18. Mai 2019

Abflug?

Nur eine winzige Mißzelle, eigentlich nur ein Halbsatz. Aber er sei als zetliche Wegmarke hergesetzt,

Im Kaffeesatz der Zukunft zu lesen zu versuchen, ist stets eine mißliche Angelegenheit; der neben Mark Twain so ziemlich jedem weiteren skeptischen Denker zugeschriebene Satz "Voraussagen sind schwerig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen" hat mehr als seine Berechtigung. Auf der anderen Seite gibt es so etwas wie eine Erwartungshaltung in bezug auf das, von dem man erwartet, daß es ins Haus stehen könnte. Und in diesem Punkt möchte der Protokollant zu Protokoll geben, daß er seine bisherige felsenfeste Haltung, was das weitere politische Schicksal der Frau Bundeskanzler, Dr. phys. Angela Merkel, anbetrifft, leichte Risse bekommen hat.


Anlaß war ein Interview, das sie vor drei Tagen, am 15. Mai, der Süddeutschen Zeitung gegeben hat (dessen Inhalt, durch die gängigen Multiplikatoren des Nachrichtenagenturen in allen Kanälen, beliebig verfügbar ist, so etwa hier in der Variante von t-online: "Merkel-Interview heizt Spekulationen an: Wechselt die Bundeskanzlerin bald nach Brüssel?") sowie die Überlegungen, die Tomas Spahn - der u.a. für Tichys Einblick schreibt, daran auf Facebook geknüpft hat (der Post ist öffentlich gestellt; es kann ihn also jeder Weltnetznutzer einsehen):

"Spätestens seit meinem Artikel über die Chancenlosigkeit des CSU-Kandidaten Weber als Kommissionspräsident konnte jeder wissen: Weber ist Spielmasse, damit Merkel im Herbst Tusk als Ratspräsident ablösen kann.
"Für jene, die den EU-Dschungel nicht so recht durchschauen: Der RAT entscheidet alles. Die KOMMISSION darf das dann in exekutive Tätigkeiten umsetzen - einschließlich zahlloser überflüssiger Verordnungen und Gesetzesvorlagen, die wiederum dem machtlosen EU-PARLAMENT zum Abnicken vorgelegt werden.
Da Merkel nun im Herbst Ratspräsident werden möchte und Frankreich den Chefsitz in der EU-Deutsches-Geld-ans-Mittelmeer-Pump-Bank besetzen darf, wird der Nachfolger Junckers alles sein - nur kein Deutscher. Armer Weber ... aber vielleicht schafft er es ja noch zum Parlamentspräsidenten. Da darf er dann artig das verkünden, was Ratschefin Merkel ihm vorlegt.
Ich selber hätte bis vor zwei Tagen das halbe Universum blind darauf verwettet, daß Frau Merkel ihre Amtzeit als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland beharrlich bis zum Ende aussitzen wird (von der sie im vorigen Jahr erklärt hat, es werde ihre letzte sein), weil sie sich, in welch schattenhafter Form auch imer, bewußt sein dürfte, daß die desaströsen Weichenstellungen, in die sie dieses Land - ganz nach dessen Willen - gezwungen hat, in ihren Folgen, von Energiewende, aufgeschobener Euro-Rettung und -Stützung und den nicht mehr unter dem Teppich und der Portokasse zu haltenden finanziellen und sozialen Kosten ihrer blinden Grenzschleifung im Herbst 2015 (und der Weigerung, hier einen radikalen Stop und eine Rückkehr zu geordneten Verhältnissen auch nur ins Auge zu fassen) - ihr keine andere Wahl lassen, als auf Zeit zu spilen und zu hoffen, daß der Kassensturz, der nach ihrem Abgang von der politischen Bühne unweigerlich einsetzen wird -. einsetzen MUSS - sie verschonen wird. Und dieser Kassensturz muß unweigerlich erfolgen, denn der Wegfall der "Alternativlosigkeit", die sich in ihrer Person (wenn auch nicht in ihrer Persönlichkeit, denn sie verfügt über keine) ausdrückt, wird alle Paladine, Steigbügelhalter, Yes-Minister und Hofschranzen dazu bringen, alle Schuld bei ihrer ganz persönlichen Adresse abzuladen. Nein: niemand hat den Kurs ins Desaster, in die Preisgabe des Rechtstaats, der Zukunft dieses Landes zu verantworten als sie. Niemand hat den Wahnsinn der Klimahysterie zu verantworten als sie, die daran geknüpfte gezielte Vernichtung der deutschen Automobilindustrie, der Entsorgung aller öffentlichen Debatte auf ein infantiles Grundschulniveau, die praktisch-faktische Lähmung jeglicher politischen Opposition, die zu den Grundfesten einer funktionierenden Demokratie gehört - nicht weil die Opposition prinzipiell Recht hat, sondern weil eine Regierung ohne sie nachgerade automatisch unrecht hat, weil sie die Rückbindung an divergierende Standpunkte aufgibt und die Checks and Balances kappt, die eben nicht nur für eine Eingrenzung ihrer Macht sorgen sollen, sondern auch verhindern, daß die blinde "Anmaßung des Wissens" sich nicht zu sehr gegen wirtschaftliche und ökonomische Gesetzmäßigkeiten versündigt. Nein: Frau Merkel wird, nach Ablauf ihres Wirkens hierzulande, ein Trümmerfeld hinterlassen. Sie wird Germanien zerstört haben, und, darauf darf man, ungeachtet der Tatsache, daß Klio blind ist, schon jetzt wetten: sie wird keinen Schäuble, keinen Amthor, keine SPD und keine AKK bei sich gehabt haben.

Was in diesem Bereich noch schwerer wiegt - soweit das politische Kalkül, wie es etwa die alte Bonner Republik über Jahrzehnte geprägt hat, überhaupt noch greift und nicht durch Infantilismus ersetzt worden ist: die Folgekosten von Merkels Weggangs sind nicht nur allen außenstehenden Betrachtern vollkommen unklar, sondern wohl auch den Spitzen. Und zwar beider Koalitionsparteien. Für die CDU ist absehbar, daß sie sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen - warum habt ihr das Desaster nicht verhindert? wer hat alle Rückkehr zu Vernunft und Augenmaß über Jahre verhindert? - im Post-Merkelantismus in unschöner, aber absolut verdienter Weise zerlegen und zerstören wird wie vor einem Vierteljahrhundert die Democrazia Crisstiana nach dem Abtritt Giulio Andreottis. Das Schicksal der SPD, der durch ihre Kolationstreue über viele viele Jahre das gleiche Schicksal drohen würde, kann bei diesem Kalkül außen vor bleiben: ihr Niedergang ist längst besiegelt und nur noch eine Frage der Zeit. Die Personalpolitik, die sie seit Jahren fährt, subalternen Figuren, die sie vertreten - davon gefühlt die meisten nicht in gewählten Positionen, sondern als erschreckende Pausenclown -  von einem Ralf Stegner über eine Sawsan Chebli bis hin zu einem Kevin Kühnert ein Panoptikum, das zu Zeiten eines Willy Brandt, eines Helmut Schmidt, eines Wehner oder Ehmke nicht nur unvorstellbar, sondern schlicht denkunmöglich gewesen wäre.

Aus diesem Kalkül - daß keiner der an der Regierung beteiligten Politiker das leiseste Interesse daran haben kann, die Große Koalition zu Fall zu bringen und damit das unausweichliche Ende einzuläuten - auch weil jeder Koalitionsbruch von Seiten der SPD, oder jede interne Revolte gegen die ewige Kanzlerschaft Merkels parteiintern einem persönlichen politischen Selbstmord gleichkäme - fühlte ich mich sicher, daß die GroKodile die Koalition bis zur nächsten Bundestagswahl durchhalten werden. Nirgendwo zeichnet sich eine (von den sich aufhäufenden Kosten im Hintergrund abgesehen) aktuell bedrohliche Krisis ab, nirgendwo gibt es einen Hinweis auf tatsächliches Handeln.

Zu den Kennzeichen der späten Merkel-Ägide wird man später die merkwürdige Stillstellung aller Politik zählen: das Gefühl - und es täuscht nicht - das schlicht NICHTS mehr passiert, daß "Politik" flächendeckend durch Verlautbarungen, durch völlig folgenlose Ankündigungen ersetzt worden ist, daß alle Verantwortung entsorgt worden ist. An nichts läßt sich das besser zeigen als an dem endlosen Verbleib der Verteidigungsministerin in ihrem Amt: trotz der nicht abreißenden Skandale, trotz ihrer wie es scheint kompletten, flächendeckenden, sturen Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit, die sich in ihrer Amtsführung seit Jahren zeigt. Die Armee dieses Landes dient schließlich einem Zweck; sie ist nicht aus Jux und Dollerei eingerichtet worden; auch nicht als Spielzeug für kleine Jungs und Mädchen als Puppenhausersatz. Sie soll die Landesverteidigung sicherstellen. Sie soll darüber hinaus die militärischen Aufgaben, die dieses Land im Zug seiner Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis zu erfüllen hat, durchführen können. Beides ist nicht mehr der Fall. Diese im Grundgesetz verankerte Aufgabe ist über Jahre, sehenden Auges, torpediert worden, ohne daß einer der zahllosen Skandale, in denen das Ausdruck fand - vom "Besenstielmanöver" im November 2014 in Norwegen über die gespenstische Farce um "Franco A." bis hin zur Causa Gorch Fock - irgendeine Folge für die Amtsträgerin hatte; ohne daß das Parlament, seine zuständigen Ausschüsse oder die Vierte Macht der Medien, hier Interesse an der Abstellung der Mißstände an den Tag gelegt hätten. Nicht umsonst war der Posten des Verteidigungsministers in der alten Bundesrepublik Bonner Prägung ein sprichwörtlicher "Schleudersitz": selbst vergleichsweise triviale Fehlentscheidungen (wie Manfred Wörners Demission des Generals Kießling 1984; oder die Kabale um Frau von der Leyens Vorvorgänger KT zu Guttenberg) führten umgehend für die Betreffenden zum Amtsverlust.

Nach allem Kalkül - soweit es denn machbar ist - läge das Ablaufdatum der Großen Koalition also bei heute 841 Tagen, am 5. September 2021. (Das Datum kann um ein paar Wochen schwanken: es ergibt sich aus der Bestimmung, daß Neuwahlen vier Jahre - minus einen Monat - nach der konstituierenden Sitzung des Bundestags - hier Anfang Oktober 2017 - in der laufenden Legislaturperiode zu erfolgen hat.) Das stillgestellte Verharren einer monolithischen Nominal-Regierung, die nur noch auf Zeit spielt, weil sie schlicht nicht mehr in der Lage ist, zielführend zu handeln. Darin zeigen sich die wortwörtlich zu nehmende (Handlungs)Unfähigkeit und -unwilligkeit der Beteiligten, aber auch wohl die Einsicht, daß ein radikales Umsteuern, das allein den Kurs ins Verderben aufhalten könnte, eine Bankrotterklärung all dessen darstellen würde, was genau diese Protagonisten über Jahre angerichtet haben. Man will den Offenbarungseid nicht leisten, man hat aber nicht die Option, davonzulaufen. Also bleibt nur das Aussitzen - in einem Sinn, wie es Helmut Kohl, dem dieses vor 35 Jahren zum Standardvorwurf geriet, nie wiederfahren ist.

Ich kann mein Abweichen, meinen Zweifel an dieser Überzeugung nicht wirklich rational begründen. Es ist ein schwaches Bauchgefühl. Aber es scheint mir, daß sich hier, wie vage auch immer, die Möglichkeit abzeichnet, daß Frau Merkel sich noch im diesem Jahr von ihrem Job als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland verabschieden wird, nicht zuletzt, um sich aus der Schußlinie zu nehmen. Die Folgen ihres Regierungshandelns haben sie nachweislich in alle den Jahren ihrer Kanzlerschaft niemals auch nur ansatzweise interessiert; wer ihre so patzigen wie hilflosen Reaktionen auf kritische Fragen und ihren mimischen und gestischen Ekel registriert hat, kann zu dem Schluß gelangen, daß sie ihr nicht einmal im Ansatz bewußt sind. Mit Annegret Kramp-Karrenbauer steht ein Ersatz bereit, der zwar, das ist ebenso deutlich, die Folgen von Frau Merkels Weggang nicht aufhalten wird. Aber, wie gesagt: die offenkundigen Folgen ihres eigenmächtigen Handeln haben "die Raute" niemals bekümmert, obwohl jedes schlichte Kalkül sie aufzeigen konnte (eine bittere, eine tiefbittere Ironie des Schicksals liegt darin, daß sie über so viele Jahre als "Physikerin" belobhuldet worde, "die alles vom Ende her denkt"): daß die "Energiewende" wirtschaftlich wie ökologisch der schiere Wahnsinn war, daß die Grenzschleifung zur "Vermeidung unschöner Bilder" ein ebensolch verantwortungsloser Wahnsinn war, mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft dieses Landes; daß die Agenda von Dieselfahrverboten, Feinstaub- und Stickoxid-Hysterie nichts als eine mutwillige Zerstörung der deutschen Autoindustrie darstellt: all das scheint in ihrem mentalen Kosmos schlicht nicht zu existieren. Ob die Deutschen sich hier über viele Jahre von einer Person ins Verderben haben führen lassen, die nicht in der Lage ist, die Folgen ihres Handelns zu überblicken, und zwar konstitutionell, möge späteren Untersuchungen überlassen sein. Aber das Muster, Verantwortung einfach zu negieren, zeigt sich auch hier: das Schicksal ihrer Partei wie der Koalition dürfte Frau Merkel auch hier so schnurz sein wie bei allen anderen Entscheidungen, die sie getroffen hat. Um diese Folgen müssen sich andere kümmern, und stets haben sich andere darum kümmern müssen.

Um es zu wiederholen: der Blick in die Kristallkugel bleibt dunkel; es ist nur ein vages Flattern auf dem mentalen Zwerchfell spürbar. Aber ich will ab dieser Woche einen vorzeitigen Abgang dieser "mächtigsten Frau der Welt" nicht mehr kategorisch ausschließen. Zu sehr hat Herr Juncker mit seiner Äußerung, sie sei wie keine andere Person für eine Führungsrolle in der EU "qualifiziert",  mit dem Zaunpfahl gewunken. Bei den Landtagswahlen im Herbst droht deutschlandintern ein für die Koalitionäre SPD und CDU ein historisches Disaster, bei den Wahlen zum EU-Parlament in einer Woche dürften die Vertreter der "Rechtspopulisten", vom immer noch an der Wahl beteiligten England über Italien bis Ungarn mindestens ein Drittel der gesammelten Wählerstimmen auf sich vereinigen. Um es klar zu sagen: so wie die EU und ihre Verwaltung verfaßt ist, wird ein solches Wahlergebnis keinerlei praktischen Folgen nach sich ziehen - jedenfalls keine direkten. Aber als Zeichen, als Symbol für einen sich abzeichnenden Wandel wird dies nicht nur genommen werden; es wird auch wirken. Nicht zu Unrecht: ohne starke, ganz auf ihr Wohlbefinden ausgerichtete Nationalstaaten, die den Schutz des eigenen Territoriums und der eigenen Bevölkerung an oberste Stelle setzen, die sich mit Nachdruck als Nationalstaaten verstehen, wird in Europa - egal ob als Mitglied einer aufs Rudimentäre zurückgestutzten Europäischen Union oder als Erblasser aus dem verdienten Zerfall dieses supranationalen Gebildes - nichts auf diesem Kontinent eine Zukunft beschert sein. Jedenfalls keine erträgliche.



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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.