bestraft werden. (...) Was aber das eigentlich Absurde an der Ansammlung von Einzelmeinungen über persönliche Grenzen ist, liegt genau in einem Wort: persönlich. Allgemeinheit generiert man nicht, indem jede und jeder erzählt, wann es ihr oder ihm zu viel, zu heikel, zu privat wird und wann nicht.
Das habe ich zwar nicht verstanden, aber "irgendwie" scheint es mir repräsentativ zu sein. Bezeichnend für diese Realitätsferne, dieses Gerede, das man bei uns eine gesellschaftliche Debatte nennt.



Natürlich geht es nicht nur darum, im Überbau herum­zutänzeln. Es ging und geht in dieser Debatte um handfeste Interessen.

Erstens diejenigen der Printmedien, die um ihr Überleben kämpfen. Die Chefredaktion des "Stern" hatte Anfang vergangener Woche erkannt, daß man aus dem Artikel der Redakteurin Laura Himmelreich mehr machen kann als nur eine Attacke auf die FDP nach ihrem Wahlsieg in Niedersachsen. Indem man die Ereignisse jener Nacht an der Hotelbar zur sexuellen Belästigung ernannte - was Laura Himmelreich ferngelegen hatte -, mixte man den publizistisch idealen Cocktail aus Sex und Politik; zum Wohl der Auflage des "Stern".

Zweitens hat nicht nur die Chefredaktion des "Stern" aus der Niedersachsen-Wahl und den beiden vorausgehenden Landtagswahlen in Hessen und Schleswig-Holstein den Schluß gezogen, daß die FDP zwar angeschossen, aber noch lange nicht zur Strecke gebracht ist. Die Demontage ihres designierten Spitzenkandidaten ist also allen ein Herzens­anliegen, aus deren Sicht der Liberalismus ein letztes Hindernis auf dem Weg in die rotgrüne formierte Gesellschaft ist (siehe Zettels Meckerecke: "Brüderle und die anderen schamlosen Böcke in Nadelstreifen". Die linke Diffamie­rungs­kampagne gegen die FDP ist angelaufen; ZR vom 24. 1. 2013).

Eine Luxus-Diskussion ist das also nur bezogen auf die Inhalte; man glaubt sich aus unserer Zeit mit ihren emanzipierten Frauen zurückversetzt in die sechziger, die siebziger Jahre. Sogar Frau Schwarzer wurde am Sonntag wieder reaktiviert, bei Jauch.

In Bezug auf die Funktion, hinsichtlich der Interessen, aus denen sich diese Diskussion speist, ist sie aber alles andere als Luxus. Es geht ums Geschäft. Es geht um die politische Macht. Es geht darum, ob es gelingt, die FDP am 22. September aus dem Bundestag zu kegeln und damit den Weg freizumachen für eine linke Regierung; eine Regierung mindestens unter Beteiligung einer linken Partei.
Zettel



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