31. Mai 2019

Marginalie: Stirbt mit dem alten, weißen Mann auch der Kavalier aus?

Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, so habe ich den Namen Michael Wendler zum ersten Mal in Berichten über einen Markenrechtsstreit gelesen. Falls Ihnen der besagte Herr gänzlich unbekannt ist, werte Leserschaft, so drückt sich darin nicht ein Mangel an Bildung, sondern vielmehr sogar ein Übermaß derselben aus. Denn intellektuelles Niveau wird ja gerne in der Distanz zu den Lustbarkeiten des breiten Publikums gemessen.

Michael Wendler ist, wie uns die Wikipedia aufklärt, „Sänger und Songschreiber“ und damit wohl genau die Kategorie einer öffentlichen Person, an der Interesse zu hegen dem durchschnittlichen Adressaten des Stern von dessen Redaktion unterstellt wird. Der Tonkünstler, so ist einem Eintrag im Online-Auftritt des Hamburger Wochenmagazins zu entnehmen, buchte nach allerlei Irrungen und Wirrungen für sich und seine bessere Hälfte zwei Plätze in einem Flugzeug von Miami nach Mallorca. So weit, so unspektakulär. Als problematisch an der Reservierung erwies sich, dass die beiden Sitze nicht nur nicht nebeneinander, sondern auch in unterschiedlichen Preisgruppen gelegen waren: der eine in der business, der andere in der economy class. Auch die Tränen seiner 18-jährigen Freundin, die – wie man als Sänger und Songschreiber wissen sollte – nicht lügen (ich spreche von den Tränen, von den Freundinnen will ich nichts gesagt haben), bewegten den 46-jährigen Barden – wir verhandeln ein Boulevardthema, dabei gehören Altersangaben zur lex artis – nicht dazu, mit dem Platz in der Holzklasse vorliebzunehmen und seiner Angebeteten die komfortablere Reisemöglichkeit zu offerieren, was das Nachrichtenmagazin entsprechend kritisch anmerkt.

­Aber warum sollte Wendler seiner Laura (ausgerechnet! Petrarca lächelt vom Pegasus-Rücken herab) eine derart schöne Geste angedeihen lassen? Sie werden, geschätzte Leserschaft, am Ende immer bei der folgenden Antwort landen: „Weil ein Gentleman das täte.“

Wendler, Jahrgang 1972, gehört freilich zu der ersten Post-68er-Generation, für die das (Vor-)Bild des klassischen Kavaliers wohl schon reichlich démodé war. Und unsere hoffnungsvollen Millennials, jedenfalls solche, die in der Großstadt leben und beruflich irgendwas mit Medien machen (und von der deutschen Rechtschreibung herausgefordert werden), stehen dem Ideal des Gentlemans mit äußerst zwiespältigen Gefühlen gegenüber. Sind chevalereske Verhaltensweisen also – horribile cogitatu et horribilius dictu – Attribute des alten, weißen Mannes?

Der cavalier ist nichts anderes als der Ritter und wie dieser ein hybrides Geschöpf: Einerseits verlangte man von den Mitgliedern des Wehrstandes toxische Männlichkeit, zumal sanfteres Betragen im Krieg und in der Fehde eher wenig Erfolg verhieß. Andererseits sollten sich die edlen Herren – zumindest gegenüber ebenbürtigen Damen und Fräulein – nicht wie ungehobelte Bauernflegel oder liederliche Wüstlinge gerieren.

Der im französischen Absolutismus seiner einstigen militärischen Funktion entkleidete und zu sinnlosem Hofschranzentum degradierte (das alte Soldatentum nur noch in Duellen hochhaltende) Adel dürfte die standesgemäßen Verhaltensnormen fortentwickelt und dabei das klassische Instrumentarium der galanterie geschaffen haben. In einer vor Zofen und Kammerdienern nur so wimmelnden Filterblase übernimmt der aristokratische Mann gegenüber der von ihm begehrten gleichrangigen Frau Handreichungen, welche normalerweise von den Domestiken zu verrichten wären, und wendet ihr in einer Welt der Eitlen und Schönen dadurch Aufmerksamkeit zu.

Das zu wirtschaftlicher Macht gekommene Bürgertum nahm zwecks Verfeinerung der eigenen Manieren schließlich Anleihen bei den Blaublütigen. Mit dem Einzug der Massenkultur im 20. Jahrhundert wurden das In-den-Mantel-Helfen und Türaufhalten dann zum Gemeingut korrekten Benehmens, bis im Gefolge feministischer Debatten solche Liebenswürdigkeiten in die Kritik gerieten.

Wie unser historischer Exkurs gezeigt hat, sind toxische Maskulinität und galanterie die beiden Gesichter eines janusköpfigen Männerbildes (der Ritter als Krieger und als Frauenverehrer), das in dieser Form nur in der faustischen Kultur entstanden ist. In allen anderen patriarchalischen Gesellschaften – das heißt: fast überall auf der Welt – fehlt das Kavalier-Ideal, was für die conditio feminina nicht unbedingt von Vorteil ist. Und so mag es kaum verwundern, dass misogyne abendländische Intellektuelle neidvoll gen Osten schielten und mit „unsrer altfranzösischen Galanterie und abgeschmackter Weiberveneration, dieser höchsten Blüthe christlich-germanischer Dummheit“ (Arthur Schopenhauer, Über die Weiber) rein gar nichts anzufangen wussten.

Freilich steht in der okzidentalen Gegenwart nicht nur die toxische Männlichkeit, sondern auch der Gentleman-Kodex unter Beschuss. Letzterer wird bezichtigt, seinerseits die Herrschaftsverhältnisse zwischen den Geschlechtern zu zementieren, Frauen im Ergebnis herabzuwürdigen („Ich bin doch nicht zu dumm, um eine Tür selbst zu öffnen“) und allenfalls einen Trostpreis für fortbestehende Ungerechtigkeitsempfindungen zu bilden („Was nützt mir eine Einladung zum Abendessen, wenn die gender pay gap nicht geschlossen wird?“). Virilitätsentgiftete junge Männer scheinen auch von jeglichen Kavaliersrelikten befreit zu sein und als ebenso weichgespültes wie zerquältes Gesamtpaket jedenfalls für einige ihrer Altersgenossinnen nicht besonders attraktiv zu sein. Vielleicht ist der Gentleman aber auch gar kein Widerpart zur toxischen Männlichkeit, sondern lediglich eine Sublimierung derselben und ohne diese nicht vorstellbar. Der zur Schaffung der menschlichen Gesellschaft angeblich erforderlichen Überwindung der männlichen Gesellschaft fällt der Kavalier wohl so oder so zum Opfer.

Noricus

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