3. November 2006

Gedanken zu Frankreich (4): Das Sechseck

Als Gott Frankreich erschuf, gab er ihm die Form eines Hexagons - nicht nur einfach eines Sechsecks, sondern eines nahezu perfekt regelmäßigen, gleichseitigen und gleichwinkligen Sechsecks.

Und fast ringsum sind es natürliche Grenzen, die die Kanten dieses Sechsecks bilden: Im Osten der Rhein, die Jura und die Alpen, im Südosten das Mittelmeer, im Südwesten die Pyrenäen, im Westen der Atlantik und im Nordwesten der Kanal. Nur im Nordosten, gen Belgien, Luxemburg, die Rheinpfalz ist die Grenze nicht durch die Geographie vorgegeben.

L'Hexagone - das ist in Frankreich ein gängiger Begriff. Provinzzeitungen zum Beispiel haben eine Rubrik dieses Namens; sie enthält Nachrichten aus ganz Frankreich, also nicht aus der eigenen Provinz. Es gibt eine Hexagone Météo, eine Wettervorhersage für ganz Frankreich also. Wenn man auf französisch nach "Hexagone" googelt, dann findet man zuvorderst nicht Bezüge zum geometrischen Sechseck, sondern zu Frankreich.

Seit dem 18. Jahrhundert haben sich die Grenzen des Hexagone kaum mehr geändert. Hier ist eine Karte Europas zur Zeit der Französischen Revolution. Mittel- und Osteuropa sehen völlig anders aus als heute. Frankreich exakt genauso.



Deutschland fehlen die natürlichen Grenzen. Es ist nicht nur kein so schönes geometrisches Gebilde wie Frankreich, sondern es ist überhaupt kein Gebilde, dessen Gestalt irgendwie vorgeformt wäre.

Frankreich hat sich in den Jahrhunderten vor der Revolution nur nach Westen ausgedehnt, bis es seine - wie es das sieht - natürlichen Grenzen erreicht hatte. Deutschland dagegen fließt und pulsiert, reicht mal bis zur Elbe und mal bis zur Weichsel, mal bis in die Lombardei und mal nur bis an die Alpen, schließt mal Burgund und Lothringen ein und endet mal am Rhein. Maas und Memel, Etsch und Belt - nein, das sind keine natürlichen Grenzen, das waren nie natürliche Grenzen. Allenfalls Markierungen.

Deutschland ist, was diese geographischen Fluktuationen angeht, ein wenig wie ein Einzeller, der seine Pseudopodien mal hier- mal dorthin aussendet und sein Protoplasma dorthin fließen läßt. Frankreich gleicht eher einer Crustacée, die nach ihrer Adolszenz im selben Panzer verharrt. Oder, in einem etwas martialischeren Bild: Frankreich, das ist eine Festung, eine Fortification. Deutschland, das ist ein offenes Feldlager, oft in Bewegung.

Kein Zufall also, daß kein Land die Kunst des Festungsbaus so perfektioniert hat wie Frankreich mit den Bauten von Vauban, der Frankreich mit einem "eisernen Gürtel" umgab. Nach dem ersten Weltkrieg gab es noch einmal eine gigantische Anstrengung dieser Art mit der Maginot-Linie, die freilich nichts daran ändern konnte, daß Frankreich im Zweiten - wie schon im Ersten - Weltkrieg seine offene Grenze dort hatte, wo allein es eben keine natürliche Grenze hatte: Im Nordosten.

Deutschlands militärische Stärke an Festungen festzumachen - das wäre absurd. Preußen, später das Deutsche Reich haben immer auf Beweglichkeit, auf schnelle Verlagerung von Truppen gesetzt. Beweglichkeit hochgedrillter Truppen war die Militärdoktrin Preußens; das läßt sich bis zur Bedeutung motorisierter Divisionen im Zweiten Weltkrieg weiterverfolgen. Ein Land mit festen Grenzen braucht Festungen. Ein Land mit fließenden Grenzen braucht Beweglichkeit.



Der französische Historiker Jules Michelet pflegte seine Vorlesungen über britische Geschichte mit dem Satz zu beginnen: "Messieurs, la Grande-Bretagne est une île" - meine Herren, Großbritannien ist eine Insel. Er sagte das nicht, weil er befürchtete, dieser Umstand sei seinen Hörern unbekannt. Sondern er wollte ausdrücken, daß dieser geographische Umstand einen bedeutenden Einfluß auf die britische Mentalität, auf die britische Geschichte hat.

So ist es, behaupte ich, auch mit dem französischen Hexagone. Ein Land in festen und befestigbaren Grenzen - das hat eine andere Mentalität, eine andere Geschichte als ein Land wie Deutschland, das geographisch hin- und herwogt.

Deutschland war und ist sich seiner selbst unsicher. Phasen eines übersteigerten Nationalismus - in den Befreiungskriegen, im Wilhelminischen Zeitalter nach der Entlassung Bismarcks, im Nationalsozialismus natürlich - wechseln sich ab mit Phasen, in denen die Deutschen am liebsten ihre Nation, ihre Nationalität vergessen möchten. In denen es gar zu so etwas wie einem negativen Nationalismus kommt, der Deutsches verdammt, nur weil es deutsch ist; wie wir das in der Bundesrepublik erlebt haben, wie es erst seit der Wiedervereinigung langsam abzuklingen beginnt.

Dergleichen ist Frankreich vollkommen fremd. Wie in Teil 3 dieser Serie beschrieben - die Franzosen sind Nationalisten mit einer Selbstverständlichkeit, die uns Deutsche baß erstaunen läßt. Sie fühlen sich zusammengehörig in den geometrisch gezogenen Grenzen ihres Hexagone. Ihr Nationalismus einigt sie so sehr, daß selbst die Kommunisten in Frankreich traditionell als staatstreu gelten - primär Franzosen, dann erst Internationalisten.

Und der Nationalismus der Franzosen schließt alle die vielen Umbrüche ihrer Geschichte ein. Ob Bourbonen, ob Revolutionäre; ob Napoléon eins, ob Napoléon drei, ob Republik eins, zwei, drei, vier oder fünf - das paßt alles zusammen.

Es sind alles, aus französischer Sicht, Manifestationen derselben Grandeur. Aufeinander abgestimmt, zueinander passend wie die Kanten, wie die Winkel eines gleichseitigen Sechsecks.