18. Juni 2006

Darf man vergleichen?

Historische Ereignisse sind immer singulär. Nichts wiederholt sich.

Historische Ereignisse zeigen immer wieder dieselben Muster. Alles wiederholt sich.

Beides stimmt. Beides sind Binsenweisheiten - die Singularität jedes Ereignisses ebenso wie die "Ewige Wiederkehr des Gleichen", wie Nietzsche sie konstatiert hat.



Nichts in der Welt ist genau wie etwas anderes. Ein Ei gleicht einem anderen nicht "wie ein Ei dem anderen".

Nichts in der Welt ist andererseits völlig unvergleichbar. Immer gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem einen und dem anderem. Ja, die größten Gegensätze basieren nachgerade auf Gemeinsamkeiten. Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Richtig und Falsch - das eine existiert durch das andere, weil ihr Gegensatz eben ein Gegensatz in Bezug auf das ist, was sie gemeinsam haben.



Obwohl das offensichtlich so ist, gibt es in Bezug auf die Geschichte - zumal die Neuere Geschichte, zumal die Gegenwart - immer wieder heftige Auseinandersetzungen darüber, ob man etwas mit etwas anderem "vergleichen könne", ja "vergleichen dürfe".

Kann man Auschwitz mit dem Gulag "vergleichen"? Kann man Ahmadinedschad mit Hitler "vergleichen" oder gar Bush mit Hitler? Kann man - um ein etwas weniger affektiv geladenes Beispiel zu nehmen - die heutige Globalisierung mit der Romanisierung nahezu der gesamten bekannten Welt in der Spätantike vergleichen?

Ja, selbstverständlich kann man. Wie sollte man etwas nicht miteinander vergleichen können?



Im Extremfall liefert der Vergleich vielleicht das Ergebnis "keine relevante Gemeinsamkeit". Meist wird er aber lohnend sein. Und zwar aus einem trivialen und einem vielleicht nicht ganz so trivialen Grund.

Der triviale Grund ist, daß der Vergleich die Kenntnis und das Verstehen befördert. Nicht zufällig waren (ich weiß nicht, ob es heute noch so ist) zu meiner Schulzeit Vergleiche als Thema eines "Besinnungsaufsatzes" so beliebt. "Was ist der Unterschied zwischen Mut und Tollkühnheit?"; "Vergleichen Sie Kleists Stil mit dem Goethes"; "Der Begriff der Freiheit bei Kant und Hegel - ein Vergleich"; dergleichen.

Wenn man solch ein Thema bearbeitet, dann muß man Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden, somit die betreffenden Untersuchungsgegenstände auf ihre Merkmale hin analysieren.

Die Suche nach Gemeinsamkeiten macht das sichtbar, was sonst vielleicht als Selbstverständliches im Hintergrund bleibt. Die Suche nach Verschiedenheiten richtet den Blick auf Charakteristisches.

Genus proximum et differentia specifica - die übergeordnete Gemeinsamkeit und die individuelle Verschiedenheit benennen, das ist eines der definitorischen Verfahren der klassischen Logik.



Der weniger triviale Grund ist, daß Vergleiche zu Extrapolationen einladen. Das entspricht zwar nicht den Regeln deduktiven Denkens, aber durchaus der Alltags-Induktion, die sich fast immer bewährt.

Wenn A und B die Eigenschaften x und y gemeinsam haben - , dann werden sie doch auch die zukünftige Entwicklung z gemeinsam haben. So denken wir. Und mit einer für den Alltagsgebrauch hinreichenden statistischen Wahrscheinlichkeit stimmt es ja auch.

Die Wetterlage heute ähnelt der an diesem und jenem Datum. Also wird sich das Wetter wahrscheinlich auch so weiterentwickeln wie damals. Das war noch vor einem halben Jahrhundert, vor der Einführung mathematischer Wettermodelle, die Basis der Wettervorhersage.

Die heutige Globalisierung hat viele Ähnlichkeiten mit der Romanisierung in der Spätantike. Also wird unsere Kultur ebenso untergehen wie die römische. So könnte man schließen - und so hat Oswald Spengler geschlossen, der die Globalisierung vor fast einem Jahrhundert vorhergesagt hat.

Nur ist das ein höchst wackliger Schluß. Denn wir wissen ja nicht, ob just diejenigen Merkmale, in denen A und B übereinstimmen, auch diejenigen sind, die die weitere Entwicklung bestimmen. Vielleicht sind es ja gerade diejenigen, in denen sie sich unterscheiden.

Mit anderen Worten: Der unscharfe ("fuzzy") Algorithmus, der sich im Alltag oft bewährt, kann in die Irre führen, wenn wir ihn auf Historisches anwenden.



Noch problematischer ist es, aufgrund von Vergleichen auf Eigenschaften zu schließen; also nicht zu extra-, sondern zu interpolieren. Herr X und Herr Y sind beide reich, haben eine Glatze und erzählen gern schmutzige Witze. Herr X betrügt seine Frau. Also wird wahrscheinlich auch Herr Y seine Frau betrügen.

Das ist ein karikierendes Beispiel. Aber just diese Art des assoziativen Schließens wurde angesprochen, als zB die damalige Justizministerin Däubler-Gmelin sagte, Bush sei in den Krieg gezogen, um innenpolitischen Problemen aus dem Weg zu gehen - wie Hitler.

Ob beide das aus diesem Grund getan haben, darüber kann man streiten. Aber ein solcher Vergleich verfolgt ja einen ganz anderen Zweck, als auf eine solche mögliche punktuelle Gemeinsamkeit aufmerksam zu machen - nämlich den, nahezulegen, daß auch unabhängig von dieser möglichen konkreten Gemeinsamkeit diese beiden Politiker Gemeinsamkeiten aufweisen würden. Eben nach der Schlußfigur: "Herr X betrügt seine Frau..."

Frau Däubler-Gmelin sprach ja nicht als Zeithistorikerin.