1. Februar 2013

Sieben Jahre als Deutscher in Mali – Erfahrungen und Folgerungen (2): Das Krebsgeschwür der Korruption / Ein Gastbeitrag von Diarra

In Berichten über Afrika im Allgemeinen und über Mali im Besonderen wird oft die Korruption erwähnt. Jede seriöse Analyse muss dies tun, wenn sie den wahren Verhältnissen in Afrika gerecht werden will. Dabei wird die Korruption zu Recht als ein "Übel" oder ein "Krebsgeschwür" bezeichnet. Aber was genau dieses "Krebsgeschwür" zerstört und wie es wirkt, wird oft nicht weiter beleuchtet. Es wird als gegeben hingenommen. Ich möchte versuchen aufzuzeigen, dass die Korruption in der Tat eine der Hauptursachen dafür ist, dass der malische Staat bei der Bedrohung durch die Tuareg und später durch die Islamisten in sich zusammengefallen ist.

Mali ist durchdrungen von Korruption. Dabei muss man verstehen, dass in der malischen Gesellschaft nicht der als korrupt gilt, der Familienangehörige oder den Meistbietenden bevorzugt (so würden wir Korruption verstehen), sondern derjenige, der den Besten bevorzugt. Wer den Besten bevorzugt, der hat sich in den Augen der Malier von diesem in irgendeiner Form bestechen lassen, denn er hätte ja eigentlich einen Angehörigen seiner eigenen Familie oder seiner Ethnie bevorzugen müssen.

Dass so viele afrikanische Staaten als korrupt gelten, hat genau damit zu tun. Es ist ein Verständnis von "Recht", das sich aus engen Familienbanden ergibt. Alle, die einer Familie oder einem Clan entstammen, müssen zusammenhalten. Tun sie das nicht, gelten sie als illoyal und eben als korrupt.

Das führt dazu, dass nicht die Besten berufen werden, sondern die mit der besten Protektion. Auch höchste staatliche und wirtschaftliche Schlüsselpositionen werden auf diese Art und Weise besetzt. Es ist klar, dass man dadurch viel zu oft diejenigen beruft, die unfähig und ungeeignet sind. Der wirtschaftlichen Entwicklung ist das sehr abträglich. Auch eine gute Armeeführung kommt so nicht zustande.

Nicht übersehen darf man, dass durch Korruption und die aus ihr abgeleitete Form der Protektion immer wieder nur Mitglieder aus einer kleinen Elite in Machtpositionen berufen werden. Diese Elite lebt abgeschottet vom Rest der Malier und teilt die Macht unter sich auf. Die Söhne und Töchter dieser Elite studieren auch nicht auf einer der malischen Universitäten in Bamako oder Ségou, sondern in Frankreich.

Die Ärztin, die unsere Kinder entbunden hat, ist ein gutes Beispiel. Sie hatte reiche Eltern, die es ihr ermöglichten, in Paris Medizin zu studieren. Diese Frau war besser ausgebildet als die meisten deutschen Kinderärzte, die ich kenne. Auch die Kinder dieser hochqualifizierten Frau werden wieder in Paris studieren oder in Amerika.

Die Kinder ihrer Haushaltshilfe dagegen werden nicht den Hauch einer Chance haben, etwas anderes zu werden als gleichfalls Haushaltshilfe oder, wenn sie Männer sind, Wächter bei reichen Maliern und Ausländern. Wenn sie diese Stellen als Haushaltshilfe oder Wächter bekommen, werden sie bereits zu den Glücklicheren gehören, die überhaupt eine regelmäßige Arbeit haben. Zwischen der Elite und dem Rest der Bevölkerung liegt ein tiefer Graben, und eine wesentliche Ursache dafür ist dieses afrikanische Verständnis von familiärer Zusammengehörigkeit. Wobei ich allerdings oft genug erlebt habe, dass es innerhalb der Familien auch sehr rau zugehen kann.

Neben diesem ganz anderen afrikanischen Verständnis von Recht und Unrecht ("Korruption") gibt es die alltägliche Korruption in der Form, wie wir sie auch in Deutschland kennen. Ich könnte viele Beispiele nennen, die ich am eigenen Leib erlebt habe, von der kleinen erzwungenen finanziellen Aufmerksamkeit bis hin zu unverhohlener Erpressung. Wichtig zu verstehen ist dabei, wie hilflos und ohnmächtig sich Menschen fühlen, die übergangen werden oder die Schmiergeld zahlen müssen für etwas, das ihnen eigentlich zusteht. Auch ich habe mich manchmal so gefühlt.

Ein typisches Beispiel: Es kommt häufig vor, dass ein Grundstück mehrfach verkauft wird, also an verschiedene Käufer, die nichts voneinander wissen. Irgendwann kommt der Betrug des Verkäufers heraus; spätestens dann, wenn einer der Käufer anfängt, eine Mauer um sein neu erworbenes Grundstück zu bauen. Die anderen Käufer sehen das und beanspruchen nun ihrerseits zu Recht das Grundstück.

Der betrügerische Verkäufer wird aber nicht etwa belangt, sondern die verschiedenen Käufer verhandeln nun mit dem zuständigen Richter darüber, wer das Grundstück bekommt. Ist der Richter korrupt, hat nur der eine Chance, der auf die eigentliche Kaufsumme noch eine große Summe an Schmiergeld drauflegen kann. Natürlich hat der Richter auch noch beim Verkäufer abkassiert, damit dieser nicht doch noch belangt wird. Die anderen Käufer, die kein Schmiergeld zahlen konnten oder wollten, gehen leer aus.



Eine Gesellschaft, die so durchdrungen ist von Falschheit und Korruption, ist nicht stabil. Sie funktioniert zwar, aber sie entwickelt sich nicht. Es braucht echte Rechtssicherheit, damit sich eine Gesellschaft wirtschaftlich entwickeln kann. Diese Sicherheit fehlt in Mali.

Ich habe selten fleißigere Menschen erlebt als in Mali. Aber die Mehrheit dieser Menschen hat keinen Anreiz, etwas über das Lebensnotwendige hinaus zu erwirtschaften, denn es ist sicher, dass zu viele die Hand aufhalten werden, um davon zu profitieren; angefangen von eigenen Familienangehörigen, denen man verpflichtet ist, bis hin zu hohen und höchsten Repräsentanten der Dörfer und Städte, von denen man abhängig ist, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Der Staat ist der größte Bandit in diesem unwürdigen Spiel. Es kommt z.B. häufig vor, dass Polizisten, die in Bamako an jeder größeren Kreuzung stehen, einen vorbeifahrenden Malier am Freitagnachmittag nach dem Gebet in der Moschee anhalten und ihm das Mofa abnehmen. Der Polizist fährt mit dem Mofa nach Hause und nutzt es das ganze Wochenende über privat. Erst am Montagmorgen kommt er damit wieder an die gleiche Stelle zurück. Der Besitzer kann froh sein, wenn er es überhaupt wiederbekommt. Rechtliche Möglichkeiten, diesem Diebstahl zu begegnen, haben normale Malier nicht.

Würden Sie für solch einen Staat kämpfen? Würden Sie als Soldat von einem Vorgesetzten im Krieg Befehle annehmen, der ihnen jahrelang einen großen Teil Ihres Solds vorenthalten hat und Sie sich deswegen verschulden mussten, um überhaupt zu überleben? Würden Sie einem Staat gegenüber loyal sein, der Ihnen null Chance auf ein Weiterkommen ermöglicht, weil Ihre Eltern der falschen Familie oder der falschen Ethnie angehören?

Korruption in Mali ist keine Randerscheinung, die man einmal beiläufig erwähnen kann oder nicht. Korruption zerstört das Gemeinwesen, das nötig ist, damit ein Staat innerlich nicht zerbricht, wenn er von außen bedroht wird.
Diarra



© Diarra. Der Verfasser hat von 2004 bis 2008 und wieder von 2009 bis 2012 in Mali gelebt und gearbeitet. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Ein Baobab (Affenbrotbaum) in Mali. Diese Bäume sehen äußerlich groß, stark und gesund aus, sind innerlich aber oft hohl und werden deshalb von starken Winden leicht umgeknickt - ein Sinnbild für Mali. Eigene Aufnahme des Verfassers. (Für eine vergrößerte Ansicht bitte zweimal auf das Bild klicken).