8. Januar 2023

"Die Zukunft glaubt an uns"



Liebe FDP,

Da habt ihr nun, nach zwei Jahren Pause durch COVID-19, am Freitag, dem Dreikönigstag, euer traditionelles Dreikönigstreffen im Stuttgarter Opernhaus hinter euch gebracht. Zum einen als der seit Jahrzehnte übliche Start, daß die Pause zwischen den Jahren vorbei ist: die traditionellen zwölf Rauhnächte vorüber und nun der übliche Drehbühnenzauber mit Akklamationen und Slots in den Prime-Time-Medien (wie man im Deutschen sagt) wieder von neuem beginnt – nicht zuletzt als nötige Erinnerung, daß es die Partei auch noch gibt – und nicht nur ihre Vertreter im Ministeramt oder die Bundestagsfraktion. Business as usual (wie man im Deutschen sagt). Mit den üblichen Reden voller irgendwie wohlklingender, aber inhaltsfreier Phrasen, die seit Jahrzehnten beliebig ausgetauscht werden können und schon vergessen sind, bevor sie vom Teleprompter abgelesen werden. Same old, same old (wie man im Deutschen sagt). Und nicht zuletzt als ein öffentlich zelebrierter Auftritt, daß wir jetzt auf Maskenball und Abstandsmessungen im Freien mit dem Zollstock verzichten können.

Liebe FDP, genau solche Rituale waren es, die dazu geführt haben, daß ich auch schon vor 20 Jahren, als ich noch einen Fernseher besaß, solche Zeremonien ebenso ignoriert habe wie die Stunksitzungen anderer Karnevalsvereine. Ganz läßt sich dergleichen im Zeichen der sozialen Medien, die Rundfunk und Fernsehen als Informationsquelle ersetzt haben, nicht außer Sichtweite halten. Und deshalb habe ich auch die Plakate gesehen, auf denen das Motto zu lesen war, unter das ihr dieses Treffen gestellt habt:

„Die Zukunft glaubt an uns.“

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Daß wir uns nicht falsch verstehen: ich weiß, daß derlei zum Umfeld solcher Veranstaltungen gehört. Daß es nicht darum geht, Inhalte oder Informationen zu vermitteln, sondern hier nur eine Agentur damit beauftragt wird, irgendeinen Slogan zu prägen, der einige und möglichst wenige Vokabeln enthält, der nach den Richtlinien des Werbebusiness „beim Hörer oder Leser positive Assoziationen hervorruft,“ so austauschbar wie die erwähnten Grußaddressen. Klingklang aus der Gebührenklasse „Read my lips!“ (George Bush der Ältere, 1988), „I’m with her!“ (Crooked Hillary, 2016) oder „Wir schaffen das!“ (eine nichtvermißte Kanzlette, 2015).

Und ich will auch gerne zugeben, daß sich, wem immer dieses Sätzchen eingefallen sein mag, der, die oder das Betreffende sogar etwa dabei gedacht hat und mit „der Zukunft“ nicht die vor uns liegende Zeit gemeint ist, sondern die Schichten der jungen Wähler, der Erstwähler, von denen sich die Gelbe Partei in Zukunft Stimmen erhofft, nachdem sie ihren Stimmenanteil von 10,7 Prozent 2017 auf 11,5 Prozent beim letzten Durchgang 2021 verbessern konnten. Ein wenig Skepsis ist hier wohl angebracht. Bei der Landtagswahl im Mai 2022 in NRW kam bei FDP bei dieser Klientel, bei den Wählern unter 30 Jahren, nur auf den vierten Platz mit 12 Prozent, hinter 25% für die Grünen, 21% für die Genossen der SPD und 18% für die CDU. Schlechter schnitt bei „der Zukunft“ nur die AfD mit 5% ab. "Glauben" sieht anders aus. Aber zumindest darf man als Optimist im politischen Geschäft einen Silberstreif am Horizont darin sehen, daß nach 35 Jahren mediales und schulisches Dauergetrommel doch nicht dazu geführt haben, daß „die Zukunft“ geschlossen hinter den Klimaapokalyptikern und Weltuntergangsfanatikern herhüpft.

Und dennoch...

Prima facie ist ein Satz wie „die Zukunft glaubt an uns“ noch ein wenig sinnloser als die angeführten Phrasen. Auch das kann natürlich Absicht sein. Werbemenschen arbeiten seit Jahrzehnten mit paradoxen, verwirrenden oder überraschenden Wendungen, in der Absicht, daß sich dergleichen im Gedächtnis der flüchtigen Betrachters als ein Rätsel der Sphinx für Arme einnistet, als „Mem“ (wie man im Deutschen sagt), um so den Assoziationseffekt auszulösen. Von „Ich bin zwei Öltanks“ bis „schalt doch mal das Eon ein“ findet sich dergleichen. Der erste Werbespruch dieser Art war wohl die Plakataktion, den die Decla Bioskop in den ersten vier Wochen des Februars 1920 auf den Litfaßsäulen Berlins für ihren neuen Film „Das Kabinett des Dr. Caligari“ veranstaltete: in der ersten Woche plakatierte sie nur das Wort „DU...“, sieben Tage darauf „DU MUSST…“, danach „DU MUSST CALIGARI...“ und schließlich „DU MUSST CALIGARI WERDEN!“ Von tatsächlichen Verwandlungen ist nichts bekannt geworden – auch wenn Siegfried Kracauer 1947 in seiner berühmten Studie des expressionistischen Films, „Von Caligari zu Hitler,“ hier reine ästhetische Linie vom grotesk gestikulierenden Kintopp zum „kleinen Gefreiten aus Braunau“ gezogen hat. (Der kleine Zyniker würde höchstens eine um 100 Jahre verzögerte Wirkung auf einen amtierenden Mad Scientist vermuten, bei dem das „du...mußt… Bundeshorrorminister … werden!“ gut funktioniert hat – gewissermaßen als ein verspäteter Manchurian Candidate im Monty-Python-Format. Aber das 21. Jahrhundert dient offenbar, wie ich an dieser Stelle schon des öfteren geschrieben habe, dazu, die Albträume des vorigen Säkulums tatkräftig Wirklichkeit werden zu lassen.)

Trotzdem: „Die Zukunft“ (einmal beim Nennwert genommen), kann nicht „glauben“. Sie existiert per definitionem noch gar nicht. Sie schaut erst später vorbei. Und es sollte die Haltung der Politik sein, zumindest vorzugeben, sie nach den eigenen Vorgaben prägen zu können – daß sie also ergebnisoffen ist. Daß sie gewissermaßen (noch) im potentiellen Plural verharrt. Und ob „die Zukunft“ wirklich an die FDP „glaubt,“ wenn die Wählerschaft sie in den nächsten drei oder vier Wahlperioden in die Rolle der APO, der Außerparlamentarischen Opposition verbannt, wie 2013, weil sich Herr Lindner dafür entschieden hat, lieber grottenschlecht als gar nicht mitzuregieren? Mit anderen Worten: sucht euch bessere Werbetexter.

Im semantischen Alltagsverständnis kann „die Zukunft“ so wenig „glauben,“ wie Heideggers Nichts „nichten“ kann. Im Deutschen hieß der Standardsatz dieser Art lange „nachts ist es kälter als draußen“ (der Kollege Danisch hat in der vergangenen Woche daran erinnert).

Nun ist es keineswegs so, daß solche Sätze auch in „der Zukunft“ so ohne realweltliche Referenz bleiben. Als James Joyce in „Finnegans Wake“ (ohne Apostroph!) den Satz „three quarks for Muster Mark!“ schrieb, was das ungeachtet des Bleiklangs, den „Quark" für deutsche Leser besitzt, Buchstabensuppe; seit Murray Gell-Mann bezeichnet es die Einheiten, aus denen die sich kleinsten Bausteine der Materie aufbauen. Vor 65 Jahren prägte Noam Chomsky das mittlerweile bekannteste Beispiel für eine solche Wortfolge, die – zumindest im Jahr 1957 - noch höheren Blödsinn darstellte. In seinem Buch „Semantic Structures“ (das uns das linguistisch wenig hilfreiche Konzept der „grammatischen Tiefenstruktur“ beschert hat) gab er als Beispiel für einen grammatikalisch korrekten und vollständigen und als solcher sofort erkennbaren Satz an:

„Colorless green ideas sleep furiously.”

Die Aussagelosigkeit ist hier mit Bedacht gestaffelt. „Ideen“ können keine Farbwerte aufweisen – und wenn sie farblos sind, können sie nicht grün sein. Man kann sie haben, aber sie können von sich aus keine Aktivität entfalten und sich nicht schlafen legen. Und wildgeworden schläft es sich erst recht nicht – obwohl Michail Sostschenkos Dienstanweisung aus der frühen Sowjetzeit „schlaf schneller, Genosse!“ (im Original „Спи скорой, товарищ!“) älteren Zeitgenossen noch im Gedächtnis sein dürfte. (Das exakte Zitat in der Erzählung „Спи скорой“ von 1936 lautet „Товарищ, спи быстрее, твоя подушка нужна другому“ – Genosse, schlaf schneller, dein Kopfkissen wird gebraucht!)

Heutigen „Jetztsassen“ (um Thomas Kapielskis Formulierung wieder mal zu würdigen) ist der Sinn von Chomskys Satz dagegen unmittelbar einleuchtend: was „grüne Ideen“ sind, haben wir im Lauf der letzten 35 oder 40 Jahre Tag für Tag erfahren – ebenso, daß sie zumeist „blaß“ daherkommen – vage, unscharf formuliert, als Konzeptrauschen gehegt werden, daß ihr aufgewühlter Schlaf aber durchaus imstande ist, Ungeheuer zu gebären. Nebenbei: Francisco Goyas Satz auf der berühmten 43. Radierung der „Caprichios“ von 1797 – „El sueño de la razón produce monstruos“ ist im Original doppeldeutig, da “sueño” im Spanischen sowohl den Schlaf als auch den Traum bezeichnet.

Und „grüne Gedanken“ (noch im ideologisch unaufgeladenen Sinn) finden sich schon in einem der berühmtesten englischen Gedichte aus dem siebzehnten Jahrhundert, „The Garden“ des wohl bedeutendsten Vertreters der „Metaphysical Poets,“ Andrew Marvell. Dem späteren Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert und zur Zeit Königin Viktorias galten die ausgefallenen Metaphern und Bildbrüche der „metaphysical poets“ als übersteigerte Bizarrerie, als Vorläufer der Nonsenspoesie im Sinn von Lewis Carroll. Erst das frühe 20. Jahrhundert hat im Zeichen von T. S. Eliot und Ezra Pounds die Gedichte von Herrick, Marvell, George Herbert oder Southwell wieder zu schätzen gelernt. Und in der sechsten der acht Strophen von „The Garden,“ 1681 zuerst gedruckt, heißt es:

Meanwhile the mind, from pleasure less,
Withdraws into its happiness.
The mind, that ocean where each kind
Does straight its own resemblance find.
Yet it creates, transcending these
Far other worlds, and other seas.
Annihilating all that’s made
To a green thought in a green shade.

Sollten Sie als deutsche Polit-Profis die üblichen leichten Schwierigkeiten mit dem Englischen haben, dann improvisere ich kurz:

Derweil zieht sich mangels Glück
Der Geist sich auf sich selbst zurück.
Ins Meer, in dem der Intellekt
Sofort sein Ebenbild entdeckt.
Und überdies aus eigener Kraft
Sich fremde Welten, ferne Meere schafft.
Und dampft alles Erschaff'ne ein
Zum grünen Traum im grünen Dämmerschein.

(Darko Suvin hat vor einem halben Jahrhundert, 1970, diese „anderen Welten, anderen Meere“ zum Titel der ersten Anthologie mit Science-Fiction-Erzählungen aus Osteuropa gewählt. Und Genrekenner dürfen jetzt darüber sinnieren, ob in Marvells Zeilen die allererste Keimzelle für Stanislaw Lems „Solaris“ zu finden ist.)

Aber dem „Glauben der Zukunft an die FDP“ dürfte ein solcher „Wandel durch Annäherung“ in eben der beschworenen Zukunft verwehrt blieben. Eigentlich schade drum. Denn dann könntet ihr wenigstens sicher sein, daß überhaupt noch jemand an euch glaubt. Denn unter den Jetztsassen dürften es aktuell nach eurer Performance (wie man im Deutschen sagt) in den letzten 15 Monaten nicht mehr allzuviele sein.






U.E.

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