3. April 2017

Musikalisches Interludium: Shidaiqu. 吳鶯音 - 明月千里寄相思


"Ein Schlager von Rang ist mehr 1950 /
als fünfhundert Seiten Kulturkrise."
- Gottfried Benn, "Kleiner Kulturspiegel"

Um es mit einem Motto aus Michael Klonovskys Netztagebuch acta diurna zu halten: Die Sonntage immer den Künsten!

"Dies ist kein Musikblog", wie der Gründer dieses Webdiariums, dieser kleinen Ecke auf der Allmende des "globalen Dorfs" (Marshall McLuhan), einmal feststellte. Dennoch: am Tag des Herrn, und zumal zu einer Zeit, an dem die vehement ins Lotophagische umgeschlagene Jahreszeit nahelegt, den Ärger über die Verfahrenheiten von Politik und Alltag zugunsten der Illusion des unbekümmerten Seelebaumelnlassens entschlossen hintan zu stellen, sei auch ein Schlenker ins unverbrüchlich Hedonistische verstattet. Zumal wenn sich die Gelegenheit ergibt, dabei auf einen hierzulande völlig unbekannten musikalischen Kosmos hinzuweisen, den auch der Aufbruch der Medien unter dem Signum der "Weltmusik" nicht, zumindest noch nicht, an westliche Ohren hat branden lassen.

Es handelt sich hier um die populäre Musik - das Wort "Schlager" ist, pace Benn, hier durchaus nicht fehl am Platz - wie sie in China, genauer gesagt: in Shanghai - dem "Paris des Ostens", der westlichen Einflüssen am offensten Stadt - zwischen etwa der Mitte der Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts und der Machtübernahme durch die Kommunisten 1949 entstanden ist und großen populären Anklang fand. Die beiden Massenmedien jener Zeit, das Radio und die Schallplatte, trugen entscheidend dazu bei. Das musikalische Idiom, in dem das stattfand, war der Jazz, so wie er von amerikanischen, aber auch englischen Bands in den großen Hotels und Nachtklubs entlang des Bunds, der großen und weltbekannten Seepromenade Shanghais, dargeboten wurde. Der Schmiß, der Drive, den dieses musikalische Idiom seinen Stücken verlieh, war so völlig anders als das, was in der chinesischen Musik bis dato geboten worden war: der Repertoire, daß sich bis dato wechselseitig aus der klassischen chinesischen Oper mit ihrem hochoktavigen, aber jeder Dynamik entbehrenden Gesang und den überlieferten Volksliedweisen rekrutiert hatte. Die "Shidaiqu" genannte populäre Musik bildete in ihren Anfangsjahren diese Herkunft noch ab: die Melodien waren zumeist einfach, oft statisch, und der pentatonischen Tonskala verpflichtet, der Gesang künstlich um gut zwei Oktaven über dem, was "westliche Ohren" (den Kalauer "langnasige Ohren" verkneift sich der Referent, zugegeben, nur mit Mühe) als normale Gesangslage empfinden, und die Themen der Lieder den auf der ganzen Welt den Volksliedern gleichen Tropoi von Liebe, Hoffnung, schlichten Metaphern und enttäuschter Hoffnung ohne metaphorischen oder lyrischen Aufwand verpflichtet.

Ende der dreißiger Jahre änderte sich das. Zum einen entwickelte sich, auch in China, durch das Medium des Tonfilms ein Starsystem, in dem musikalische Komödien überwiegten, in dem auch in Heldenstreifen Gesangseinlagen zum Zweck der Entspannungseinlagen den Rausch der Handlung unterbrachen. Zum anderen traten einige Komponisten auf den Plan, die das Tempo der Swingmusik, des Foxtrots, der Rhumba - die seit Anfang der 30er Jahre diese Sparte der Populärmusik in den USA und Europa bestimmt hatte - ihren Stücken als rhythmisches Skelett einzogen. Die uns als "typisch chinesisch" erscheinenden Elemente traten zurück, von Melodik und Instrumentierung werden die Lieder oft durchgehend "westlich" - so wie etwa, um einen heimischen Fall zu nehmen, die Stücke der Comedian Harmonists (bis auf den Akzent bei englisch gesungenen Stücken) nicht von denen amerikanischer Vokalensembles zu unterscheiden sind. Viele der Stars des Shidaiqu waren ihrem Publikum vom Kino her bekannt: auch dies ein Parallelfall zur westlichen Entwicklung. Viele von ihnen verfügten über eine klassische (und das meint in diesem Fall: eine okzidentale) Gesangsausbildung.  Zumeist waren es Sängerinnen. Sieben von ihnen galten im Shanghai der 1940er Jahre, dem unbestrittenen Zentrum der Film-, Radio- und Schallplattenindustrie, als die "sieben großen singenden Sterne" (七大歌星, qī dà gēxīng): Bai Hong (白虹), Yao Lee (姚莉), Zhou Xuan (周璇) Li Xianglan (李香蘭), Bai Guang (白光), Wu Yingyin (吳鶯音) und Gong Qiuxia (龔秋霞). Von ihnen erhielten die meisten vom Publikum Spitznamen, die sich aus der Art ihres Gesangs herleiteten: Zhou Xian etwa wurde allgemein die "goldene Stimme" (金嗓子) genannt, wegen ihrer mühelosen Art, in hohen Oktaven Koloratura-Arpeggios zu singen; Yao Lee war die "silberne Stimme", Bai Guang das "Weiße Licht". Wu Yingying, um die es mir dieses Mal gehen soll, war als die "Königin der näselnden Stimme" (鼻音歌后, bíyīn gē hòu) bekannt, wegen ihres leicht zurückgehaltenen Timbres, dem die oberen, klaren Obertöne der anderen Stimmen fehlen, was ihr einen eher verrauchten, intimeren Klangcharakter verleiht - eine Bezeichnung, die übrigens in keiner Weise despektierlich gemeint war. Vielleicht sollte man als Äquivalent besser "Königin des Kopfstimme" verwenden.

Wu Yingyin (geb. 1922 in Ningbo - gest. am 17. Dezember 2009 in Hongkong) begann im Alter von 16 Jahren mit Auftritten im Radio, wo sie, um dem elterlichen Verbot zu entgehen, unter dem Namen Qian Yin (錢茵) Kinderlieder vortrug, und gewann 1946 einen Gesangswettbewerb im Nachtclub "Ciro's" (仙樂斯), der ihr einen Vertrag mit der größten damals in China ansässigen Plattenfirma, Pathé, einbrachte, für die sie in den drei folgenden Jahren gut 30 Lieder, darunter.auch dieses (Text und Musik von 劉如曾, Liu Ruzeng, 1918-1999), aufnahm. Ihre erste Aufnahme, 我想忘了你 (wǒ xiǎng wàngle nǐ - Ich will dich vergessen), geschrieben von Lu Xang, kam im Januar 1947 heraus und wurde ein Hit. 1955, drei Jahre nach dem Verbot der "westlich angehauchten" "dekadenten Klänge" des Shidaiqu durch die Kommunisten, setzte sie ihre Karriere in Hongkong fort. 

吳鶯音 - 明月千里寄相思 (1948)
- Wu Yingyin, "Der helle Mond wird dir meine Liebe senden"

夜色茫茫罩四周
天边新月如钩
回忆往事恍如梦
重寻梦境何处求
人隔千里路悠悠
未曾遥问心已愁
请明月代问候
思念的人儿泪常流

月色朦朦夜未尽
周遭寂寞宁静
桌上寒灯光不明
伴我独坐苦孤零
人隔千里无音讯
欲待遥问终无凭
请明月代传信
寄我片纸儿为离情

Der weite Nachtnebel bedeckt alles
während die Mondsichel über dem Horizont schwebt
In meiner Erinnerung ist alles wie ein Traum.
Darf ich in diesem Traumland suchen?
Getrennt durch tausende von Meilen...
Nur Herzen, die zusammen sind, sind ohne Sorgen.
Bitte, heller Mond, schicke meine Liebe.

[Instrumental, 01:13-01:50]

Das Mondlicht erhellt nicht die ganze dunstige Nacht.
Umgeben von der schweigenden Stille
Scheint das kalte Licht der Lampe auf meinen Tisch
an dem ich allein in bitterer Einsamkeit sitze.
Getrennt durch tausende von Meilen
ohne je die Stimme des anderen zu hören.
Bitte, heller Mond, schicke meine Botschaft
Schicke meinen kleinen Brief
damit dies vorbei ist.





Hier Ihre erste Aufnahme, 我想忘了你 / Ich will dich vergessen, aufgenommen am 15. Januar 1947:




Und hier eine Instrumentalversion des Mondliedes 明月千里寄相思, mit Cheng Ronghui auf der Violine:




Und ein Liveauftritt am Ende ihrer Karriere (sie war Ende der fünfziger Jahre mit ihrem Ehemann nach Kalifornien ausgewandert und in den neunziger Jahren nach Hongkong zurückgekehrt) von 2003, im Alter von 80 Jahren:



Wie bei vielen "Signatur"-Stücken des Shidaiqu ist auch das Lied an den Mond ein Klassiker im chinesischsprachigen Raum geworden: immer wieder aufgenommen und neu eingespielt - und wie in allen diesen Fällen kann keine der Neueinspielungen den originalen Versionen das Wasser reichen. 

Zum Abschluß noch eine kleine Filmmelodie, die Wu Yingyin in den 40er Jahren aufnahm: 
长恨歌 - Zhǎnghèngē - Zufällige Begegnung.



­
Ulrich Elkmann

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.