Berlin hat jetzt einen Hauptbahnhof.
Ein Hauptbahnhof für die Hauptstadt - so gehört es sich ja wohl auch? Nein!
Es ist geradezu das Kennzeichen einer wahren Metropole, keinen Hauptbahnhof zu haben. Als Berlin eine gewachsene Hauptstadt gewesen war, erst die Preußens und dann die des Deutschen Reichs, hatte es folglich auch keinen Hauptbahnhof. Sondern einen Hamburger, einen Schlesischen, einen Anhalter, einen Lehrter Bahnhof usw.
Warum ist das so? Sehr einfach: Durch eine Hauptstadt, die diesen Namen verdient, fährt man nicht hindurch, sondern man fährt in sie hinein.
Und da man aus verschiedenen Richtungen in sie hineinfährt, gibt es logischerweise für jede dieser Ankunftsrichtungen einen Bahnhof. Vor der Verstaatlichung der Bahnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden diese Linien oft auch verschiedenen Gesellschaften betrieben und hatten schon deshalb ihren jeweils eigenen Bahnhof.
Wenn man aus dem Norden nach Paris hineinfährt, dann ist der Ankunftsbahnhof folglich der Gare du Nord. Vom Osten her ist die Endstation der Gare de l'Est, der freilich nah bei Gare du Nord liegt - in Sichtweite, zu Fuß in ein paar Minuten zu erreichen. Kommt man aus dem Südosten, dann steigt man am Gare de Lyon aus, und so fort.
Der große Vorteil einer solchen Aufteilung war und ist, daß die Bahn dort endet, wo die eigentliche Stadt beginnt. Die Geleise schneiden nicht durch die Innenstadt. Der Bahnhof ist wie einst ein Stadttor.
Der Reisende, der am Gare du Nord in Paris ankommt, hat das zentrale Paris vor sich liegen, so wie einst der Postkutschenreisende, wenn er den Eingang zur Stadt erreicht hatte. Ein Thalys oder TGV, der sozusagen dem Eiffelturm oder dem Arc de Triomphe vor die Füße fährt, so wie der deutsche ICE dem Kölner Dom, wäre für einen Pariser ein Unding.
Die Bahn führt zur Stadt hin; endet also dort, wo die eigentliche Stadt beginnt. Jedenfalls war das so, als im 19. Jahrhundert die heutigen Bahnhöfe konzipiert wurden. Die Städte wuchsen seither, und sie umschlangen allmählich sozusagen die Bahnhöfe, so wie der Urwald einen Tempel überwuchert, der einmal in einer Lichtung angelegt gewesen war.
Dieser Konzeption entspricht der Kopfbahnhof. Wenn die Züge im Bahnhof enden, dann braucht dieser logischerweise bei den Geleisen nicht einen Ein- und einen Ausgang. Also hat der Bahnhof den klassischen Kopfbahnhof-Grundriß: Eine Bahnhofshalle, durch die man von der Stadt her eine breite Trasse erreicht (oft gesäumt von Restaurants, Kiosken, Geschäften), von der die Bahnsteige im rechten Winkel abzweigen. Man gelangt mühelos von einem Bahnsteig zum anderen. Keine Treppen sind nötig, die zum Tunnel unter den Geleisen - oder, noch ungelenker, zur Brücke über den Geleisen - führen, wie beim Durchgangsbahnhof.
Im Kopfbahnhof herrscht folglich reges Leben. Die Geleise sind so etwas wie die Tentakel, die aus dem Körper der Halle und der Trasse herauswachsen. Fliegende Händler mit ihren Verkaufswagen können mühelos von Gleis zu Gleis fahren, immer dorthin, wo gerade ein Zug ankommt oder abfährt. Der Bahnhof ist ein organisches Ganzes. Oft auch architektonisch beeindruckend, wie die Kopfbahnhöfe von Stuttgart und Frankfurt.
Man kommt im Kopfbahnhof an und braucht sich nicht zu beeilen - man ist eben angekommen. Erfahrene Reisende bleiben bei Ankunft im Kopfbahnhof folglich ruhig auf ihrem Platz sitzen, bis der Zug seinen Ruck macht. Man läßt die hektischeren Reisenden sich entfernen, greift dann gemütlich nach Mantel und Gepäck und begibt sich auf seinen Weg in die Stadt.
Ebenso schön ist es, wenn ein Zug im Kopfbahnhof startet. Man kann ihn schon zehn Minuten oder eine Viertelstunde vor der Abfahrt beziehen, sich auf seinem Platz einrichten, vielleicht noch eine Zeitung oder Proviant kaufen. Es geht alles ruhig und gemessen zu; kurzum vernünftig.
Wie anders der Durchgangsbahnhof! Er braucht einen Tunnel oder eine Brücke. Beide sind meist zugig, wie auch die Bahnsteige der Durchgangsgleise - wahrlich kein Ort, an dem man sich gern länger aufhält, als es unbedingt nötig ist. Manchmal sind diese Tunnel geradezu endlos lang, wie in Duisburg. Die Brücken - Hamburg ist ein schreckliches Beispiel, Heidelberg ein noch entsetzlicheres - sind leer, zugig und potthäßlich; dort freiwillig zu verweilen wäre ein Unding.
Durchgangsbahnhöfe sind das im Wortsinn - sie wollen den Reisenden durchschleusen, so wie die Züge auf der einen Seite in sie hinein- und auf der anderen so schnell wie möglich wieder hinausfahren.
Das Verhalten des Reisenden ist durch die kurze Zeit des "Aufenthalts" eines Zuges konditioniert.
Wenn das "Einlaufen" des Zugs, den man besteigen möchte, sich ankündigt, gerät er in die Stimmung eines Sprinters beim Kommando "auf die Plätze". Er macht sich bereit, den Zug entlangzulaufen - auf der Suche nach seiner Wagenklasse, nach dem Wagen mit dem reservierten Sitz oder nach einem Waggon, der einigermaßen leer aussieht. Er gerät in Streß, bis er endlich einen Platz - oder seinen reservierten Platz - gefunden hat. Diesen Erfolg kommentiert er mit einem innerlichen "Gott sei Dank, überstanden".
Er ist der zappelige Kleinbürger, so wie der Fahrgast des Kopfbahnhofs der gelassene Aristokrat ist.
Jaja, ich weiß. Wenn die Fahrtroute es verlangt, durch eine Metropole wie Paris hindurchzufahren - wenn man, beispielsweise, von Amsterdam nach Lyon fahren möchte -, dann vermißt man den zentralen Bahnhof. Man muß am Gare du Nord aussteigen, sich ein Taxi oder die Métro nehmen und zum Gare de Lyon fahren. Das ist mehr als ein Umsteigen; die Reise wird in zwei Teile zerlegt, und sie dauert ungebührlich lang.
Nur - wer reist denn heute noch mit der Bahn von Amsterdam nach Lyon? Das ist eine Flugzeugentfernung. So, wie Köln-Paris seit der Einführung des Thalys eine Bahn-Entfernung ist. Und wer denn unbedingt von Amsterdam nach Lyon mit der Bahn reisen möchte und für Paris nicht mal ein paar Stunden für einen kleinen Stadtbummel hat, der ist selbst schuld an der Ungemach, die ihm seine schlechte Reiseplanung beschert.
Jaja, ich weiß. Heute gibt es auch Kopfbahnhöfe, in die der ICE hinein- und aus denen er nach minimaler Aufenthaltsdauer schon wieder hinausrauscht. Und andererseits gibt es natürlich den Durchgangsbahnhof, auf dem ein Zug "eingesetzt" wird und wo man, mit Glück, ein paar Minuten zum Einsteigen hat. Mit anderen Worten, der Durchgangsbahnhof benimmt sich manchmal wie ein Kopfbahnhof und der Kopfbahnhof wie ein Durchgangsbahnhof.
Es gerät eben alles a bisserl durcheinander in diesen Zeiten.