Kürzlich kam ich mit einem Taxifahrer darüber ins Gespräch, wer seine hauptsächlichen Kunden seien. Seine überraschende Einschätzung: Alle Schichten, aber vor allem Unterschicht.
Ich mochte das gar nicht glauben, aber er erklärte es mir: Viele aus dieser Schicht hätten kein eigenes Auto, oft nicht mehr den Führerschein. Und sie seien oft betrunken, also auf das Taxi angewiesen, auch wenn sie Auto und Führerschein besäßen.
Der Mann wirkte glaubwürdig. Setzen wir einmal voraus, daß seine Beobachtung zutrifft.
Zur Zeit meiner Eltern und Großeltern war es ein unglaublicher Luxus, "sich eine Taxe zu nehmen". Ein Privileg der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. So, wie es deren Privileg war, in die "Sommerfrische" zu reisen, Essen zu gehen, ein eigenes Auto zu besitzen, in einer geräumigen Wohnung zu leben, in der zB. die Kinder ein eigenes Zimmer hatten. Oder auch nur täglich Fleisch zu essen, den Kindern Spielzeug zu kaufen, ins Theater und in die Oper zu gehen.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es, was die Lebensumstände angeht, sehr große Unterschiede zwischen Menschen mit unterschiedlichem Einkommen und Besitz.
Ob man sie als "Klassenunterschiede" bezeichnet, ist eine Frage der bevorzugten Terminologie, also ohne Bedeutung.
Es waren sicherlich längst nicht mehr Unterschiede zwischen den "besitzenden Klassen" und den "arbeitenden Klassen", wie im England des 19. Jahrhunderts. Es gab auch keine scharfen, unüberwindbaren Klassengrenzen mehr. Ein Schuhmacher hatte 1919 zum Reichspräsidenten aufsteigen können; spätestens mit der Nazi-Zeit hatte sich eine immer größere vertikale soziale Mobilität entwickelt, die seit der Nachkriegszeit viele "Self-Made-Men", wie man damals gern sagte, hervorbrachte.
Aber die Besitz- und Einkommensunterschiede waren - in Geldsummen ausgedrückt - immer noch groß; so wie sie es auch heute noch sind. Und sie schlugen sich in riesigen Unterschieden darin nieder, wie man lebte. Welche "Lebensqualität" man hatte; ein Wort, das in den Siebziger Jahren populär wurde.
Davon ist heute wenig geblieben. Immer mehr haben die Reichen das Problem, sich in den Lebensumständen, im Lebensgenuß noch von dem Rest zu unterscheiden.
Nehmen wir das Essen. "Hummer, Lachs und frischer Bärenschinken", - das war eine Berliner Redensart, als Ausdruck für unfaßbaren Luxus, für teuerstes Essen. Bärenschinken ist heute auch den Reichsten so gut wie verwehrt. Lachs aber bekommen sie zum Preis von guter Wurst, und Hummer ist bei Aldi zu haben, wenn auch tiefgefroren. Bei Aldi konnte man in der letzten Saison Austern kaufen. Es gibt dort vorzüglichen italienischen Schinken, neuerdings sehr guten französischen Käse.
Gewiß, es gibt jeweils noch Besseres. Aber die Unterschiede sind minimal. Ich bezweifle, daß viele Weintrinker den Unterschied zwischen einem der etwas teureren Aldi-Weine und einem Wein zum Preis von 40 Euro schmecken würden. Meine Frau hat kürzlich aus Italien eine Flasche sauteuren Olivenöls mitgebracht, das Beste vom Besten. Es schmeckt kaum anders als ein Öl zu vielleicht zehn Euro, wie man es beim Discounter bekommt. Beim Käse gibt es eh keine Oberklasse, die über das im Warenhaus Erhältliche hinausgehen würde - ein Roquefort ist halt ein Roquefort. Ich habe ihn in Roquefort selbst gekauft, beim Hersteller. Er schmeckte nicht anders als der, der bei Rewe im Regal liegt.
Erst recht gilt das für die Qualität dessen, was zubereitet auf den Tisch kommt. Jeder Bezieher eines Durchschnittseinkommens kann, wenn er es gelernt hat, auf dem Niveau kochen, auf dem in deutschen Millionärshaushalten gegessen wird. Es ist eine Frage des Stils und des Könnens, nicht des Preises.
Oder nehmen wir den Urlaub. Die Sommerfrische, die Auslandsreise gehörten bis zur Jahrhundertmitte zu dem, was sich nur die Betuchten leisten konnten. Die meisten anderen machten gar keinen "Urlaub", sondern erholten sich zu Hause, im Schrebergarten oder - sehr häufig - bei Bekannten, die dann später ihrerseits "zu Besuch" kamen; oft wochenlang.
In den fünfziger Jahren begann zuerst der Individualtourismus auch der mittleren und unteren Mittelschicht. "Mit der Nuckelpinne nach Bella Italia" lautet der Titel einer hübschen Erzählung von Robert Gernhardt, die das mit sanfter Ironie beschreibt. Dann begann der Pauschaltourismus. Erst die Busreisen, dann die pauschalen Eisenbahnreisen (zeitweise mit eigenen Zügen der TUI, die "Urlaubsexpress" oder so ähnlich hießen), schließlich der Charterflug-Tourismus.
Zugleich wurden die Urlaubshotels immer luxuriöser. Was noch in den sechziger Jahren größter Luxus reicher Hotelgäste gewesen war - die eigene Dusche und Toilette, das TV im Zimmer - wurde zum Standard für den Malocher aus Wanne-Eickel und den Vertreter aus Berlin.
So konnte man alle Lebensbereiche durchgehen, immer mit demselben Befund: Wir - das heißt die große Mehrheit der Deutschen - leben heute in Verhältnissen, die noch vor einem halben Jahrhundert den Reichsten vorbehalten waren.
Und die? Sie verdienen und/oder besitzen viel Geld, das ist wahr; sonst wären es ja nicht die Reichen. Aber was haben sie davon? Was können sie sich leisten, was sich der Durchschnittsdeutsche nicht leisten kann?
Es ist schwierig. Sie können sich die Lebensmittel im teuren Feinkostgeschäft kaufen, sie können ins Zweisternerestaurant gehen. Aber genußvoller werden sie damit in der Regel nicht essen als der Facharbeiter, der sich für gutes Kochen interessiert. Sie können sich ein Auto kaufen, das zehnmal so viel kostet wie das des Facharbeiters - aber viel schneller können sie damit auch nicht fahren; und der Fahrkomfort ist auch nur geringfügig besser. Sie können sich eine HiFi-Anlage für 10 000 Euro kaufen; aber der Hörgenuß wird nur unwesentlich größer sein als der des Normalos, der seinem PC satte Töne entlockt.
Bleibt also gar nichts mehr, was das Reichsein so attraktiv machen würde, wie es das seit den Anfängen der Zivilisation gewesen sein dürfte? Doch. Es bleibt die Exklusivität.
Auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft können sich die Reichen immer weniger durch mehr Lebensgenuß vom Pöbel unterscheiden. Sie können sich umgekehrt nur noch dadurch mehr Lebensgenuß verschaffen, daß sie sich vom Pöbel unterscheiden. Mit anderen Worten: Privilegiertsein ist kein Mittel mehr, es ist das Ziel.
In den Hotels, in die nur die Schönen und Reichen Einlaß finden, ist der Komfort nur unwesentlich größer als in den normalen Viersterne-Hotels (und vieles von diesem zusätzlichen Komfort ist von geringem Gebrauchswert). Es ist aber komfortabel, in Exklusivität zu wohnen; von bestens geschultem Personal umgeben zu sein.
Der Swimming-Pool - mal ein klassisches Privileg der Reichen, wie schon der Anglizismus andeutet -, gehört heute schon zu vielen Mittelklasse-Hotels. Aber die Reichen sind unter sich, wenn sie darin rumpaddeln. Im privaten Projektionsraum kann man auch keine anderen Filme sehen als im Kino, aber man sieht sie eben in Exklusivität.
Man sah sie. Heute stellt sich auch der Malocher seinen Beamer in den Partykeller und hat sein Privatkino.
Sie haben es schwer, ihre Exklusivität zu erhalten, die Reichen. Es ist ein ständiges Rennen zwischen Hase und Igel, auf unserem Weg in die klassenlose Gesellschaft.