Im Gegensatz zu den Ereignissen, auf die vor wenigen Tagen an dieser Stelle auf die hundertjährige Wiederkehr eines für den weiteren Geschichtsverlaufs eminent wichtigen Datums verwiesen wurde - den Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg - ist das "heutige" Geschehen - die Rückkehr des russischen Revolutionärs Wladimir Iljitsch Uljanov, genannt Lenin, aus seinem Zürcher Exil - durchaus in einigen hiesigen Medien vermerkt worden; so als Kurzbeitrag der heute-Sendung im Zweites Deutschen Fernsehen vor zwei Tagen oder als Fünf-Minuten-Zeitzeichen als "Kalenderblatt" heute im Deutschlandfunk. Während sich das ZDF hierbei auf keine Wertung einließ, konzedierte der DLF immerhin eine durchweg negative Sicht auf Person und Rolle jenes Mannes, der so lange von staatsozialistischen Regimen, von Gläubigen an die vermeintliche Utopie des Kommunismus und von jenen, die der Faszination der durch nichts gehinderten Entfaltung staatlicher Gewalt erlegen sind, als weltlicher Messias, als ein "Weltgeist" - nicht zu Pferde (als den Hegel Napoleon Bonaparte sah), aber ganz im Geist Hegels als "Weltgeist im Panzerwagen" - angesehen wurde.
Zu den vielen Lenin-Legenden, die sich bis heute gehalten haben, gehört die Annahme, Lenin sei ein Revolutionär mit hehren Zielen, Stalin hingegen ein brutaler Diktator gewesen. "Das ist Unsinn", sagt Jörg Baberowski. "Lenin war ein bösartiger Schreibtischtäter, der für den Erfolg der Revolution zu jeder Gewalttat bereit war. Der Ausnahmezustand und der Bürgerkrieg erlaubten es ihm, die Gefolgschaft zu disziplinieren." In dieser Zeit sei die Idee entstanden, "dass alle Probleme mit Gewalt aus der Welt geschaffen werden konnten. Ohne diese Voraussetzung hätte Stalin weder die eigenen Gefolgsleute töten noch die Bevölkerung nach Belieben terrorisieren können", urteilt Baberowski. Dem pflichtet Manfred Hildermeier bei: "Mit Feinden ist Lenin ebenso gnadenlos umgegangen wie Stalin, im Übrigen auch wie Trotzki."
Die Ereignisse sind bekannt - auch der Fall der Mauer vor einem Vierteljahrhundert und die zeitweise ffnung des sowjetischen - und jetzt russischen - Archive - hat dem Stand der historischen Erkenntnis nichts Wesentliches hinzugefügt: die eigenmächtige Anfrage Lenins an die deutsche Regierung und die Oberste Heeresleitung über das Zürcher Konsulat vom 16. März 1917 an eine Rückkehr von einigen Dutzend Gesinnungsgenossen nach Rußland, um die Wirren und die einsetzenden Generalstreiks nach der Abdankung des Zaren für eine revolutionäre Machtübernahme zu nutzen; die Zustimmung der deutschen Behörden, weil von den versprengten Anführern der russischen Sozialrevolutionäre allein Lenin sich bereit erklärte, sich im Fall eines Erfolgs auf eine bedingungslose Kapitulation vor dem Deutschen Reich einzulassen, die bis heute ungeklärte Finanzierung (ob nun von deutscher Seite, ob von russischer), veranlaßt oder vermittelt durch Alexander Parvus (alias I.L.Helphand), die Bedingungen, die Lenin mit dem deutschen Konsulat für diesen Transfer über feindliches Territorium aushandelte - dreißig Reisende statt der ursprünglich zugestandenen zwanzig, um durch die Anwesenheit von sozialdemokratischen, menschewistischen und anarchistisch ausgerichteten Dissidenten den Eindruck zu vermeiden, hier sei von deutscher Seite, und gezielt zu deren Vorteil, ein vernichtender Schlag gegen das russische Reich als Kriegsgegner unternommen worden. Die Legende vom "plombierten Waggon" (der in Wirklichkeit nicht "versiegelt" war, sondern deren "off limits" durch farbige Kreidestriche markiert worden waren), um als "extraterritorial" gelten zu können; der Verzicht der deutschen Behörden auf jede Kontrolle von Personen, Gepäck und Akten. Die Abfahrt von Gleis 3 des Zürcher Hauptbahnhofs um 14:30 Uhr am 9. April 1917, dem Ostermontag (an jenem Tag begannen im französischen Marnegebiet deutsche Truppen mit der Beschießung der Kathedrale von St. Quentin), am 10. April die Durchfahrt durch Mannheim mit der Endstation auf deutschem Gebiet am folgenden Tag im Sassnitz, die Fahrt über die Ostsee ins neutrale Stockholm an Bord der Drottning Victoria und das Eintreffen auf dem Finnischen Bahnhof in St. Petersburg (damals seit drei Jahren ins russisch klingende "Petrograd" umbenannt) am 16. April (dem 3. April nach dem orthodoxen Kalender), die "Aprilthesen", die scheinbare Niederlage im Sommer und die Nacht-und Nebelaktion der "Oktoberrevolution".
Was aber, selbst bei der negativen Gewichtung der Persönlichkeit Lenins im Beitrag des DLF, in seiner tragischen Konsequenz wie ausgeblendet erscheint, sind die Konsequenzen, die diese Aktion nach sich zog: was mich, vor vier Tagen, veranlaßt hat, unumwunden zu formulieren (auch wenn Selbstzitate wider die gute Netiquette verstoßen):
Von allen verheerenden, katastrophalen Einzelaktionen, die die Geschichte aufzuweisen hat, hat dieses Unternehmen, gemessen an den Folgen, die es nach sich zog, als das unzweifelhaft entsetzlichste und grausamste erwiesen, das die gesamte Weltgeschichte aufzuweisen hat.
Als diese Folgen sind ja nicht nur die Etablierung der Macht der Bolschewiki zu sehen, der sich an die Revolution anschließende vierjährige Bürgerkrieg mit seinen grauenhaften Verheerungen mit seinen mindestens anderthalb Millionen Toten, die Abermillionen Opfer der sozialistischen Gewaltherrschaft in der Sowjetunion und, nach dem Zweiten Weltkrieg, auf dem Gebiet ihrer Vasallenstaaten im Ostblock. Ohne den Sieg der Kommunisten wäre es, soweit man Konjekturalgeschichte denn überhaupt halbwegs ernsthaft betreiben kann, auch nicht zur Herrschaft des Roten Terrors außerhalb seiner direkten Einflußsphäre gekommen. Direkt hatte das Vorbild der KPdSU Einfluß, materiell wie organisatorisch, auf die Herausbildung der Kommunisten im China unter Mao Tse-tung im China der 20er Jahre; die Kader der Parteien, die direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Südostasien (wie Ho Chi Minh oder Kim Il-sung) oder etwa in Albanien (wie Enver Hodscha) die Macht an sich rissen, sind ohne Vorbild und Unterstützung der Sowjetunion nicht denkbar, ebensowenig wie die sich sozialistisch gebenden Caudillos Lateinamerikas mit Fidel Castro oder Ernesto Che Guevara an der Spitze. Nicht der "afrikanische Sozialismus" eines Haile Mengistu Miriam noch das Vorbild des Vorrangs der ausschließlichen, tonnageversessenen Schwerindustrialisierung im Indien Nehrus.
Hinzu kommt noch die Vergiftung von Generationen mit dem geistigen Gift des Kollektivismus - nicht nur im Bereich des Elends, der geistigen Wüste, die der Sozialismus überall dort hinterließ, wo die Welt seinem Gifthauch ausgesetzt war, sondern auch im Westen. Man könnte nun sagen: ohne die Anschauung dessen, welche Auswirkung diese vermeintliche Utopie, diese Erlösung von der Tragik der Geschichte, als die sie ersonnen worden war und als die sie Jahrzehnt um Jahrzehnt wider alle sichtbare Evidenz dankbar aufgesogen wurde, wäre der Traum des Kommunismus, der "klassenlosen Gesellschaft", ohne Ungleichheit, Ausbeutung, ohne Konflikt und Krieg genau das geblieben: die mögliche Verheißung, ein zu verwirklichendes Utopia. Aber genau das blieb diese Seifenblase während der gesamten Zeit ihres im Wortsinn real-sozialistischen Bestehens: eine ins Irdische zu versetzende Variante des Neuen Jerusalems, eine machbare, umsetzbare Idealgesellschaft. Jeder neue Versuch, dies zu erreichen, erwies sich zwar als aussichtslos, jedesmal wurde genau das erzeugt, zu was die Revoluzzer, die Parteigenossen, die Fortschrittsbegeisterten vorgeblich beseitigen wollten: Elend, Rückständigkeit, Mangel, Hunger, Krieg, Ungleichheit, Ausbeutung und Sklavenarbeit, Massenmord und sehrender Hass auf alles, was nicht den Vorgaben einer selbstherrlichen Priesterkaste entsprach, Lüge und Täuschung unter dem Vorwand "wissenschaftlicher Erkenntnis" und die Ruhigstellung der Ausgebeuteten durch Führerkult und erfundene Mythen, die jeder Evidenz Hohn sprachen. Und all dies in einem Ausmaß, das die perhorreszierten Feudalgesellschaften und "der Kapitalismus" niemals im Ansatz erreicht haben.
Wenn es denn die Möglichkeit gäbe, ein einziges Ereignis der Weltgeschichte ungeschehen zu machen - etwas, das die dafür spezialisierte Literaturgattung der Science Fiction in zahllosen Varianten durchgespielt hat, mit zahlreichen Zielen (und, da es sich um eine zutiefst ludische Spielart der Literatur handelt, mit höchst unterschiedlichen Resultaten) - wenn man also, krass konkret, über eine Zeitmaschine verfügte und eine Weichenstellung bei der Fahrt in die Zukunft, in unsere Gegenwart, umlegen könnte: dann wäre es nicht, wie zumeist in diesen letztlich frivolen Exerzitien des Kontingenten, die Eliminierung jenes "österreichischen Gefreiten" (wobei ich mich hier nicht auf die hypothetische Frage einlassen will, ob dessen Spielart der Verwirklichung des absoluten Staatsterrorismus nach innen und außen ohne das Vor- und Gegenbild anders ausgefallen wäre oder überhaupt hätte stattfinden können. Der "Historikerstreit" vor drei Jahrzehnten hat zu dieser Frage, wohl nicht überraschend bei solchen prinzipiell im Konjekturellen gründenden Fragen, am Ende doch wenig Erhellendes beigetragen). Sondern es wäre das Verhindern jener Fahrt vor 100 Jahren, bei der Lenin, wie es später Winston Churchill im fünften Band seiner The World Crisis formulierte, "in einem versiegelten Waggon wie ein Pestbazillus" nach Rußland gebracht worden war.
"In the middle of April the Germans took a sombre decision. Ludendorff refers to it with bated breath. Full allowance must be made for the desperate stakes to which the German war leaders were already committed. They were in the mood which had opened unlimited submarine warfare with the certainty of bringing the United States into the war against them. Upon the Western front they had from the beginning used the most terrible means of offense at their disposal. They had employed poison gas on the largest scale and had invented the 'Flammenwerfer.' Nevertheless it was with a sense of awe that they turned upon Russia the most grisly of all weapons. They transported Lenin in a sealed truck like a plague bacillus from Switzerland into Russia."
(Abb: Wikimedia. Telegramm von Lenin an Henri Guilbeaux 6. April 1917. Text: partons demain midi allemagne platten accompagne train priere venir immediatement frais couvrirons amenez romain rolland s'il est d'accord en principe. faites possible pour amener naine ou graber. telegraphiez volkshaus oulianoff )
Ulrich Elkmann
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