4. September 2016

Drittstärkste politische Kraft im Bund: Anmerkungen zum AfD-Erfolg aus psychologischer Perspektive

Laut Meinungsumfragen bildet die AfD bundesweit aktuell die drittstärkste politische Kraft. Möglicherweise wird sie nach den heutigen Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern noch vor der CDU liegen. Auch wenn viele Entwicklungen der vergangenen Monate darauf hingedeutet haben, so ist dies dennoch ein bemerkenswerter Vorgang für eine Partei, die zunehmend völkisch und querfrontig grundiert erscheint und deren Flügelkämpfe eigentlich, den gängigen Regeln von Politik und Demoskopie folgend, zu deren Schwächung führen müßten. Aktuell kann die AfD augenscheinlich machen was sie will, sie wird, so scheint es, vom Wähler aus Prinzip goutiert.
Für das Verständnis dieses Phänomens könnte es hilfreich sein, sich mit dem sozialpsychologischen Konzept der Reaktanz vertraut zu machen. Hierbei handelt es sich um einen motivationalen, handlungsleitenden Zustand, der bei Menschen auftritt, die eine empfindliche Einschränkung ihrer (Wahl)freiheit als Folge von gegen sie ausgeübten (psychischen) Druck erleben. Es handelt sich dabei um eine gesunde Reaktion zur Wiederherstellung von Freiheit und Abwehr von erlebter Fremdbestimmung sowie Unkontrollierbarkeit. Menschen dagegen, die sich einer als unkontrollierbar erlebten Fremdbestimmung wehrlos fügen, verhalten sich häufig im Sinne erlernter Hilflosigkeit („ich kann eh nichts tun; bin ausgeliefert“) und übersehen dabei tatsächlich vorhandene Bewältigungs- und Handungsmöglichkeiten. Erlernte Hilflosigkeit bildet gleichsam den „kognitiven Kern“ depressiver Erkrankungen. So verstanden kann man die AfD durchaus als eine Art Antidepressivum für Teile des Bürgertums auffassen, mit deren Hilfe viele hoffen mögen, erlebter Macht- und Einflußlosigkeit entkommen zu können. 

Merkels Flüchtlingsagenda vom letzten Jahr markiert keine Krise der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie, sondern deren Aussetzung. Die „Willkommenskultur“ in ihrer Ausgestaltung des Jahres 2015 fand sich ja gerade nicht im Wahlprogramm auch nur einer einzigen Partei zur letzten Bundestagswahl. Die Menschen wurden von dem Merkel-Alleingang buchstäblich überrollt; dem Erleben von Macht- und Einflußlosigkeit des Bürgers ist so erheblich Vorschub geleistet worden, und je mehr die Menschen, die dieser Politik kritisch gegenüber stehen, dämonisiert und als rechte Dumpfbacken oder gar als Nazis beschimpft werden, desto mehr verharren sie in ihrer trotzigen Reaktanz. Daß die Medien auf dieses Phänomen ihrerseits mit einem wiederum trotzigen „mehr desselben“ von Ausgrenzung und Dämonisierung reagieren, ist, freundlich formuliert, unklug. Der Senf ist  aus der Tube, und Medien und Politik wären gut beraten, ihre bisherige Strategie im Umgang mit der AfD zu überdenken. Der einzige Weg die AfD zu „entzaubern“, ist der einer Einbindung und der inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihren Positionen; auch Koalitionen sollten kein grundsätzliches Tabu sein.

Dabei halte ich es für möglich bis wahrscheinlich, daß unter der Reaktanz-„Schale“ vieler AfD-Räpresentanten und -anhänger tatsächlich ein „depressiver“ Kern zutage träte, der sich in Jammern, Wehklagen und in Schuldzuweisungen erschöpfte und es manchem Wähler schließlich aufginge, daß er eine im Kern depressive Partei in der Hoffnung auf eine antidepressive Wirkung gewählt hat. Möglicherweise aber ermöglichte ihre Entdämonisierung und Einbindung jedoch auch eine Transformation der AfD hin zu tatsächlicher Politikfähigkeit.
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Andreas Döding

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