20. Januar 2023

Vom Leben in der Simulation. Nachtrag





„Con alivio, con humillación, con terror, comprendió que él también era una apariencia, que otro estaba soñándolo.“

- Borges, “Las ruinas circulares” (1940)

I.

So schnell kann es gehen.

Gestern nacht habe ich in meinem letzten Beitrag geschrieben, was dafür spricht, daß die „Wirklichkeit,“ die wir um uns herum wahrnehmen, die „Welt,“ nur eine Simulation ist, und woran man das erkennen kann. Und ich habe ausgeführt, warum mir das Datum des 28. Juni, und besonders des 28. Juni 1971, als der bislang schlagendste Hinweis für diese These erscheint.

Ich muß mich korrigieren.

Ich habe die letzten Passagen des Textes weit nach Mitternacht geschrieben und den Beitrag um 3 Uhr 29 ins Netz hochgeladen. Danach habe ich den Rechner ausgeschaltet und die einmal am Tag fällige Auszeit von der Wirklichkeit (oder „Wirklichkeit“) genommen. Und als ich heute Mittag den Rechner wieder hochfuhr, was der erste Eintrag, der mir auf meiner Twitter-Timeline eingespielt wurde, dieser, gepostet 41 Minuten nach meinem Beitrag:



Jim O'Shaughnessy@jposhaughnessy
Curiouser and Curiouser...
“Are We Living in a Computer Simulation, and Can We Hack It?”
4:10 AM · Jan 19, 2023

Offenbar reagiert die Matrix ziemlich zeitnah.

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Im Tweet wird auf eine Kolumne von der „New York Times“ von vorgestern verwiesen, die mir nicht bekannt war, als ich meinen Text geschrieben habe. (Die NYT gehört nicht zu meiner üblichen Lektüre, da ihre Beiträge in der Regel hinter einer Bezahlschranke stehen). Dennis Overbye, Wissenschaftsjournalist, der seit vier Jahren Beiträge zum Thema Astronomie für die Zeitung schreibt, stellt dort kurzgefaßt diese These vor und verweist dann auf die Überlegungen von David Anderson, der an der University of California in Berkeley Mathematik lehrt, der die Zeit der Corona-Lockdowns dazu genutzt hat, um sich – spielerisch oder ernsthaft – mit der Idee und der aus ihr erwachsenden Konsequenzen zu beschäftigen und seinen Kollegen die Frage vorgelegt hat, auf welche Weise – wenn „die Wirklichkeit“ denn wirklich nur eine subjektive, mathematisch (genauer: algorithmisch) erzeugte Illusion sein sollte, diese gewissermaßen „von innen heraus“ zu beeinflussen wäre – und welche Facetten sie denn wohl gern ändern würden, wenn es in ihrer Macht stünde?

Würde man vielleicht die für die Eroberung der Milchstraße recht lästige Begrenzung auf die Lichtgeschwindigkeit und den Mangel an höherzahligen Dimensionen zum Einsetzen eines Warpantriebs stillstellen? Die Unumkehrbarkeit des Zeitpfeils, die uns Stippvisiten in der Vergangenheit verwehrt? Auch die Hauptsätze der Thermodynamik würden gläubige Energiewende-Jünger bestimmt liebend gern unter Kuratel stellen.

(An dieser Stelle muß der Kleine Pedant einwenden, daß es in einer „harten physikalischen Realität“ ziemlich ungesunde Konsequenzen nach sich ziehen würde, an den Grundkostanten unseres Raum-Zeit-Gefüges herumzuschrauben. Die Feinstoffkonstante, das Verhältnis der vier Elementarkräfte – der Elektromagnetischen Kraft, der starken und schwachen Kernkraft und der Gravitation sind so austariert, daß erst dadurch das komplexe Zusammenspiel die physikalische, chemische und biologische Entwicklung, der wir unser Dasein verdanken, möglich ist. Eine Verstärkung oder Abschwächung der schwachen Kernkraft um wenige Promille würde dazu führen, das Atome keine äußeren Elektronenschalen mehr binden können – keine schweren Elemente mehr; im Fall der starken Bindung könnten sich aus Protonen und Neutronen keine Atomkerne bilden; die Änderung der Ladungszahl von Elektronen hätte, um nur die trivialste Folge zu nennen, die Konsequenz, daß die beiden „Elektronen-Keulen“ eines H2O-Moleküls, Dihydrogen, auch als „Wasser“ bekannt, nicht mehr um 104° voneinander abstehen – mit der Folge, daß die Ausdehnung von Wasser sich wie jede anständigen anderen Flüssigkeit beim Abkühlen abnehmen würde und Seen und Flüsse vom Grund auf zufrieren würden – eine Tatsache, die Mutter Erde seit Milliarden Jahren in einen fest gefrorene Eiskugel verwandelt hätte. Weniger Schwerkraft/Raumkrümmung: im Inneren der Sterne würde der Druck und die Temperatur nicht hoch genug, um zur Kernfusion zu führen: keine Entstehung von schweren Elementen. Zuviel - und noch Zwergsterne gehen innerhalb von Millionen von Jahren als Supernova hoch. Vom Orbit von Planeten und Stern in Galaxien ganz zu schweigen. Aber bei unserer Hypothese wird ja vermutet, daß all diese „Naturkonstanten“ und „Gesetze“ nichts als das Resultat eines nicht weiter bekannten Simulations-Prozesses darstellen. Sie mögen für die innere Konsistenz der Illusion hilfreich sein; notwendig sind sie nicht.)

(Der Kleine Pedant merkt als Zweites an, daß es sich hier wie mit der Frage nach der Existenz eines freien Willens verhält: nach allem, was die messende, registrierende Psychologie und die Neurologie in den letzten 50 Jahren ermittelt hat, gibt es diesen „freien Willen“ in keiner Hinsicht. Angefangen mit den Forschungsergebnissen von Benjamin Libet in der siebziger Jahren, deutet alles darauf hin, daß unserer zerebraler Apparat seine Reaktionen und das dadurch ausgelöste Verhalten völlig unbewußt, unbeeinflußbar trifft und die Areale des Hirns, in denen so etwas wie der Eindruck eines Bewußtseins erzeugt wird, erst im Nachhinein davon in Kenntnis setzt. Oder wie es ein Neurophilosoph vor gut dreißig Jahren formuliert hat: „Unsere ‚Entscheidungen‘ sind nur eine Geschichte, die sich das Hirn selbst vormacht. Und diese Geschichte ist falsch.“ Andererseits ist es ebenso empirisch felsenfest erwiesen, daß der Eindruck, wir würden über einen freien Willen verfügen und seien, um mit Vater Freud zu sprechen, „Herr im Haus,“ für unser psychisches Funktionieren, unser Gleichgewicht absolut essenziell. Menschen, bei denen durch Störungen der Hirnfunktionen der Eindruck entsteht, sie würden jede ihrer Handlunge n durch einen von außen gesteuerten Zwang ausführen müssen, sind in keiner Weise mehr als psychische Wracks und Insassen von Pflegeeinrichtungen. Offenkundig dient das Generieren des „Bewußtseins“ als eine Art Benutzerschnittstelle im Hirn, als „User Interface“, um unterschiedliche Bereiche, die das Überleben während der Millionen Jahre der Menschwerdung nötig machte, gegeneinander auszutarieren: Jagd, Schutzsuchen, Flucht, Kooperation mit anderen Hordenmitgliedern etwa. Aber das ist eine andere Geschichte. Ein weiters Beispiel wäre das Taubwerden in unterkühlten Gliedmaßen. Wie jeder aus Erfahrung weiß, sind „steifgefrorene Finger“ im Winter durchaus noch biegsam – aber das Ausfallen des Körperbildes, die fehlende Rückkopplung zwischen den Muskelbewegungen und dem in den motorischen Kortexen erzeugten Körperbild machen es unmöglich, den Haustürschlüssel aus der Tasche zu fischen, ins Schloß zu stecken und ihn zu drehen.)

II.

In der Science Fiction ist die Frage „Was ist Wirklichkeit?“ – „Leben wir in einer Illusion“ – „Wir können wir uns hier Klarheit verschaffen?“ – natürlich von jeher eines der Themen, in denen das Genre einen tatsächlichen Anspruch auf Tiefgang angemeldet hat – nicht zuletzt, weil es eine zentrale Frage der Erkenntnisphilosophie darstellt. Dabei spielt es eine eher geringe Rolle, ob diese Illusion als ein durch technische Mittel erzeugte gesehen wird – oder als das Werk von Göttern oder Dämonen, die den „Schleier der Maja“ über die Erkennung der Wirklichkeit gebreitet haben. Der Digitale Regen aus der Eingangssequenz von „The Matrix“ (1999) ist dafür zum bildlichen Kürzel geworden. Das Werk von Philip K. Dick kreist fast obsessiv um diesen Themenkomplex. Daniel F. Galouyes Roman „Simulacron-3“ von 1964 dürfte noch vielen aufgrund seiner Verfilmung durch Rainer Werner Fassbinder bekannt sein. In „Welt am Draht“ (1973) hat die Simulation zwei Ebenen: die reale und die von den Computeringenieuren „nachgebaute,“ während in der Textvorlage sich „die Wirklichkeit,“ in die letzten an ihrer künstlichen Emulation arbeiten, selber schon als Programm in der Matrix läuft. In Christopher Nolans letztem bedeutenden Film von 2010, „Inception,“ erreicht die Staffelung der simulierten Welten das Niveau der komplexesten Erzählungen aus „Tausendundeine Nacht“ (etwa in der Geschichte der Schlangenkönigin; Nächte 486 bis 532): daß der Kreisel, der in der Schlußszene des Film, ungesehen von den Protagonisten, minutenlang rotiert, ohne zu kippen, macht dem Zuschauer klar, daß die vermeintlich „oberste Ebene,“ die handfeste Realität, von der aus die Odyssee ihren Ausgang genommen hat, auch nichts als eine weitere Ebene der Illusionen darstellt. In Folge 12 der 6. Staffel von Star Trek: The Next Generation, bricht Captain Jean-Luc Picard in dieser Hinsicht ganz bewußt die „vierte Wand“, die den Zuschauer durch die Erinnerung, daß wir es mit einer Inszenierung zu tun haben, herausreißt. Nachdem in „Ship in a Bottle“ (deutscher Tiel „Das Flaschenschiff“), zuerst im Januar 1993 ausgestrahlt, das Hologramm von Professor Moriarty sich über seine Natur bewußt ist und durch die Übernahme der Computer der Enterprise seine Flucht vom Holodeck erpreßt hat, stellt sich heraus, daß die Raumfähre, das Fluchtfahrzeug, auch nur eine weitere Illusion ist: es Flaschenschiff des Titels. „Wer weiß,“ sinniert Picard in der Schlußszene, während er auf den Kasten klopft, in dem die Simulation jetzt, sicher verkorkt, abläuft: „vielleicht sind wir auch nichts anderes so etwas hier?“ Womit er (oder in diesem Fall Drehbuchautor René Echevarria) natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen hat.

III.

Was zu der Frage überleitet: wie können die Insassen eines solchen „Innenweltkosmos“ zu einer solchen Erkenntnis gelangen – und wie, falls überhaupt, könnten sie sie beeinflussen?

Im Buddhismus erfolgt dies durch das Samsara, den blitzartigen Moment der Erleuchtung, der dem Chela, den Aspiranten, nach jahrelanger Meditation und Selbstversenkung die „wahre Natur“ der Dinge – nämlich ihren wenn auch hartnäckigen Illusionscharakter. (Der Kleine Zyniker merkt an: es liege in der Erkenntnis, daß all diese Mühe vergeblich war und es kein Austeigen gibt.)

Vater Freud, um auf ihn zurückzukommen, läßt es bescheidener angehen: ihm geht es darum, daß sich der Einzelne seiner blinden Triebe – der Sexualität und der Knebelung durch die eiserne Knebelung durch das Überich – bewußt werden soll, um nicht zwischen diesen beiden Mühlsteinen zerrieben zu werden. „Ich ES ist, soll ICH werden.“ Bei Lovecraft dient der Schleier der Maja dazu, die machtlose Menschheit vor der Erkenntnis der Urgewalten des Kosmos zu bewahren, deren Bewußtwerden den Einzelnen unweigerlich in den Wahnsinn treibt. (Sollte sich jemand wundern, daß ich Freuds Psychoanalyse so umstandslos neben die Großen Alten des Cthulhu-Mythos setze, dem sei gesagt: die beiden Trivialmythen haben beide mit der Wirklichkeit gleich wenig zu tun und unterscheiden sich in ihrem Dämonenpersonal nur graduell.)

Es zählt zur Eigenschaft der Science Fiction, daß sie in der Regel bei solchen künstlichen Paradiesen nicht auf Illusionen höherer Wesen oder auf drogeninduzierte Illusionen setzt (obschon sich auch dafür genügend Beispiele finden), sondern auf die technische Umsetzbarkeit.

In der wohl ersten Version, in der Erzählung „The City of the Living Dead“ von Fletcher Pratt und Lawrence Manning, erschienen im Mai 1930 im Magazin „Science Wonder Stories,“ stößt ein Steinzeitjäger Jahrtausende nach dem Ende der technischen Hochzivilisation auf eine noch funktionierende Stadt, in der die Automatiken für Energie, Licht und die Versorgung mit Nahrung und Kleidung sorgen. Von den tausenden der ehemaligen Bewohner trifft er nur noch einen alten Mann an, der die künstlich erzeugten Träume der anderen Bewohner, die sich in den Cyberspace (wie man heute sagen würde) geflüchtet haben. Es erweist sich als aussichtslos, die so Sedierten aus ihren Isolationstanks holen zu wollen und ihrem Lotophagendasein ein Ende zu setzen. Der alte Mann weiß, daß nach seinem Tod der Kollpas des Systems unausweichlich folgen wird: irgendwann wird eine Leitung brechen, ein Automat nicht mehr durch andere instandgesetzt werden können. Entsetzt flieht der junge Krieger über die Berge zurück zu seinem Stamm. „Denk daran, daß auf den Siedlungen und die Maschinen von Anglesk ein Fluch liegt und daß sie den lebenden Toten gehören, bis ihre Türme zerfallen,“ bescheidet er den Jungen, den ihn, alt geworden, nach dem Gefahren für seine Bewährung in der Wildnis befragt.



In Greg Egans Erzählung „Luminous“ (Asimov’s Science Fiction, September 1995) erweist sich de Einsatz eines ultimaten Quantencomputers als Schlüssel zur Erkenntnis: bei der Erkundung der Verästelungen von Gruppen- und Zahlentheorien stoßen die Algorithmen in Bereiche vor, in denen die Gesetze der irdischen Mathematik nicht mehr gelten – ja schlimmer: in denen sie sich verändern. Offenkundig gibt es einen Bereich– sei es räumlich, sei es simuliert – in dem diese Regeln, nach denen unsere physikalische Wirklichkeit fußt – oder zumindest nach denen sie simuliert wird – keine Geltung haben, sondern ein anderes Regelwerk das Universum ordnet. Den Cybernetikern gelingt es, eine mathematische Firewall zu programmieren, die das Sich-weiter-Vorfressen dieses Alkahests in unsere (simulierten) Bereichen eindämmt. (Ein Alkahest ist in der Alchemie ein „universales Lösungsmittel,“ das schlicht jedes Material, in dem es aufbewahrt werden soll, auflöst.)



In Stephen Baxters Story „Touching Centauri” (erschienen 2002 in der Sammlung „Phase Space,“ also noch vor Nick Bostroms Aufsatz), führt ein astronomisches Experiment zum Desaster. (Ja, dergleichen ist nicht nur denkbar. Das erste Experiment dieser Art fand vor kurzem beim Billiardspiel mit einem Asteroidenmond statt, mit der Raumsonde DART als Queue.) Eine gewaltige Laserbatterie, auf Stationen, die im Asteroidengürtel postiert sind, sendet eine Folge von starken Laserimpulsen in Richtung unseres kosmischen Nachbarn Alpha Centauri. Aus den in gut 9 Jahren eintreffenden Reflektionen erhoffen sich die Wissenschaftler detailgenaue Aufschlüsse über die Planeten, die bislang nur al reine Punkte, als ungenaue Schemen ausgemacht worden sind.



„Das meiste Interesse gab es am vierten Planeten, Alpha A-4. Alpha A-4, nicht viel größer als die Erde, befand sich in der sogenannten Goldilocks-Zone – nach genug am Stern, um flüssiges Wasser aufzuweisen, und nicht zu nahe, als es daß zu heiß würde. Weiter Studien hatten nachgewiesen, daß die Atmosphäre von Alpha A-4 Methan enthielt. Die Bedeutung lag darin, daß Methan chemisch instabil war. Es mußte etwas geben, daß beständig für Nachschub an Methan in der Atmosphäre von Alpha A-4 sorgte.

Der ausssichtsreichste Kandidat war: Leben.

Aber trotz dieser vielversprechenden Hinweise war Alpha A-4 bislang nur eine schwacher Lichtpunkt, der verschwommen dicht neben seiner Sonne stand.



Nicht zuletzt hat der Wissenschaftler, der sich das Experiment ausgedacht hat, dies als experimentelle Lösung für das Fermi-Paradox ersonnen. Wenn wir nur Teil einer Simulation sind, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, daß niemand ein Signal von den simulierten Lichtpunkten „dort draußen“ sendet.

Della sagte: „Falls ich Sie richtig verstehe, Cornelius, dann meinen Sie, daß nicht alles, was wir sehen, real ist. Wieviel betrifft das?“

Cornelius zuckte die Achseln. „Da gibt es unterschiedliche Antworten. Es hängt davon ab, wie weit die ‚Grenze‘ der künstlich erzeugten Wirklichkeit vom Nexus des menschlichen Bewußtseins entfernt ist. Am einfachsten wäre eine Art traditionelles Planetarium, in dem wir - unsere Körper – und die Dinge, mit denen wir umgehen, wirklich sind, während der Himmel eine gefälschte Kuppel darstellt.“

(Wer an dieser Stelle an einen Scheinwerfer denkt, der Jim Carrey auf den Kopf fällt, liegt vermutlich nicht falsch.)

Die bisherige Datenkapazität des „Sonnensystems“ hat ausgereicht, die Simulation in solch grobkörniger Auflösung aufrechtzuerhalten. Aber gleich, worauf ein Programm läuft – ob Transistoren, Halbleitern, verschränkten Photonen: es gibt eine obere Durchsatzgrenze. Die Datenflut der zurückkommenden Impulse und vor allem die Notwendigkeit, ihre Werte konsistent zu gestalten, hat den Kollaps der Simulation zur Folge. Ob das System nach dem Absturz erneut hochgefahren wird, wird den abgestürzten Unterprogrammen, die sich für "Menschen" hielten, natürlich verborgen bleiben.

IV.

Zum Wesen einer solchen simulierten Welt gehört es, daß sie nicht in toto und jederzeit „am Laufen“ gehalten wird, sondern nur bei Bedarf – wenn ihre Sinneseindrücke eben simuliert werden müssen. Wir hätten in diesem Fall auf den Seiten eines geschlossenen Buchs keine Buchstaben zu sehen; erst beim Aufschlagen – und tatsächlichen Lesen! – würden sie erzeugt. (Es ist nicht meine Schuld, lieber Leser, wenn Sie nie mehr einen Kindle mit den gleichen Augen anschauen wie vorher.) Erst der Akt des Beobachtens bringt die Wirklichkeit hervor. Oder um es in der Sprache der Quantentheorie zu sagen: bringt die Wellenfront zum Kollabieren. Erst das Öffnen von Schrödingers Katzenfalle bringt das Ergebnis des Experiments hervor. Vorher ist die Katze tatsächlich weder tot noch lebendig, sondern beides zugleich, mit einer Wahrscheinlichkeit, die von der Dauer des Experiments abhängig ist, aber nie bei 0 oder 1 liegt.

Da trifft sich die Physik durchaus mit der Auffassung der klassischen christlichen Theologie – nämlich mit dem „ontologischen Argument,“ wie es sich bei Anselm von Canterbury und später dann bei Thomas von Aquin findet: daß sich unsere Welt, unsere Existenz nicht in Wohlgefallen auflöst, liegt einzig daran, daß der Schöpfer, Gott, der Allgegenwärtige, jeden von uns, jeden Baum, jedes Blatt, jedes verschränkte Atom in jedem Moment der verstreichenden Zeit im Blick hat. (Gott ärgert sich vermutlich schwarz, weil er das Schrödingersche Katzen-Experiment nicht durchführen kann, weil es für ihn keine Wahrscheinlichkeit, keine Unschärfe geben kann. Augustinus hat bekanntlich für das Wirken von Gottes Allmächtigkeit eine Einschränkung vorgegeben: es sei ihm nicht möglich, einmal Erfolgtes Ungeschehen zu machen. Auch der Allmächtige muß mit den Folgen von allem, was sich ereignet hat, leben. Hier haben wir nun eine zweite Grenzbedingung.)

Der englische Geistliche Ronald Knox (1888-1957) hat diese kleine Facette thomistischer Theologie 1924 in zwei Limericks gefaßt:

There was a young man who said: God
Must find it exceedingly odd.
Why this tree
Should continue to be
When there’s no one around in the quad.

Dear Sir: You astonishment’s odd.
For I’m always around in the quad.
And that’s why that tree
Will continue to be.
Since observed by your faithfully. GOD



Ein junger Mann sprach einst: Gott der Herr
Verwundert sich ganz bestimmt sehr
Warum der Baum unbeirrt
Einfach fortexistiert
Obwohl niemand den Platz observiert.



Mein Herr: Sie irren sich schwer
Denn ich bin stets vor Ort. Und daher
Kommt’s, daß er existiert
Weil von mir observiert.
Hochachtungsvoll – Gott der Herr.

Jetzt müssen wir nur noch klären, ob die Quantenphysik eine Unterabteilung der Theologie darstellt (Fachbereich Scholastik) oder umgekehrt die Theologie als Teilbereich der Physik aufzufassen ist. Aber um diese Wellenfront zum Kollabieren zu bringen und die Frage zu entscheiden, bedarf es eines Meßvorgangs. Oder eines Beobachters.

PS.

Ich bin gestern im Forum zu diesem Netztagebuch, dem Kleinen Zimmer, gebeten worden, doch Rücksicht auf Leser zu nehmen, die nicht mit allen Sprachen aus dem Turm von Babel gewaschen sind. Das Motto von Jorge Luis Borges am Auftakt oben aus seiner Erzählung „Die kreisförmigen Ruinen,“ zuerst im Dezember 1940 in Silvina Ocampos Literaturzeitschrift „Sur“ erschienen, lautet in deutscher Übersetzung:

„Erleichtert, erniedrigt, entsetzt erkannte er, daß auch er nur ein Scheinbild war, daß jemand anderer ihn träumte.“

Borges setzt seinerseits als Motto über seine Erzählung einen Satz aus Lewis Carrolls „Through the Looking-Glass“: „And if he left off dreaming about you…”

Das stammt aus dem vierten Kapitel aus „Alice hinter den Spiegeln,“ in denen Twiddledum und Twiddledee Alice den träumenden roten Schachkönig zeigen und sie fragen, wovon er denn wohl träumt. Die Wendung "Curioser and curioser" stammt natürlich ebenfalls von Alica.

An dieser Stelle hielt sie erschreckt inne, weil sie etwas hörte, das sich wie das Schnaufen einer großen Dampfmaschine nicht weit entfernt im Wald anhörte, sie hatte Angst, daß es eher ein wildes Tier sin könnte. „Gibt es hier Löwen oder Tiger?“ fragte sie zaghaft.

„Das ist bloß der rote König, der schnarcht,“ sagte Twiddeldee.

„Komm mit und sieh ihn dir an!“ riefen die Brüder. Beide nahmen Alice an der Hand und führten sie dahin, wo der König schlief.

„Ist das nicht ein WUNDERSCHÖNER Anblick?“ fragte Twiddeldee.

Alice war eher nicht dieser Ansicht. Er hatte eine große Nachtmütze mit einem Bommel auf, und er lag verdreht auf einem unordentlichen Haufen Blätter und schnarchte laut – „laut genug, daß ihm der Kopf abfallen könnte!“ sagte Twiddeldee.

„Ich fürchte, er wird sich erkälten, wenn er da im nassen Gras liegt,“ sagte Alice, die ein sehr treusorgendes Mädchen war.

„Er träumt gerade,“ sagte Twiddeldee. „Und was träumt er wohl, was meinst du?“

„Das kann niemand wissen,“ sagte Alice.

„Na, von DIR träumt er!“ reif Twiddeldee und klatschte in die Hände. „Und wenn er aufhört, von dir zu träumen, wo bist du dann?“

„Hier, wo ich gerade stehe, natürlich,“ sagte Alice.

„Du nicht!“ gab Twiddeldee zurück. „Nirgendwo würdest du sein. Du bist nur etwas, das in seinem Traum vorkommt.“

„Wenn der König aufwachen würde,“ setzte Tiddeldum hinzu, „würdest du ausgehen – zack! – wie eine Kerzenflamme!“

„Würde ich nicht!“ rief Alice ungehalten. „Und überhaupt: Wenn ich nur etwas bin, was in seinem Traum vorkommt, dann möchte ich wissen, was ihr seid!“

„Dasselbe,“ sagte Twiddeldum.

„Das Gleiche,“ rief Twiddeldee.

Er rief das so laut, daß Alice gar nicht anders konnte als zu sagen. „Leise! Ihr weckt ihn sonst noch auf, wenn ihr so viel Krach macht.“

„Es ist völlig zwecklos, wenn du so etwas sagst,“ sagte Twiddeldum. „Du bist ja nur etwas aus seinem Traum. Du weißt ganz genau, daß du nicht wirklich bist.“

„Ich BIN wirklich!“ sagte Alice und begann zu weinen.

„Du machst dich keinen Deut wirklicher, wenn du flennst,“ bemerkte Twiddeldee. „Es gibt da nichts zu weinen.“

„Wenn ich nicht wirklich bin,“ sagte Alice und mußte trotz ihrer Tränen lachen, weil das alles so lächerlich schien, „dann könnte ich doch nicht weinen.“

„Du glaubst doch nicht etwa, daß das wirkliche Tränen sind?“ unterbrach sie Twiddeldum mit Verachtung in der Stimme.




U.E.

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