27. Januar 2016

Über das Unwort des Jahres und die zerstörerische Kraft der Begriffshoheit. Ein Gastbeitrag von nachdenken_schmerzt_nicht

Die aktuelle Staatskrise, die der Autor Gerd Held aktuell in einem Beitrag auf der „Achse des Guten“ als einen Angriff auf die Verfasstheit der Bundesrepublik begreift, welcher die Staatlichkeit und verfassungsmäßige Ordnung unseres Landes bedroht, wird seit ihrem Beginn von drei Begriffen dominiert, die ganz selbstverständlich von jedem Diskutanten benutzt werden: "Flüchtling", "Obergrenze" und "Grenzschließung". Mit der Wahl des Wortes „Gutmensch“ zum "Unwort des Jahres", die der von mir sehr geschätzte Andreas Doeding in Zettels Raum bereits hier kommentierte, ist jetzt ein vierter Begriff hinzugekommen. 

Gerd Held läßt in seinem Artikel einen Gedanken anklingen, welcher mich schon seit einiger Zeit beschäftigt, nämlich: wie Widersprüche, Verantwortungslosigkeit und Machtmissbrauch über die Definitionshoheit bezüglich der verwendeten Begriffe unkenntlich gemacht werden. Diesen Gedanken möchte ich mit diesem Beitrag näher ausführen. 


Beginnen wir mit dem Wort „Flüchtling“. Kaum ein Teilnehmer der öffentlichen Debatte differenziert zwischen Flüchtling und Einwanderer. Derjenige der aus Nordafrika nach Europa kommt, um seine persönlichen Lebensumstände zu verbessern, wird per Begriffszuschreibung in den gleichen Status versetzt wie derjenige, der aus Syrien vor einer direkten Bedrohung von Leib und Leben flieht. In diesem Sinne handelt die Politik mittels diesen Sprachgebrauchs auf eine Art und Weise, die sie an andere Stelle als große Gefahr benennt: Man soll von kriminellen Einzelvorfällen nicht auf alle neu Zugereisten schließen, da dies eine unzulässige Verallgemeinerung wäre, ein Ressentiment. Das ist zweifelsfrei richtig. Auf der anderen Seite führt die Politik diese Verallgemeinerung nun aber selbst durch, in dem sie allen Zugewanderten über den Begriff „Flüchtling“ einen bestimmten Status zuweist, der darüber hinaus im Sinne des Grundgesetzes eine gewisse Relevanz hat. Dies ist nichts anderes als ein Ressentiment mit umgekehrtem Vorzeichen. Man kann dies nun für eine noble und menschliche Geste halten auch denen, welche "nur" materielle Not oder Armut erleiden, helfen zu wollen. Man sollte sich aber klar machen, dass man damit implizit die Bedrohung von Leib und Leben relativiert. 

Kommen wir zum Wort „Obergrenze“. Dieses Wort wurde durch die politischen Parteien unseres Parlamentes unisono als Tabu ausgemacht: Man weigert sich es zu benutzen, denn es könne per definitionem keine Obergrenze (für Menschlichkeit) geben. Nun weiß ich nicht, ob es hilft, naturwissenschaftliche Bildung zu haben, um dieses zu akzeptieren, aber abseits des Glaubens gibt es keine Unendlichkeit. Alles in unserer Welt ist begrenzt und endlich, selbst wenn uns diese Grenzen so weit entfernt erscheinen, dass wir sie als nicht existent wahrnehmen. 

Die Bundesrepublik hat eine Fläche von ca. 357.000 qkm bei 81 Mio. Einwohnern. Die höchste Bevölkerungsdichte hat Berlin mit 3900 Einwohnern pro qkm. Nachschauen kann man das hier. Wenn man nun das komplette Land mit der Bevölkerungsdichte Berlins besiedeln möchte (was ordentlich landschaftliche Umbaumaßnahmen der Bundesrepublik erforderlich machen würde), wäre in Deutschland noch Platz für 1,3 Mrd. weitere Menschen. Das sind etwas mehr als 20% der aktuellen Bevölkerung Afrikas und Asiens. Alleine dieser simple Vergleich macht deutlich, dass die Aufnahmefähigkeit der Bundesrepublik sehr wohl begrenzt ist. Da faktisch die Grenze für Zuwanderung in die Bundesrepublik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung tatsächlich weit unter diesen 1,3 Mrd. liegen dürfte, es aber wahrscheinlich sehr viel mehr Menschen gibt die gerne nach Deutschland kommen würden, wenn sie die Wahl hätten, wird sofort klar, dass es natürlich eine Begrenzung der Einwanderung in die Bundesrepublik geben muss, völlig unabhängig davon, welche Begriffe man dafür verwendet. Die Ablehnung des Wortes "Obergrenze" durch unsere Politik ist daher nur als Weigerung zu verstehen, sich mit einer real existierenden Fragestellung auseinander zu setzen und sie politisch zu gestalten. 

Der letzte der drei Begriffe ist das Wort „Grenzschließung“, welcher als Alternative zu der aktuellen Politik der offenen Grenze in Stellung gebracht wurde. Wobei hier weniger das Wort selbst als seine inhaltliche Zuschreibung und die Ausdehnung dieser Zuschreibung auf andere Begriffe der wesentliche Aspekt ist, welcher seinen Mißbrauch ausmacht. Grenzschließung wird meist mit einem Zaun, einer undurchlässigen Mauer assoziiert. Grenzschließung wurde damit im Kern zu einem Synonym für die hermetische Abschottung der Bundesrepublik. In der Folge wurde dann jeder Begriff von „Grenzsicherung“ über „Grenzschutz“ bis hin zur „Grenzkontrolle“ als Synonym dieses Begriffes der „Grenzschließung“ vereinnahmt. Damit wurde eine begriffliche Situation geschaffen, in der nur die völlige Abschottung Deutschlands vom Rest der Welt oder seine völlig Öffnung für Einwanderung diskutiert werden können. 

Das ist aber nicht die Wirklichkeit. Grenzsicherung bedeutet zunächst einmal die Kontrolle darüber herzustellen, wer in ein Land einreisen und wer ausreisen darf. Grenzsicherung bedeutet nach konsistenten Regeln darüber zu entscheiden wer „zutrittsberechtigt“ ist und dafür zu sorgen, dass diese Regeln eingehalten werden. Bei meinen Erläuterungen zum Begriff „Obergrenze“ wurde allerdings schon deutlich, wie sich die Politik aktuell scheut, genau diese Regeln zu formulieren. Daher ist auch die „Kultivierung“ des Wortes „Grenzschließung“ in der aktuellen Diskussion als Weigerung der Politik zu verstehen, politisch zu gestalten wo die dringende Notwendigkeit dazu besteht. 

Ich möchte nun einen Blick auf die in meinen Augen zerstörerische Wirkung dieser Begriffshoheit werfen und dabei den Bogen zum aktuellen Unwort des Jahres schlagen. Wie ich weiter oben schon anmerkte, bedeutet die Verallgemeinerung jeglicher Migration mit dem Wort Flüchtling implizit die Relativierung der Bedrohung von Leib und Leben. Wie man des Weiteren in der aktuellen politischen Lage immer mehr erkennt, setzt sich die Erkenntnis der notwendigen Grenzsicherung, wie auch die einer faktisch notwendigen Obergrenze immer mehr durch. Deutschland ist das letzte Land Europas, welches noch an seinen offenen Grenzen festhält, und auch hier ist es nur noch die Kanzlerin und ihr (über Parteigrenzen hinaus) „engerer Zirkel“, der Obergrenzen wie auch Grenzsicherung ablehnt. Man kann wohl aber gesichert davon ausgehen, dass beides sehr bald auch in Deutschland Realität sein wird. Was heißt das nun für diejenigen Menschen , die vor Krieg, die vor der Bedrohung von Leib und Leben fliehen? 

Es gibt dazu die Frage der Kritiker von Obergrenzen, was man denn mit dem "(x+1). Flüchtling" täte, wenn die Obergrenze von x erreicht wäre. Dieses Bild betreibt ebenfalls wieder eine Vereinfachung und Begriffsverwirrung, denn „Obergrenze“ bedeutet natürlich nicht (nur) eine absolute Grenze für Zuwanderung, sondern vor allem eine qualitative Unterscheidungen des Zuwanderungsgrundes und eine genaue Definition. unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen die Zuwanderung stattfindet. Salopp gesprochen: Wer als Migrant kommt, wird zum Beispiel erst einmal abgelehnt, bis alle „Kriegsflüchtlinge“ versorgt sind. Oder alternativ: Die Kriegsflüchtlinge bekommen nur einen temporären Aufenthaltsstatus, der ein wohldefiniertes Ausreiseszenario beinhaltet und werden von sonstiger Zuwanderung getrennt. Eine "Obergrenze" sollte so formuliert werden, dass der Schutz von an Leib und Leben bedrohten Menschen gewährleistet werden kann. Dies nennt man politisches Gestalten. 

Trotzdem enthält dieses „x+1-Beispiel“ eine gewisse Wahrheit und macht damit eines deutlich: Es könnte, selbst bei bester politischer Gestaltung, durchaus sein, dass aus der Überlastung der Bundesrepublik im Rahmen der aktuellen Staatskrise heraus der ein oder andere Kriegsflüchtling den sicheren Hafen der Bundesrepublik nicht oder zu spät erreicht. Dies ist dann als direkte Folge der angesprochenen Relativierung der Bedrohung von Leib und Leben und der sprachlich verschleierten Weigerung zum politischen Gestalten zu verstehen. Beides ließ die Situation erst so aus dem Ruder laufen, dass man nun gezwungen ist, eine Entscheidung zu treffen, die möglicherweise Menschen in größter Not ohne Hilfe und Zuflucht zurück lässt. Eine Entscheidung, welche man möglicherweise hätte vermeiden können, wenn man von Anfang an zwischen Flüchtlingen und Migranten unterschieden hätte. Wenn man nicht versucht hätte, die Weigerung zu politischem Gestalten hinter Begriffsdefinitionen zu verstecken. Dabei ist jetzt noch nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die aktuell betriebene Politik zu einer politischen Radikalisierung innerhalb unserer Gesellschaft führen kann, die sich tatsächlich in Richtung einer Abschottung gegenüber Einwanderung bewegen könnte. 

Vor einiger Zeit ergab sich in Zettels kleinem Zimmer eine Diskussion, in der die Auffassung vertreten wurde, dass die aktuelle Politik ein Gebot der christlichen Nächstenliebe sei. Ich widersprach diesem Standpunkt, da aus meiner Sicht Nächstenliebe eine zwischenmenschliche Kategorie ist, keine politische. Das Beispiel, wie der Versuch allen zu helfen, möglicherweise darin münden kann, dass diejenigen in größter Not am Ende zurückgelassen werden, kann vielleicht deutlich machen, warum ich das denke. Politik hat die Aufgabe, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, abzuwägen und Alternativen anzubieten, nicht Empathie und Mitgefühl zu zeigen. Letzteres ist die Aufgabe des einzelnen Staatsbürgers und Menschen. 

An dieser Stelle möchte ich nun die Brücke zum Gutmenschen schlagen: Gutmenschen sind in meinen Augen diejenigen, die Empathie und Mitgefühl politisieren wollen anstatt sie beim Individuum zu belassen, wo beides hingehört. Die Jury der Unwortwahl begründet ihre Begriffswahl hingegen unter anderem damit
Als 'Gutmenschen' wurden 2015 insbesondere auch diejenigen beschimpft, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen […] Mit dem Vorwurf 'Gutmensch', 'Gutbürger' oder 'Gutmenschentum' werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert." 
Man erkennt hier das von mir beschriebene Muster: Die Vereinnahmung des Begriffes im eigenen Sinne, um die Debatte zu kontrollieren. Durch die Begründung der Jury wird die Diskussion über die Unterschiede zwischen politischer und individueller Nächstenliebe unterbunden, weil sie die Begriffe einebnet, bzw. versucht, sie gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Besetzung von Begriffen und ihrer Bedeutung ist dabei nichts anderes als die Gestaltung der Gesellschaft nach ideologischen Maßstäben. Das gilt nicht nur in der aktuellen Staatskrise. Das gilt für die Gesamtheit alternativloser Politik genauso, wie für die Sprachreglungen und mitunter Denkverbote der „politischen Korrektheit“. 

Ideologie kann die Realität für Einzelne über längere Zeiträume durchaus ersetzen aber nicht für alle auf immer außer Kraft setzen.

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