14. August 2007

Schießbefehl an der DDR-Grenze: Eine bizarre Diskussion

Ja, es stimmt: Der jetzt entdeckte Schießbefehl ist keine Sensation.

Zum einen, weil er schon vor Jahren in Auszügen in einer wissenschaftlichen Arbeit publiziert wurde.

Zum anderen, weil dieses jetzt gefundene Dokument nur das bestätigt, was ja ohnehin feststand. Wie hätten denn Grenzsoldaten über Jahrzente auf unbewaffnete Menschen schießen können, wenn sie nicht den Befehl gehabt hätten, das zu tun?

Das ist in jeder intakten Armee undenkbar. Das wäre in einem so straff geführten Truppenteil wie der Grenztruppe der NVA eine Absurdität gewesen. Hätte es keinen Schießbefehl gegeben und hätte ein Soldat dennoch auf einen Flüchtling geschossen, ohne sich in Notwehr zu befinden, dann hätte er sich am nächsten Tag in einem Militärgefängnis wiedergefunden. Stattdessen wurde jeder dieser Todesschützen belobigt und erhielt Vergünstigungen.

Nur wurde dieser Befehl in der Regel, wie das bei solchen kriminellen Befehlen ja auch bei den Nazis der Fall gewesen war, mündlich erteilt. Wie das ging, das hat der ehemalige Grenzsoldat beschrieben, den ich hier zitiert habe: "Den Schießbefehl gab es jeden Tag bei der Vergatterung".

Also insofern nichts Neues. Aber zwei Aspekte der aktuellen Diskussion erscheinen mir doch einen Kommentar wert zu sein.



Erstens wird diese Diskussion von interessierter Seite offenbar genutzt, um gegen die Birthler- Behörde Stimmung zu machen.

Zum einen ist das natürlich ein Entlastungsangriff der Kommunisten nach dem Prinzip "Angriff ist die beste Verteidigung".

Zweitens scheinen aber auch Wissenschaftler, die selbst mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur betraut sind, diese Gelegenheit nutzen zu wollen, um die Auflösung dieser Behörde - d.h. die Übertragung ihrer Funktionen auf das Bundesarchiv - zu betreiben. Dabei geht es, wie man sich denken kann, um die Verteilung von Ressourcen - von finanziellen, von personellen. Kurzum, es ist Futterneid im Spiel.

Bei dieser - in jeder Wissenschaft üblichen - Konkurrenz um Forschungsmittel wird nun allerdings hier mit, vorsichtig ausgedrückt, seltsamen Argumenten gearbeitet.

So sagte der Leiter der Forschungsgruppe SED-Staat an der Freien Universität Berlin, Klaus Schroeder, gegenüber der "Frankfurter Rundschau" über die Birthler-Behörde:
Die Bürokraten- Forschung kann nicht gutgehen. Und dass Frau Birthler jetzt, wo es um die Existenz der Behörde geht, diesen angeblich neuen Fund präsentiert, um die Kompetenz der Behörde zu belegen, ist verständlich, ging aber nach hinten los, weil nicht einmal die Arbeit der eigenen Forscher bekannt ist.
Das ist für einen Wissenschaftler - zurückhaltend formuliert - erstaunlich weit weg von dem, was sich tatsächlich abgespielt hat. Denn es kann ja keine Rede davon sein, daß "Frau Birthler diesen angeblich neuen Fund präsentiert" habe. Und schon gar nicht, "um die Kompetenz der Behörde zu belegen".

Vielmehr war es so, wie hier und im ersten der dort verlinkten beiden Artikeln der "Magdeburger Volkszeitung" zu lesen ist:
Das Dokument befindet sich in der Stasi-Akte von "Matz Löwe". Es wurde von Mitarbeitern der Magdeburger Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde bei der Bearbeitung eines Forschungsantrages der Volksstimme über Grenzdurchbrüche entdeckt.
Der Bericht der "Magdeburger Volksstimme", in dem das steht, führte dazu, daß dpa bei der Birthler- Behörde anfragte. Deren Sprecher bestätigte den Sachverhalt.

Also, nicht Frau Birthler hat irgend etwas "präsentiert". Sondern die "Magdeburger Volksstimme" hat über "Grenzdurchbrüche" recherchiert. Sie hat dazu bei der Magdeburger Außenstelle der Birthler- Behörde einen Forschungsantrag gestellt. Diese hat daraufhin das Dokument aufgefunden. Und dann erst, als dpa anfragte, hat die Zentrale der Birthler Behörde - immer noch nicht Frau Birthler selbst - Stellung genommen. Frau Birthler hat erst auf weitere Anfragen reagiert, die dann von den Medien kamen.



Schlimmer ist freilich eine zweite heutige Stellungnahme, die des Geschäftsführers der Partei "Die Linke", Dietmar Bartsch:
Linke-Geschäftsführer Dietmar Bartsch sagte, das Dokument widerspreche den Gesetzen der DDR und hätte zu strafrechtlichen Konsequenzen geführt.
Tja, da haben wir's. Hätte ein DDR-Grenzsoldat einen solchen Befehl erteilt bekommen, wäre er so "vergattert" worden, wie es der oben zitierte ehemalige Grenzsoldat beschreibt - dann hätte er sich doch nur an den Wehrbeauftragten der NVA wenden müssen. Die Volkskammer hätte einen Untersuchungs- Ausschuß eingesetzt. Der Verantwortliche für den Schießbefehl wäre ermittelt und bestraft worden.

Weiterhin hätte der Soldat, dem dieser Befehl erteilt wurde, sich einen Rechtsanwalt nehmen können - sagen wir, den Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR, Gregor Gysi.

Dieser hätte Strafanzeige erstattet wegen Anstiftung zu einem Tötungsdelikt. Gegen den Vorgesetzten des Soldaten, der den Grenzsoldaten "vergattert" hatte. Gegen den für diesen Befehl Verantwortlichen bei Politbüro des ZK der SED, Egon Krenz. Gegen den Verteidigunsminister der DDR, Heinz Keßler.

Die Zeitungen der DDR, allen voran das "Neue Deutschland", hätten über den Prozeß ausführlich berichtet, über den Untersuchungsausschuß. Die "Aktuelle Kamera" hätte berichtet.

Und am Ende, nicht wahr, Genosse Bartsch, wären die Verantwortlichen für diesen Befehl - also Offiziere der Grenztruppe sowie Günter Krenz und Heinz Keßler - verurteilt worden. Sie hätten ihre Funktionen verloren.

Und niemals wieder wäre an der Mauer, wäre an der DDR-Grenze zur Bundesrepublik auf Flüchtlinge geschossen worden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.



Naja, let's quit kidding. Das wirklich Erstaunliche in solchen Fällen ist, für wie dumm, für wie unglaublich naiv Leute wie Bartsch - von 1986 bis 1990 an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Moskau ausgebildet - die "bürgerliche Öffentlichkeit" halten.

Und freilich zeigen sie mit dieser Taktik, daß sie immer noch dieselben alten Kommunisten sind; nicht gewandelt, wohl aber neu gewandet. Grattez le russe, et vous trouverez le tatare.

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