Die Wochenenden immer den Künsten!
...Flöten schrillen, Banjos wimmern,
Und die Drumm geht schier in Trümmern,
Wütend, daß die Haare fliegen,
Alle Tasten sich verbiegen,
Schlägt der Meister Pianiste
Auf die alte Jammerkiste...
Immer toller wird das Wüten!
In der Instrumente Tüten
Mischt sich noch des Menschen Laut,
Heulend wie des Windes Braut:
Bass, Tenor und Bariton
Grölen zu dem Saxophon.
Ach, der Lärm wird riesengroß!
Hoffnungslos
Weicht der Mensch des Jazzes Stärke
Baff sieht er der Klassik Werke
In dem Chaos untergehn...
Zu den kulturellen Auswirkungen, die der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg vom Frühjahr und Sommer des Jahres 1917 nach sich zog, wird allgemein ein Phänomen gerechnet, bei dem man diese Wechselwirkung wohl zu Recht bezweifeln kann: nämlich die Verbreitung jenes populären Musikstils, der alsbald unter dem Namen "Jazz" seinen Siegeszug durch die westliche Welt antrat. Auf der anderen Seite kann man, wenn man die Sache nicht zu bierernst angeht (eine Haltung, die bei Historikern des Genres eher nicht verbreitet ist), die Entstehung dieser speziellen Art des synkopierten Lärmens durchaus unter die unmittelbaren Folgen der Weltpolitik rechnen. Dieses scheinbare Paradox ist freilich keines. Herausgebildet hatte sich der Darbietungsstil in den Jahren zuvor, im südlichsten Süden der Vereinigten Staaten, in New Orleans - und hier insbesondere in denn Kaschemmen und Etablissements des größten Rotlichtviertels namens Storyville. Im Lauf des Sommers 1917 erfolgte durch die Behörden eine rigorose Schließung all dieser Räuberhöhlen, Bumslokale, Opium dens. Zum einen, weil sich jetzt die Gelegenheit ergab, unter dem Bedingungen des Kriegsrechts von Seiten der Ordnungsbehörden rigoros durchzugreifen, nachdem New Orleans als Versorgungshafen für die alsbald nach Europa übersetzenden Truppen bestimmt worden war. Zum anderen befürchtete man, daß unter dem exponentiellen Anwachsen von Soldaten und Arbeitern für den Nachschub die damals üblichen Maßnahmen zur "Hygienekontrolle" bei den zahllosen Prostituierten - was in diesem Fall, wie in anderen Hafenstädten überall auf der Welt ein kurzes Vorstelligwerden bei einem Arzt umfaßte, der die Damen auf erste Symptome der Syphilis kontrollierte - schlicht versagen würden. Selbstredend waren diese Maßnahmen nicht flächendeckend erfolgreich - ebensowenig wie die Schließung aller Bordelle in Frankreich 1946 oder das Verbot des käuflichen Sex vor ein paar Jahren in Schweden. Dennoch führte der Wegfall dieses Geschäftsektors zu einer Abwanderung der Musiker in andere Großstädte, die von diesem Boykott nicht betroffen waren. Und in denen sich - dies war der entscheidende Faktor - die Gelegenheit bot, mit jener Art des wilden hedonistischen, improvisierten Lärmens in die damals entstehenden Aufnahmestudios gebeten zu werden.
Der eigentliche Stil dessen, was dem heutigen Ohr als eine noch grobe, ungeschliffene Form des Dixieland erscheint, hatte sich in den Jahren zuvor ausgebildet. Auf der Bühne der beiden neuen Zentren New York und Chicago kamen weitere Einflüsse hinzu: der Pianostil des Ragtime mit seinen schnellen, synkopierten Arpeggioläufen, der seit der Jahrhundertwende in tausenden von mechanischen Klavierrollen gestanzt worden war - oft, ohne den Umweg über die vorhergehende Notation zu nehmen.
Dazu kam die Umstellung von den einzelnen Pianospielern und den an die Tradition der Militärkapellen anknüpfenden Blechbläserensembles auf kleine Combos von vier bis sechs Musikern, von denen jeder sein spezielles Segment zur Darbietung beitrug, mit dem Piano anstelle eines Schlagzeuges und der Posaune statt des von späteren Jazzcombos gewohnten Basses. Vieles, was zwischen den ersten Aufnahmen von 1917/1918 bis zu denen der ersten namhaften Bands um 1922/1923 von King Oliver und Jelly Roll Morton und ein wenig später von den Hot Five and Hot Seven von Louis Armstrong in die Trichter der Grammophone geblasen wurde, gilt Puristen keineswegs schon als "richtiger Jazz", sondern als eine Art PS-stärkerer Schlagervariante: Erik Barnouw hat das im ersten Band seiner Geschichte des Rundfunks, A Tower in Babel, in den Vereinigten Staaten (den es in Ansätzen ab 1919 und dann in größerem Stil ab 1920 gab) "Zimmerpalmenmusik" genannt: "Between 1920 and 1922, the potted palm reigned supreme".
Man sollte allerdings nicht übersehen, daß zahllose Stücke, die als unverbrüchliche Klassiker des Jazz ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind, auch jede puristische Einordnung als "Jazz" konterkarieren: Was Ella Fitzgerald, Billie Holiday und zahllose andere Solisten und Ensembles in den folgenden Jahrzehnten vortrugen - ob nun die Andrews Sisters mit "A Tisket, a Tasket", ob die ersten Aufnahmen von Frank Sinatra mit dem Tommy Dorsey Orchestra, ob gar die Stücke, die dem American Way of Life der frühen 40er Jahre das ewige akustische Siegel aufprägten: die Swing-Einspielungen von Glenn Miller: das, was heute unter dem Rubrum des "Great American Songbook" geläufig ist: das ist dem Puristen kein Jazz, sondern Schlager. In solchen Fällen ist es immer angezeigt, sich mit Verve zum eigenen hedonistischen Banausentum zu bekennen - also zu dem was in diesen Stücken akustische Form geronnen ist.
Einen klaren Anfang hat diese Darreichungsform mithin nicht. Aber bei neuen Musikstilen ist es üblich, sich damit zu behelfen, auf Aufnahmen, Einspielungen zu verweisen, auf die man sich, als mehr oder weniger beschlagener Kenner des jeweiligen Stils, als "erste" einigen kann. So gibt es dann die Konvention, "Anarchy in the UK" von den Sex Pistols als erste Manifestation des Punk zu verbuchen, auch wenn es seit Iggy Pop und den Stooges einige Jahre zuvor zahlreiche Anläufe gegeben hatte, widerborstig-untalentiert kreischende Kakophonie in Reinkultur zu betreiben (mancher dürfte in Versuchung sein, "Wild Thing" von den Troggs als eine Proto-Punk record zu verbuchen. Oder etwa "Woolly Bully" von Sam the Sham & the Pharaohs. So kommt man in diesen Metiers von Hundertsten ins Tausendste.) Als "erste Rock 'n' Roll"-Platte ist Bill Haleys "Rock Around the Clock" von 1954 geläufig; die Auffassung hat sich durchgesetzt, als "wirkliche" erste Aufnahme dieses Stils den "Rocket 88" von Ike Turner und Jackie Branston drei Jahre zuvor zu verbuchen, auch wenn die Phrasierung, der Rhythmus und die Verve des Vortrags auf hunderten Rhythm & Blues-Einspielungen seit 1947 zu vernehmen sind.
Zu den ersten Jazz-Aufnahmen zählen nun, da sind sich in diesem Fall die Chronisten des Metiers einig, jene, die Anfang des Jahres 1917 in New York von der Original Dixieland Jass Band unter Nick LaRocca aufgenommen wurden. Das fünfköpfige Ensemble aus New Orleans war ab Anfang Januar in diversen kleineren Konzerthallen aufgetreten, es war nicht das erste Mal, daß eine solche Kapelle auf der Bühne vor Publikum stand, aber vorhergehende Auftritte warne stets Teil größerer Nummernrevuen gewesen, als Teil größerer Shows. Hier nun kam ein solches Ensemble ganz in eigener Sache zur Sache, mit ihrer Musik als alleinigem Zentrum - was mehrere Plattenfirmen den Versuch wert scheinen ließ, zu testen, ob sich der Erfolg dieser speziellen Art unkultivierten Rumorens auch in Verkäufen im boomenden Grammophongeschäft wiederholen ließe. Die ersten Aufnahmen machte die Combo am 26. Februar 1917 für die Plattenfirma Victor: auf der A-Seite der zwei Wochen später ausgelieferten 78er-Platte mit der Nummer 18255 war der "Livery Stable Blues" zu hören; auf der B-Seite der "Dixie Jass Band One-Step" - beide mit der Besetzung Nick LaRocca: Kornett, Eddie Edwards: Trombone, Larry Shields an der Klarinette, Henry Ragas am Piano und Tony Sbarbaro am Schlagzeug.
("Livery Stable Blues")
("Dixie Jass Band One-Step"; das doppelte "s" wurde im Laufe des Jahres 1917 durch das seitdem geläufige Doppel-Z ersetzt.)
Vielleicht ein wenig überraschend ist, wie wenige Aufnahmen diese Band im weiteren Verlauf des Jahres 1917 eingespielt hat: am 31. Mai folgten "Darktown Strutters' Ball" und "Indiana" für Columbia, am 7. August der "Barnyard Blues", der "Ostrich Walk" und "Tiger Rag", am 3. September "At the Jass Band Ball" (als B-Seite des "Ostrich Walk" veröffentlicht), am 21. September "Look At 'Em Doing It Now" und drei Tage später "Reisenweber Rag" und "Oriental Rag", allesamt für die Firma Aeolian. Danach fanden die nächsten Aufnahmesessions erst Ende März 1918 statt.
Keiner dieser Einspielungen wird man eine kulturelle Sprengwirkung bescheinigen können. Aber zusammen mit den abertausenden Aufnahmen in ihrem Kielwasser, in dem, was hier zum ersten Mal, nachhörbar für alle Zeiten, erklang, zeigt sich ein Aufbruch zu neuen Ufern, eine neue akustische Welt. Auch wenn die Befürchtung, die bekannten Klangkontinente könnten das Schicksal von Atlantis teilen, sich - bislang jedenfalls - als voreilig erwiesen haben.
* * *
Nun aber - um abschließend auf den geklammerten Part des Titels zu kommen: beim Stichwort "Oriental Rag" läßt sich anfügen, daß dieses Phänomen: die verrückt gewordene, überbordende Kapelle - auch an anderen Gestaden zu registrieren ist. In diesem Fall in der Fassung von Bai Hong: "Verrückte Kapelle" (Fēngkuáng yuèduì, 1946) - 白虹 - 瘋狂樂隊
齐东腔,齐东腔,
疯狂乐队捍卫洋洋。
疯狂乐队捍卫洋洋。
钢琴弹出新花样,
铜鼓敲来怪紧张。
铜鼓敲来怪紧张。
喇叭吹成爵士腔呀,
萨士风音铿锵。
閙洋洋,閙洋洋,
齐卜龙东一个东腔。
齐东腔,齐东腔,
疯狂乐队兴飞扬。
电影插曲任客点,
流行时调随意唱。
疯狂乐队兴飞扬。
电影插曲任客点,
流行时调随意唱。
帮腔说白噱头好啊,
凡儿林唆罗韵味儿长。
兴飞扬,兴飞扬,
齐卜龙东一个东腔。
凡儿林唆罗韵味儿长。
兴飞扬,兴飞扬,
齐卜龙东一个东腔。
Im Ostsaal, im Ostsaal
Hat die verrückte Kapelle einen wüsten Streit entfacht:
Das Klavier spielt unerhörte Klänge
Die Trommeln schlagen seltsame Rhythmen
Die Trompete bläst wilde Melodien
Ein gewaltiger Streit, ein ungeheuerer Aufruhr
Wie ein riesiger Drache - im Ostsaal.
Im Ostsaal, im Ostsaal
Steigt die wilde Melodie gen Himmel
Filmlieder für die neuen Musiker
Schlager in wilder Reihenfolge
Von den Sängern mit lautem Lachen begleitet
Alle Musiker im wilden Zwiegespräch miteinander
Spielen mit Hingabe, es steigt zum Himmel auf:
Wie ein göttlicher Drache im Ostsaal.
Bai Hong, 白虹 (24. Februar 1920 - 28. Mai 1992), geboren als Bai Li Zhu in Peking/Beijing, gehörte in den 1940er Jahren unter ihrem Bühnennamen "Weißer Regenbogen" zu den "sieben singenden Sternen" des Shidaiqu und zu den "Drei Weißen" - neben Bai Guang, dem "Weißen Licht" und Bai Yang, der "Silbernen Pappel" (die Spezies populus alba trägt im Chinesischen wie im Lateinischen die Farbe Weiß im Namen: 银白杨/yín BÁI yáng).
(Das Gedicht "Jazz-Taumel" ist anonym in der November-Ausgabe 1926 der Düsseldorfer Branchenzeitschrift "Der Artist" publiziert worden.)
Ulrich Elkmann
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