16. Juni 2006

Randbemerkung: Nationalhymnen


Als aktuelle Ergänzung zu diesem Beitrag:

Der MDR meldet:
Die Lehrergewerkschaft ist gegen die deutsche Nationalhymne. GEW-Vorsitzender Thöne sagte, das Deutschlandlied transportiere die Stimmung des Nationalsozialismus und der deutschen Leitkultur. Er sprach von einem furchtbaren Loblied auf die deutsche Nation.
Und im FAZ.Net ist zu lesen:
Der Literaturwissenschaftler und Fußballenthusiast Walter Jens hat indes eine neue Nationalhymne mit einem Text von Bertolt Brecht vorgeschlagen. Anläßlich der Fußball-WM sagte Jens am Donnerstag: "Wenn ich an unserem Land etwas auszusetzen habe, dann ist es diese unsägliche Nationalhymne mit dem teilweise unverständlichen Text. (...)"



"Furchtbares Loblied", "Unsägliche Nationalhymne" - ja, kennt denn Thöne, kennt denn Jens nicht die Nationalhymnen der anderen?

Die britische Hymne wünscht der Königin Siege, Glück, Ruhm und eine lange Regentschaft ("Send her victorious, happy and glorious, long to reign over us") und schließt mit dem Wunsch, die rebellischen Schotten zu zermalmen ("like a torrent rush, rebellious Scots to crush").

Die französische Marseillaise beschimpft die "brüllenden, grausamen" Soldaten des Gegners ("Entendez-vous dans les campagnes mugir ces féroces soldats?") und fordert, daß ihr "unreines Blut unsere Ackerfurchen tränken" möge ("Qu'un sang impur abreuve nos sillons".)

Und die US-Hymne äußert Freude darüber, daß "das Blut" der Feinde "die Vergiftung durch ihre widerlichen Fußspuren ausgewaschen" habe ("Their blood has wash'd out their foul footstep's pollution") und schließt mit der Erwartunge eines Triumphs: "And the Star-Spangled Banner in triumph shall wave o'er the land of the free and the home of the brave."



Ein britischer Gewerkschafter oder ein französischer oder amerikanischer Kollege des Professors Jens würde sich der Lächerlichkeit preisgeben, wenn er die eigene Nationalhyme wegen eines solchen martialischen Textes als "furchtbares Loblied" oder als "unsäglich" bezeichnen würde.

Das Deutschlandlied ist dagegegen geradezu musterhaft zurückhaltend, friedlich, wenig nationalistisch. Zumal die Dritte Strophe, die inzwischen die offizielle Nationalhymne ist.



Die Deutschen werden, was ihr Verhältnis zur eigenen Nation angeht, anscheinend zunehmend normal. Aber ihre selbsternannten Lehrer haben wohl noch einen längeren Weg vor sich.

Auch die linken. Ein reaktionäres - dh rückwärtsgewandtes, einen historischen Wandel ignorierendes oder bekämpfendes - Denken findet man ja nicht nur auf der Rechten. Auch auf der Linken gibt es Leute, die noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind.