4. Mai 2019

Zeitmarke. 五四运动 - 4. Mai 1919. Vor 100 Jahren fiel der Startschuß für Chinas Aufbruch in die Moderne



Was am Sonntag, dem 4. Mai 1919, vor genau einhundert Jahren also, auf dem Tainnammen-Platz, dem "Platz des Himmlischen Friedens" in Beijing, damals dem Westen noch durchweg in der Variante Peking geläufig, seinen Anfang nahm und seither als 五四运动, wǔ sì yùndòng, "Bewegung des Vierten Fünften" geläufig ist, war, rein historisch betrachtet, eine kleine Fußnote, eine eher unbedeutende Episode in der Unruhe und dem politischen Chaos, das das nominell republikanisch verfaßte China, gut acht Jahre nach dem Ende der letzten Kaiserdynastie der Qing unter dem damals sechsjährigen Kindherrscher auf dem Himmelsthron, dem Xuantong-Kaiser (宣統帝), der aller Welt unter seinem "bürgerlichen" Namen 溥仪 / Puyi geläufig ist, den er führte, seit ihn die Putschistenregierung des Warlords Feng Yuxiang nach ihrer Machtübernahme in Beiping (wie die "Hauptstadt des Nordens", Bei Jing, von 1922 bis zur Machtergreifung der Kommunisten 1949 hieß) aus der Verbotenen Stadt nach Tianjin vertrieben hatte, ausmachte. Kulturell und für das Selbstverständnis Chinas auf seinem Weg in die Moderne ist diese Episode hingegen kaum zu überschätzen.



Die Fakten, in der Sinosphäre jedem Schulkind aus dem Unterricht präsent, im Westen aber fast unbekannt sind folgende: kurz nachdem die traditionellen Kanonenschüsse an den Deschengmen- und Wuanwumen-Stadttoren abgefeuert worden waren, die die Mittagsstunde anzeigten, begannen sich Studenten und einige Professoren von einem guten Dutzend Hochschulen auf dem größten Platz Chinas zu versammeln (der damals ein Drittel seiner heutigen Fläche umfaßte), bis die immer aufgebrachtere Menge auf rund viertausend Köpfe angewachsen war, Fahnen und Spruchbänder zu schwenken, Slogans zu skandieren und ein Thesenpapier mit rund einem Dutzend Forderungen an die Regierung zu akklamieren, das ein halbes Dutzend politisch engagierter Studenten im Lauf des Vormittags verfaßt hatte. Der Hintergrund für diese spontane, aber heftig losbrechende Revolte waren die Friedensverhandlungen im fernen Versailles, dessen Bestimmungen, soweit sie den Fernen Osten betrafen, in den drei Wochen vorher verhandelt worden waren und deren Ergebnisse die chinesische Delegation aus Paris per Telegramm am Donnerstag und Freitag an die Heimat gemeldet hatte, wo sie am Tag darauf in den Zeitungen zu lesen waren. Anders als es die alliierten Kriegsmächte Großbritannien und Frankreich beim Kriegseintritt Chinas 1917 zugesichert hatten, sollte die Provinz Schandong, gut 200 Kilometer südöstlich von Peking an der Bucht von Kiautschou gelegen, gelegen, mit der bedeutenden Hafenstadt Qingdao nicht der Regierungsgewalt der chinesischen Republik unterstellt werden, sondern weiter unter der Kontrolle des kaiserlichen Japans verbleiben, das die deutsche Kolonie Tsingtao Anfang November 1914 nach einer einwöchigen Belagerung erobert hatte und seither in der Präfektur ein Truppenkontingent von gut 30.000 Soldaten stationiert hatte - nach der Einnahme von Port Arthur zehn Jahre zuvor war dies der zweite Brückenkopf, mit dem Japan seine kolonialistischen Ambitionen auf chinesisches Gebiet ausdehnte. Die aufgebrachte Menge begann anti-japanische Parolen zu skandieren, den Boykott japanischer Waren zu fordern, dazu die sofortige Annulierung der "21 Artikel", die Japan 1915 der Republik präsentiert hatte, und schließlich die sofortige Rückgabe aller "fremdkontrollierten Territorien"- der internationalen "Treaty Ports", deren Zahl bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nach den beiden verloren Opiumkriegen und dem verlorenen Krieg gegen Japan von 1894 auf 37 angewachsen war - darunter Hong Kong, Macao, Quemoy und als bedeutendstes Zentrum, als "Chinas Tor zum Westen", Shanghai. Drei Häuser von Regierungsbeamten, die als federführend für die erneute Demütigung Chinas galten, wurden gestürmt und verwüstet, die Hausangestellten verprügelt. Gegen fünf Uhr am Nachmittag machte das Militär dem Spuk ein Ende, verhaftete gut achthundert der Beteiligten  - die ihrerseits im Gefängnis in der folgenden Nacht oft schwer mißhandelt wurden, und nach Schnellprozessen drastische Strafen zu gewärtigen hatten.


(Demonstranten beim Verbrennen japanischer Güter am 4. Mai 1919)

Dies wäre nur eine weitere Episode in der sich durch die Jahrhunderte (vor allem durchs 20. Jahrhundert) ziehenden lähmenden Abfolge von politischer Gewalt und Ohnmacht des Volkes, die so bezeichnend für die chinesische Geschichte zu sein scheinen - wären da nicht zwei Umstände. Zum einen: der Protest endete für die Beteiligten nicht mit dieser Niederlage. Am nächsten Tag, am Montag, den fünften Mai, breitete sich die Protestbewegung, die sich in eine Streikbewegung verwandelte, wie ein Lauffeuer im ganzen Land aus. In Shanghai traten die Arbeiter, soweit sie organisiert waren, in einen unbefristeten Generalstreik, in Hong Kong und Nanking kam es ebenfalls zu Streiks und Massenprotesten, unterstützt von zahlreichen Zeitungen und den zu diesem Zeitpunkt noch kaum organisierten, gewissermaßen embryonalen politischen Parteien. Nach vier Tagen gab die republikanische Baiying-Regierung unter nach und entließ sämtliche Verhafteten; auch die Strafverfahren wurden fallengelassen. Die Minister  Cao Rulin, Zhang Zongxiang and Lu Zongyu.wurden entlassen. Ansonsten war der unmittelbare Erfolg dieses Aufstands freilich nur symbolisch: Japan behielt seine Basis in Schandong, die chinesische Delegation in Paris, die sich weigerte, den Versailles Vertrag zu unterzeichnen, war damit zu einem völlig einflußlosen Zuschauer des Geschehens geworden, und das politische Chaos, das sich über das Land ausbreitete, wurde dadurch um kein Tintillium gemildert (so wenig wie die gnadenlose, brutale Verfolgung der Maoisten durch Tschiang Kai-Schek in Shanghai und Peking ab dem April 1927 oder die drei Feldzüge der "Großen Nord-Expedition", mit denen sein Militär 1927 und 1928 den Warlords die Kontrolle über die nordchinesischen Provinzen wieder entriß).

Auf der anderen Seite, in einem Verhältnis, das mit 0:∞ zu bezeichnen nicht wirklich übertrieben scheint, steht die symbolische, die kulturelle, aber auch die weiter reichende politische Bedeutung dieser Episode. Die "Bewegung des vierten Mai" bezeichnet, ebenfalls seit nun fast einhundert Jahren, den Aufbruch Chinas in die Moderne, in die Neuzeit, den Anschluß an "die Welt". Der Aufstand, der Massenprotest, so bescheiden sein handfestes Resultat war, war die erste erfolgreiche Manifestation Chinas - und zwar, nicht ganz unwichtig: der Chinesen selber, des chinesischen Volks, nicht einer so korrupten wie machtlosen Regierung, der die Interessen eben dieses Volkes, wie es schien, völlig gleichgültig waren. Seit gut achtzig Jahren hatte das Land in Agonie gelegen, hatte es die Überschwemmung des Landes durch das Gift namens Opium hinnehmen müssen (und war, als rückständige Nation in einem blutigen Krieg gedemütigt worden, als sich einzelne Beamte gegen den sadistischen Rauschgifthandel aktiv zur Wehr setzen), hatte den wohl blutigsten Bürgerkrieg der Geschichte überhaupt, das christlich inspirierte Wiedertäuferreich der Taipings über 13 Jahre bis zu dessen Vernichtung hinnehmen müssen, das den unglaublichen Blutzoll von 30 Millionen Opfern gekostet hatte (bei einer Gesamtbevölkerung von 350 Millionen zur Mitte des 19. Jahrhunderts), hatte im "Boxeraufstand" von 1900 eine radikal xenophobe Bewegung unterliegen sehen, die sich gegen alles Ausländische wie gegen das Kaiserhaus selbst wandte, hatte die Reformbewegung der "hundert Tage", 戊戌变法, wùxū biànfǎ, im Sommer 1898 unter Puyis Vater Guangxu mit der "grauen Eminenz" des höchsten Staatsbeamten Kan Youwei im Hintergrund, scheitern sehen (ein Reformversuch, der Kang das Todesurteil einbrachte - er war der letze Staatsbeamte, der zur Zerstückelung bei lebendigem Leib, dem "Tod der hundert Schnitte" verurteilt wurde - ein Schicksal, dem er sich durch die Flucht ins extraterritoriale Hong Kong entzog und der den Guangxu-Kaiser zehn Jahre später das Leben kostete, als ihn die Kaiserinwitwe Cixi, die seit 1875 de facto die Regierung innehatte, zwei Tage vor dem eigenen Tod mit einer Überdosis Arsen vergiften ließ). Das Bewußtsein, tatsächlich "etwas bewirken zu können," führte unter vielen Studenten und Intellektuellen zu einer politischen Aufbruchstimmung, dazu, sich in Interessengruppen zusammenzuschließen und vor allem: Parteien zu gründen. Nicht zu Unrecht führt die Kommunistische Partei Chinas ihre Gründung darauf zurüvck - und nicht erst, seit Mao Zedong diese im Mai 1944, zu ihrem 25. Jahrestag, gewissermaßen zur offiziellen Staatsdoktrin erhob, die in den Jahrzehnten darauf viele der Protagonisten der damaligen Jahre vor Verfemung und Verfolgung schützte. (Daß die Roten Garden im Lauf der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" diese Schranken ohne die kleinste Hemmung niederrissen und viele bis dahin geachtete Intellektuelle und Künstler mißhandelten und in den Selbstmord trieben, wie Lu Xun und Lao She, entsprach ihrem so radikal-blutrünstigen wie besinnungslosen, unbedingten Vernichtungswillen, der sich auf alles richtete, das jemals als Autorität genannt worden war, an deren Regeln man sich ein Beispiel nehmen solle.)



Darüber hinaus hatte der Vierte Mai für das Selbstverständnis Chinas in den unmittelbar folgenden zweieinhalb Dekaden eine nicht zu überschätzende Wirkung. Mang geht nicht fehl, sie mit dem gleichzusetzen, was für "des Westen" die Romantik darstellte. Das Datum wurde, über die direkte politische Bedeutung hinaus, zum Synonym für die "Neue kulturelle Bewegung," die 新文化运动 (Xīn wénhuà yùndòng - ja, richtig gesehen: das 运动 darin, die "Bewegung," zeigt dieselben hanzi), die sich ab etwa 1915 herausgebildet hatte: eine literarische und kulturelle Modernisierungsbewegung, die sich an den Übersetzungen westlicher Literatur orientierte, an den Erkenntnissen der westlichen Naturwissenschaft, an den durch zahllose Magazine und Zeitschriften vermittelten sozialen Bewegungen, nicht zuletzt revolutionärer Art, die Ibsens "Nora" zum neuen Frauenideal erhob - ein stärkerer Kontrast zum neokonfuzianischen Bild der stummen, bis in den Tod aufopferungsbereiten Dienerin mit gebundenen "Lotosfüßchen" ist kaum denkbar. Die den benevolenten Anarchismus eines Pjotr Kropotkin (der, das sei en passant einmal betont, den wahren Urvater des Libertarismus darstellt) neben die Evolutionslehre Charles Darwins stellte - und die Frauen erstmals selbstverständlich ihren Rang nicht nur im gesellschaftlichen Leben, sondern auch als Autorinnen - und eben nicht nur als Dichterinnen von schmerzerfüllten Liebes- und Verzichtsbotschaften, wie sie die Gedichte der Sung- und Tang-Zeit zeigen. Ohne die die Werke von Ding Ling, Bing Xin, Xiao Hong oder Zhang Ailing (um ein paar Namen der 1930er und 1940er Jahre zu nennen, deren Werke nicht nur im Westen durchaus zahlreiche Leser haben, sondern deren Rang jedem dieser Leser unbestritten ist). Dieser Anschluß an die literarische und künstlerische Moderne erfolgte zumeist auf zwei Schienen: zum einen über die Lektüre der französischen und englischsprachigen Originale (wobei die Inspiratoren oft anderen Kulturkreisen zuzuordnen waren: Bing Xin etwa benutzte für ihre ersten beiden Gedichtbände in minimalem vers libre von 1922 und 23 die englischen Gedichte von Rabindranath Tagore als Vorbild). Zum anderen diente Japan, das sich seit der Meiji-Revolution von 1864 kulturell, vor allem aber auch technisch eine Generation früher westlichen Einflüssen geöffnet hatte, als Scharnier. Nach dem verlorenen Krieg von 1894 war eine ganze Generation chinesischer Studenten an die Universitäten und technischen Hochschulen von Tokio und Osaka gezogen und war dort mit dem in jeder Hinsicht revolutionären Gedankengut aus Übersee in Berührung gekommen. (Als kleine Fußnote sei vermerkt, daß die beiden ersten Übersetzungen von Romanen von Jules Verne - dessen Voyages extraordinaires das Ziel der technologischen wie geographischen Wissensvermittlung par excellence verkörpern - die Lu Xun während seiner Studienzeit 1905 und 1907 in Japan anfertigte, nicht auf dem französischen Original beruhen, sondern auf japanischen Übersetzungen.) Ohne die Orientierung an den neumodischen Idealen von "Herrn Wissenschaft" (赛先生; sài xiānsheng) und "Herrn Demokratie" (德先生; dé xiānsheng), die gegen den alten, strikt abgelehnten "Herrn Konfuzius", Kong zi xiānsheng, in Stellung gebracht wurden (ja: bei diesen sài und  handelt es sich um Neuprägungen, Lehnvokabeln, science und democracy entlehnt), ohne die Erhebung der Umgangssprachfrom des Mandarin, des Putonghua, als Sprache der Literatur, der Politik, der Ideen anstatt des "klassischen" Chinesisch, des wenhua (das zur lebendigen Umgangssprache in etwa dem Verhältnis steht wie das moderne Italienisch oder Spanisch zum Kirchenlatein), wäre der Aufbruch Chinas in die Moderne völlig anders verlaufen, wäre Shanghai in den folgenden 30 Jahren nicht zur fieberhaften Brutstätte einer ganz eigenen Ausprägung der kulturellen Moderne geworden. 








U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.