26. Oktober 2006

Das androgyne Rendezvous

Nachdem man Ende der fünfziger Jahre gelernt hatte, Satelliten ins All zu schießen, galt es Anfang der sechziger Jahre hauptsächlich zwei Probleme zu lösen: Erstens das Rückkehrproblem (re-entry problem): Wie bekommt man einen Satelliten nicht nur hoch, sondern auch wieder heil runter, zumindest Teile von ihm? Zweitens das Rendezvous-Problem: Um eine Raumstation zusammenzubauen, oder ein Mondgefährt, muß man Teile getrennt hochschießen, und sie müssen sich im Orbit treffen. Eben ein Rendezvous durchführen.

Das war ein immenses Problem. Zum einen wegen der räumlichen und zeitlichen Größenordnung: Zwei Objekte, die auf verschiedenen Bahnen mit einem Umfang von jeweils mehr als 40 000 km mit rund 28 000 km/h fliegen, müssen so gesteuert werden, daß sie sich annähern und schließlich berühren, und zwar sanft. Zweitens gelten im Orbit die Gesetze der Himmelsmechanik, die ein ganz anderes Navigieren verlangen als auf der Erde oder auf den Weltmeeren - beschleunigt man zum Beispiel einen Satelliten, dann verlagert man ihn dadurch auf eine höhere Bahn, statt ihn einfach nur voranzubewegen.

Ein Teil, der sozusagen abschließende Teil des Rendezvous-Problems war das Problem der Kopplung (docking). Jedenfalls im All ist das Ziel des Rendezvous die körperliche Vereinigung - die Herstellung eines neuen Raumgefährts aus den beiden Komponenten, die das Rendezvous durchgeführt haben. Entweder permanent, wie beim Zusammenbau einer Raumstation. Oder temporär, wenn zum Beispiel ein Versorgungsraumschiff an eine Raumstation andockt und sie später wieder verläßt, um zur Erde zurückzukehren.

Wie kritisch dieses Andockmanöver ist, zeigt ein Unfall bei einem solchen Manöver, der im Juni 1997 fast zum Ende der sowjetischen Raumstation Mir geführt hätte; das Versorgungsraumschiff Progress war bei dem Versuch des Andockens in die Station hineingekracht.



Anfang der sechziger Jahre arbeiteten also die USA und die UdSSR parallel an der Lösung des Rendezvous-und Dockingproblems. Was das Docking angeht, fanden beide dieselbe Lösung, die sie der Natur abgeguckt hatten: Das eine Raumschiff hatte eine Art Stab an seiner Spitze. Das andere verfügte über eine trichterförmige Öffnung. Der Stab (genannt die männliche Komponente) brauchte nur die große Öffnung des Trichters (die weibliche Komponente) zu treffen und wurde von dieser dann zwangsläufig in seine genaue Endposition geführt.

Das erste derartige Andockmanöver gelang den Amerikanern im März 1966, als die Raumkapsel Gemini VIII an eine Agena-Endstufe andockte, die mit einer Atlas-Rakete in den Orbit geschossen worden war. Die Sowjets hatten zwar schon einige Jahre zuvor einen sogenannten "Gruppenflug" zweier bemannter Raumschiffe (Wostok 3 und 4) durchgeführt; diese hatten sich aber nur auf Sichtweite angenähert. Das erste Andockmanöver zwischen zwei bemannten Raumschiffen gelang ihnen 1969. Das eine Raumschiff mit einer weiblichen, das andere mit einer männlichen Andockvorrichtung.



Der sehr verdienstvolle Sender Phoenix begleitet die aktuelle Mission des deutschen Astronauten Thomas Reiter dreimal in der Woche mit der viertelstündigen Sendung All-Tag. Vergangenen Montag würde über Unterschiede zwischen der russischen und der amerikanischen Raumfahrt berichtet. Dabei ging es auch um das Apollo-Sojus-Projekt:

Anfang der siebziger Jahre entstand vor dem Hintergrund der politischen Entspannung die Idee eines gemeinsamen Flugs eines Sojus- und eines Apollo-Raumschiffs, komplett mit Andocken und Begegnung der Besatzungen. Und wie Phoenix berichtet, gab es unter den vielen Problemen, die für dieses gemeinsame Unternehmen zu lösen waren, ein besonders bizarres: Welches der beiden Raumschiffe sollte beim Rendezvous und Andocken den männlichen, welches den weiblichen Part spielen? So, wie es der dazu befragte Experte schilderte, war keine Seite bereit, sich mit dem weiblichen Part zu begnügen.

Was tun? Man erfand einen geschlechtsneutralen Docking-Mechanismus, das Androgyne System zur peripheren Verbindung. Zwei identische Ringe mit einer Art Rosetten, die ineinandergreifen, ungefähr wie die Finger von zwei Händen. So brauchte keine der beiden Seiten den weiblichen Part zu spielen.



Eine schöne Geschichte, finde ich. Sie zeigt, welche absurden Gesichtspunkte die Raumfahrttechnik berücksichtigen mußte und muß.

Und ja nicht nur die Technik. Daß man Menschen ins All schickt, statt das Geld für automatische Systeme auszugeben, ist kaum rational zu rechtfertigen. Gar jetzt - wie die USA es beschlossen haben - wieder Menschen auf den Mond zu verfrachten, mit dem Fernziel, sie auch noch auf den Mars zu hieven, ist eine Geldverschwendung sondergleichen.

Wissenschaftlich betrachtet ist es das. Aber politisch halt nicht. Denn die Chinesen lauern. Sie haben bereits Menschen in die Umlaufbahn geschickt, sie haben ein sehr intensiv betriebenes Mondlandeprogramm. Den Amerikanern bleibt, wollen sie nicht ihre Hegemonie in Frage gestellt sehen, gar nichts anderes übrig, als ihrerseits wieder Astronauten auf den Mond zu schicken.

Wahrscheinlich, anders als beim Apollo-Programm, männliche wie weibliche. Und, wer weiß, vielleicht auch androgyne.

25. Oktober 2006

Randbemerkung: Ein Schädel und ein Skandal

Als ich heute Mittag erstmals Spiegel-Online aufgesucht habe, sprang mir diese Meldung ins Auge:

25. Oktober 2006

TOTENSCHÄNDUNG
Entsetzen über Skandal- Fotos deutscher Soldaten


Mit Empörung und Abscheu reagieren Politiker und Bundeswehr- Führung auf die skandalösen Fotos, die deutsche Soldaten in Afghanistan bei der Schändung eines Toten zeigen. Die Bundeswehr hat bereits zwei Verdächtige ermittelt, sie werden momentan vernommen.


Deutsche Soldaten bei der Schändung eines Toten! Ich stellte mir vor, daß sie vielleicht einen getöteten Taliban verstümmelt oder sonstwie sich an einer Leiche vergriffen hatten, und war entsetzt.

Dann kamen die Zwei-Uhr-Nachrichten der Tagesschau. Dort wurde ein Journalist interviewt, der damals in der betreffenden Gegend von Afghanistan gewesen war und der folgendes berichtete: Es habe dort ein Massengrab aus der Zeit des Kriegs gegen die Sowjets gegeben, also aus den achtziger Jahren. Die Gebeine seien zutage getreten, als dort Ausschachtungsarbeiten durchgeführt worden seien, und man habe sie herumliegen lassen, statt sie erneut zu beerdigen.

Einen dieser herumliegenden Schädel hatten also offenbar die Bundeswehrsoldaten genommen und sich damit fotografieren lassen. Ein makabrer Scherz, geschmacklos. Aber "Schändung eines Toten"?

Is es die "Schändung eines Toten", wenn sich Hamlet den Schädel Yorricks greift und über denjenigen monologisiert, dem er gehörte? Auch das ist makaber, wenn auch nicht geschmacklos. Aber Leichenschändung - auf diesen Gedanken ist wohl noch niemand verfallen.

Die an dem Vorfall beteiligten Soldaten haben sich einen Rüffel verdient. Das zu einem Skandal aufzuplustern, ist lächerlich.



Lächerlich ist es, wirkungslos vermutlich nicht.

Heute fand in Berlin ein Festakt statt, an dem auch der Nato-Generalsekretär teilnahm. Heute wurde das neue Weißbuch 2006 zur Sichrheitspolitik vorgestellt. Heute sollte der Verteidigungsausschuß des Bundestags sich mit den Folter-Vorwürfe gegen deutsche Soldaten in Afghanistan beschäftigen.

Das Timing der "Enthüllung" eines Jahre zurückliegenden Vorfalls mag Zufall sein oder auch nicht - sicher ist, daß die Sprache der Bilder ihre Wirkung tun wird. Siehe Abu Ghuraib.



Ein "Bundeswehr-Skandal" (so der Titel des ARD-Brennpunkts heute Abend) ist nicht diese makabre Entgleisung einiger Soldaten, die Jahre zurückliegt. Ein Skandal ist es allerdings, wie das hochgespielt wird. Der Skandal selbst ist das Skandalöse.



Hoffen kann man nur, daß der Schädel sich als der eines gefallenen sowjetischen Soldaten herausstellen wird.

Gedanken zu Frankreich (3): Die staatsfrommen Revolutionäre

Bis vor wenigen Wochen gehörte zum Kreis der Kandidaten für die bevorstehenden französischen Präsidentschaftswahlen der Sozialist Lionel Jospin. General­sekretär der Sozialistischen Partei von 1981 bis 1993 und dann wieder ab 1995. Französischer Minister­präsident von 1997 bis 2002.

Und heimliches Mitglied einer Parteizelle der Internationalen Kommunistischen Organisation (Organisation Communiste Internationale) seit 1965. Bis wann, ist unbekannt; jedenfalls war er noch Mitglied einer trotzkistischen Zelle, als er es bereits zum Generalsekretär der Sozialistischen Partei gebracht hatte.

Seine Mitgliedschaft in dieser kommunistischen Organisation wurde 2001 bekannt. Entsprechende Gerüchte hatte er zuvor dementiert und behauptet, er werde mit seinem Bruder, einem erklärten Trotzkisten, verwechselt.

Jospin war im selben Jahr, in dem er sein Studium abschloß, Mitglied der OCI geworden, einer weitgehend verdeckt operierenden Abspaltung von der 4. Internationale. Er war dort unter dem Decknamen "Michel" zum engen Mitarbeiter des Gründers, Deckname "Pierre Lambert", aufgestiegen, und auf dessen Anordnung hin war er 1971 in die Sozialistische Partei eingetreten; also klassischer Entrismus, Unterwanderung einer demokratischen Partei.

Als ich damals, vor fünf Jahren, im Nouvel Observateur diese Enthüllungen über Jospin gelesen habe, da dachte ich natürlich: Das ist das Ende der Karriere von Lionel Jospin, jedenfalls seiner Karriere innerhalb der Sozialistischen Partei. In einer sozialdemokratischen Partei, Schwesterpartei der SPD, hervorgegangen aus der S.F.I.O., einer der großen sozialdemokratischen Parteien des 20. Jahrhunderts, kann man ja nicht gut einen Kommunisten in höchster Position dulden.

Und was passierte? Nichts. Oder jedenfalls fast nichts. Man erfuhr, daß Mitterrand schon lange auf dem Laufenden gewesen war. Es gab eine kleine Diskussion. Lionel Jospin blieb im Amt und wurde ein Jahr danach gar von der Sozialistischen Partei zum Präsidentschaftskandidaten gekürt! Und es sah bis vor kurzem danach aus, als könne er jetzt erneut kandidieren, für die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr nächsten Jahres.



Diese für Nichtfranzosen unglaubliche Geschichte beleuchtet das, was ich mit "die staatsfrommen Revolutionäre" meine: Die Franzosen verstehen es auf eine (für andere) geheimnisvolle Weise, das eine mit dem anderen in Einklang zu bringen. So, wie Lionel Jospin ein Doppelleben führte: Während er eine Bilderbuchkarriere als braver Staatsdiener durchlief - Absolvent der Eliteuniversität für Staatsbeamte ENA, dann hoher Diplomat im Außenministerium, dann Universitätsprofessor -, agierte er im Untergrund als Mitglied einer Organisation, deren erklärtes Ziel es war (und ist), die staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu beseitigen, der Jospin diente.

Als das öffentlich bekannt wurde, hätte es ihm in jeder anderen Demokratie der Welt politisch den Hals gebrochen. Nicht in Frankreich. Die Mehrheit der Franzosen fand offensichtlich kaum etwas dabei - er war halt nur allzusehr Franzose mit diesen zwei Seelen, hélas!, in seiner Brust. Der revolutionäre Trotzkist "Michel"; der treue Staatsdiener Jospin - irgendwie lebten sie, gewissermaßen in Cohabitation, ganz gut zusammen. Und die Franzosen verstanden das.



Man kann diesen Zwiespalt, diesen dann doch wieder irgendwie "harmonisierten" (harmoniser ist ein sehr französisches Wort) Zwiespalt, in Frankreich in vielfältigen Formen finden.

Die französische Geschichte ist seit der Grande Révolution so etwas wie eine Echternacher Springprozession zwischen Umsturz und Restauration. Ganze zehn Jahre hielt die Erste Republik, bis ihr 1799 Napoléon mit seinem Aufstieg zum Ersten Konsul, und fünf Jahre später seiner Selbstkrönung zum Kaiser, ein Ende machte. Dem Ende des ersten Empire 1814 folgten Restauration, Napoléons Umsturz der Hundert Tage, erneute Restauration, die Julirevolution von 1830, dann 18 Jahre einer erneuten Restauration, wenn auch bürgerlich angehaucht. Ganze vier Jahre hielt die nächste, die Zweite, Republik. Das anschließende Zweite Kaiserreich brachte es auf 18 Jahre, bevor es kollabierte - in der Revolution der Commune, in der Niederlage gegen Preußen.

Die 1875 proklamierte Dritte Republik immerhin war recht beständig - fünfundsechzig Jahre währte sie, bis zur Niederlage von 1940. Die Vierte Republik hingegen war wieder nur eine kurze Episode: 1946 entstanden, unter wesentlicher Mitwirkung de Gaulles. 1958 schon zu Ende, wieder unter revolutionären Umständen, die freilich von Algerien ihren Ausgang nahmen. Abgelöst von der Fünften Republik, wieder unter entscheidender Mitwirkung Charles de Gaulles.

Eine Republik nun allerdings, die, wie die Dritte, vergleichsweise beständig zu werden verspricht: Weil das Pendel mit ihr ganz weit weg von der revolutionären hin zur staatsfrommen Seite geschwungen ist. Eine Präsidial­demokratie mit einem Präsidenten, dessen Machtfülle die des US-Präsidenten weit übersteigt. Aber immerhin, sie funktioniert; auch wenn manche schon von einer bevorstehenden Sechsten Republik sprechen.



Eine unruhige Geschichte in gut zweihundert Jahren, fürwahr. Bewegter als die fast jedes anderen Landes in Europa; von den USA ganz zu schweigen, die in dieser ganzen Zeit dieselbe Verfassung mit denselben Instistutionen hatten und haben.

Und doch wundersam "harmonisiert" in der Überzeugung der Franzosen, daß das alles groß gewesen ist, und alles Ausdruck der France Éternelle, des Ewigen Frankreich. Als man 1989 den zweihundertsten Jahrestag der Großen Revolution gefeiert hat, zog die Parade vom Arc de Triomphe, den der Große Napoléon in Auftrag gegeben hatte und der in der Großen Zeit des Bürgerkönigs Louis Philippe vollendet worden war, über die Place de la Concorde, auf der die Guillotine der Großen Revolution gestanden hatte, zum Louvre, in dem die Großen Könige der Bourbonen gewohnt hatten.



Diese Harmonisierung des Zwiespalts zwischen Revolutions- und Sicherheitsbedürfnis - man kann sie in Frankreich in mannigfacher Gestalt finden.

Beispielsweise in der staatlichen Organisation: Die ständigen Turbulenzen der Dritten und der Vierten Republik wurden im Lot gehalten durch das Wirken einer übermächtigen Bürokratie; Herbert Lüthy hat es vor einem halben Jahrhundert in seinem brillanten Buch "Frankreichs Uhren gehen anders" beschrieben: Die politische Rhetorik bedient die revolutionäre Aufmüpfigkeit. Die stockkonservative Verwaltung sorgt dafür, daß das Sicherheitsbedürfnis nicht zu kurz kommt.

Die beiden Wahlgänge des französischen Wahlsystems sind perfekt auf diese Mentalität abgestimmt: Im ersten Wahlgang lassen die Franzosen traditionell ihren revolutionären Gelüsten freien Lauf und wählen zum Beispiel in großer Zahl Kommunisten, Trotzkisten, Anarchisten, Rechtsextreme. Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 bekamen im ersten Wahlgang die Linksextremen Arlette Laguiller, Olivier Besancenot, Christiane Taubirat und Daniel Gluckstein sowie der orthodoxe Kommunist Robert Hue zusammen mehr als 16 Prozent; die beiden rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen und Bruno Mégret zusammen mehr als 19 Prozent.

Mehr als ein Drittel der zur Wahl gehenden Franzosen haben in diesem ersten Wahlgang extremistisch gewählt! Im zweiten, entscheidenden Wahlgang gilt dann voter utile, nützlich wählen. Im zweiten Wahlgang wurde 2002 der demokratische Rechte Jacques Chirac mit 82,21% Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.



Sie sind Revolutionäre, die Franzosen. Aber ganz, ganz vorsichtige. Hier ist ein Foto, das ich auf der diesjährigen Demonstration zum 1. Mai in Paris aufgenommen habe, auf dem Weg zwischen der Place de la République und der Place de la Bastille (Aufschrift auf dem Schild: "Pas fier du merdier écomomique européen que je laisse à mes enfants" - Nicht stolz auf den europäischen wirtschaftlichen Saustall, den ich meinen Kindern hinterlasse):

21. Oktober 2006

Drei Kriege und eine Hypothese

Sieht man von den Weltkriegen ab, so haben nur drei Kriege der vergangenen hundert Jahre weltweit Emotionen erregt und die politische Diskussion bestimmt. Nur diese drei Kriege haben das Engagement und lebhafte Stellungnahmen von Menschen ausgelöst, die von diesen Kriegen überhaupt nicht betroffen waren: Der Spanische Bürgerkrieg, der Vietnamkrieg und jetzt der Irakkrieg.

Keiner dieser Kriege war blutiger als andere Kriege dieses blutigen Jahrhunderts - der russische und der chinesische Bürgerkrieg zum Beispiel, der Korea-Krieg, der Kongo-Krieg, der Afghanistan-Krieg. Bei keinem der drei Kriege ging es um Entscheidungen von ungewöhnlicher Tragweite. Im Gegenteil: Der Ausgang des spanischen Bürgerkriegs änderte nichts an den Machtverhältnissen in Europa. Der Sieg der Kommunisten im Vietnam-Krieg hat lediglich den Aufstieg des Kapitalismus und der Demokratie in Indochina um einige Jahrzehnte verzögert.

Was der Irak-Krieg und sein Ausgang bewirken werden, wissen wir noch nicht. Aber es gehört nicht viel spekulative Kraft zu der Vermutung, daß auch ein Ende des Saddam-Regimes durch eine innere Revolution oder durch eine Implosion wie in Osteuropa die ethnischen, religiösen und politischen Konflikte freigesetzt hätte, die jetzt im Irak ausgetragen werden. Die Invasion hat die jetzige Situation ausgelöst, verursacht hat sie sie nicht.



Gut, beim Vietnam-Krieg konnte man damals nicht wissen, daß der Sieg der Kommunisten nicht die "Dominos fallen" lassen würde, wie die USA das befürchtet und die Kommunisten erhofft hatten. Man hatte zu wenig Zutrauen in die Kraft des Kapitalismus gehabt, hatte andererseits dem kommunistischen System viel zu viel zugetraut. Aber das erklärt nicht das ungeheure, weltweite Engangement, das dieser Krieg auslöste. Wie der Spanische Bürgerkrieg, wie heute der Irak-Krieg.



Was diese drei Kriege auszeichnet, das war und ist nicht ihre reale Bedeutung, auch nicht die Entsetzlichkeit des Gemetzels. Sondern es ist ihr Symbolwert. Was sie gemeinsam haben, das ist ihre Eignung dazu, politische Einstellungen affektiv aufzuladen. Sie boten und bieten sich dafür an, "Farbe zu bekennen". Sie standen und stehen für Gut und Böse.

Der Spanische Bürgerkrieg war für die europäische und amerikanische Linke das Symbol des Kampfs gegen den Faschismus und den Nazismus, für Demokratie, Fortschritt, Sozialismus. Der Vietnamkrieg war weltweit für die Linke das Symbol für das, was man damals als "auf der Tagesordnung der Weltgeschichte" stehend ansah: Niedergang des "Spätkapitalismus", Siege im "Nationalen Befreiungskampf" auf allen Kontinenten. "Schafft zwei, drei, viele Vietnams". In beiden Fällen war das politische Engangement zugleich ein moralisches Engagement. Für Fortschritt und Gerechtigkeit. Gegen Unterdrückung und Unrecht.



Was ist es nun, was jetzt dem Irak-Krieg diese symbolhafte Bedeutung verleiht? Auf den ersten Blick ist das schwer zu erkennen. Ein blutiger Diktator, einer der widerlichsten unserer Zeit, ist durch eine Invasion gestürzt worden. An die Stelle seiner Willkürherrschaft ist der mühsame Versuch getreten, einen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen. Einen Staat, den - wie die Volksabstimmungen, wie die Wahlen beweisen - die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit will. Dessen Erfolg aber durch Banden von Kriminellen, von Fanatikern, von religiös motivierten Terroristen gefährdet ist.

Sofern man das nach moralischen Kriterien bewerten kann, wird man auf der Seite der irakischen Demokraten und der amerikanischen Befreier stehen, die ihnen den Aufbau eines freien Irak ermöglicht haben. Aber seltsam - die Linke, die sonst weltweit gegen Diktaturen und für die Freiheit eintritt, hat sich diesmal anders entschieden. Sie steht gegen die Befreier. Daß sie auf der Seite der Terroristen steht, wird man nicht behaupten können. Aber es gibt doch ein sehr ähnliches moralisches Engangement wie beim Vietnam-Krieg; ein Engangement gegen die USA.



Was ist da los? Ist es einfach der antiamerikanische Reflex, der auch schon dazu führte, daß deutsche Linke (nicht nur der Kommunist Gysi) sich im Balkan-Krieg auf die Seite von Milosevic stellten? Vielleicht. Ich möchte aber eine Hypothese zur Diskussion stellen, die darüber hinausgeht. Ich weiß nicht, ob sie stimmt. Aber sie erscheint mir bedenkenswert:

Das Ende des Sozialismus in Osteuropa, und nun auch in Asien, hat die Linke weltweit tief getroffen. Nicht einfach nur als eine politische Niederlage. Sondern das, was den Kern linken Denkens ausmacht - daß man "gut" ist, für das Moralische eintritt, "Humanist" ist, Erbe der Aufklärung -, das war durch das, was nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus für alle offensichtlich zutage trat, vollkommen diskreditiert.

Alle Rechtfertigungsversuche, alle Illusionen auch über die Verhältnisse im Sozialismus hatten sich erledigt. Was vom Sozialismus blieb, das waren Unterdrückung, Unrecht, Armut. Zugleich erwiesen sich die sozialdemokratischen Modelle in Europa als unfähig, mit den Herausforderungen der Globalisierung zurechtzukommen.

Da war also eine große Leere entstanden. Und diese wurde - so die Hypothese - durch den Irak-Krieg zumindest partiell wieder gefüllt. Der Grundzustand linken Denkens - das Sich-Empören wider Unrecht - hatte wieder einen Gegenstand gefunden. Etwas, woran sich die Affekte heften konnten: Ein Präsident, der angeblich gelogen hat, um einen Krieg´entfachen zu können, der - so 2003 eine Spiegel-Titelgeschichte - "Blut für Öl" opfert. Eine amerikanische Besatzungsmacht, der "Widerstandskämpfer" entgegentreten. Amerikaner, die foltern. Das ist der Stoff, aus dem linke Träume sind.

Die Welt ist wieder in Ordnung, man kann sich wieder engagieren - für das Gute, gegen das Böse, das Altböse, also die USA.



Man muß freilich sehen, daß der Irak-Krieg für ein derartiges, moralisch überhöhtes Engagement gegen die USA nun wahrlich ungeeignet ist. Ein - in der Terminologie der Ethologen - unteroptimaler Auslöser. Aber das Bedürfnis, sich wieder "auf der richtigen Seite" zu engagieren, war halt nach 1989 auf der Linken sehr groß. In der Not frißt der Teufel Fliegen.

20. Oktober 2006

Zettels Meckerecke: Herrscher des Universums

Schlagzeilen sollen den Hauptpunkt einer eines Artikels, einer Meldung, ihren zentralen Inhalt mitteilen. Journalisten lernen im Volontariat oder auf der Journalistenschule, daß man sie zweitens so formulieren sollte, daß der Leser neugierig auf den Beitrag wird. Schlagzeilen sind insofern auch Köder, die man auswirft, um das Interesse einzufangen. Völlig legitimerweise.

In der schlechten Presse haben Schlagzeilen aber noch eine dritte Funktion: Sie werden so formuliert, daß sie eine bestimmte Stellungnahme zu dem nahelegen, was berichtet wird; sie suggerieren eine Wertung. Sie wollen Vorurteile des Lesers bestätigen oder diese verstärken, vielleicht auch erzeugen.

Das geht dann manchmal so weit, daß die Schlagzeile eine Behauptung enthält, die durch den Artikel selbst überhaupt nicht belegt wird. Hier ist ein aktuelles Beispiel.



"Bush erklärt sich zum Herrscher des Universums" titelt Spiegel-Online (SPON) am 18. Oktober. Eine nun wirklich sensationelle Meldung. "Ist Bush jetzt endgültig übergeschnappt?" mag sich der Leser denken. Und derjenige, der sein Bild von Bush aus den Werken Michael Moores gewonnen hat, wird vermutlich nur das bestätigt sehen, was er immer schon wußte: Bush ist größenwahnsinnig.

Schaut man nach, worauf sich denn eigentlich diese Meldung bezieht, dann macht man zunächst eine interessante Entdeckung: Das Thema brauchte fast zwei Wochen, um zur Kenntnis der Redaktion von SPON zu gelangen. Denn der zugrundeliegende Status Report der US-Regierung wurde bereits am 6. Oktober veröffentlicht.

Steht darin, daß Präsident Bush sich zum Herrscher des Universums erklärt? Natürlich nicht. Von Präsident Bush ist überhaupt nicht die Rede. Vom Universum ist überhaupt nicht die Rede. Von Herrschaft ist nicht die Rede.

Als Prinzipien (Principles) wird das genaue Gegenteil dessen genannt, was die Überschrift von SPON suggeriert (Hervorhebungen von mir):

The conduct of U. S. space programs and activities shall be a top priority, guided by the following principles:

* The United States is committed to the exploration and use of outer space by all nations for peaceful purposes, and for the benefit of all humanity. Consistent with this principle, "peaceful purposes" allow U. S. defense and intelligence-related activities in pursuit of national interests;

* The United States rejects any claims to sovereignty by any nation over outer space or celestial bodies, or any portion thereof, and rejects any limitations on the fundamental right of the United States to operate in and acquire data from space;

* The United States will seek to cooperate with other nations in the peaceful use of outer space to extend the benefits of space, enhance space exploration, and to protect and promote freedom around the world;

* The United States considers space systems to have the rights of passage through and operations in space without interference. Consistent with this principle, the United States will view purposeful interference with its space systems as an infringement on its rights;

* The United States considers space capabilities -- including the ground and space segments and supporting links -- vital to its national interests. Consistent with this policy, the United States will: preserve its rights, capabilities, and freedom of action in space; dissuade or deter others from either impeding those rights or developing capabilities intended to do so; take those actions necessary to protect its space capabilities; respond to interference; and deny, if necessary, adversaries the use of space capabilities hostile to U. S. national interests;

* The United States will oppose the development of new legal regimes or other restrictions that seek to prohibit or limit U.S. access to or use of space. Proposed arms control agreements or restrictions must not impair the rights of the United States to conduct research, development, testing, and operations or other activities in space for U. S. national interests; and

* The United States is committed to encouraging and facilitating a growing and entrepreneurial U.S. commercial space sector. Toward that end, the United States Government will use U. S. commercial space capabilities to the maximum practical extent, consistent with national security.



Also: Die USA wollen mit anderen Nationen zusammenarbeiten und behalten sich das Recht vor, dabei ihren eigenen nationalen Interessen zu folgen. Im Grunde Selbstverständlichkeiten. Daß diese jetzt betont werden, mag daran liegen, daß China im Begriff ist, neben den USA und Rußland zur dritten Weltraum-Macht zu werden, einschließlich bemannter Raumfahrt und sogar einem Mond-Programm. Selbstverständlich folgt dabei auch China seinen nationalen Interessen, so wie es auch Rußland tut.

"USA betonen nationale Interessen im Weltraum" - das wäre zum Beispiel eine Überschrift gewesen, die das Thema zutreffend zusammenfaßt. SPON aber behauptet: "Bush erklärt sich zum Herrn des Universums".

Im Text steht das genaue Gegenteil: "Die USA lehnen jeden Anspruch einer Nation auf Herrschaft über den Weltraum oder Himmelskörper oder Teile davon ab".




Ein Einzelfall? Keineswegs. Bei SPON ist das nachgerade endemisch. Vor allem, wenn es um die USA geht. Vor allem, wenn es um Präsident Bush geht, um den Irak-Krieg.

"Gewalt in Bagdad - USA planen militärischen Strategiewechsel" titelt SPON heute.

In der heutigen New York Times kann man das lesen, worauf sich die SPON-Meldung bezieht: Es gibt im Weißen Haus und im Pentagon eine Diskussion über die einzuschlagende Strategie und Taktik. Daß die USA einen "militärischen Strategiewechsel planen", ist schlicht die Unwahrheit. Das ist lediglich eine der gegenwärtig diskutierten Optionen; und eine eher unwahrscheinliche. Die NYT zitiert Richard L. Armitage, einen ehemaligen stellvertretenden Außenminister mit guten Verbindungen zum Militär: "Strategy takes time, and that's the question. Do we have time for a new strategy?" "Strategie braucht Zeit, und das ist die Frage: Haben wir die Zeit für eine neue Strategie?"

SPON aber macht seinen Lesern weis, die USA planten bereits den Strategiewechsel.

Armut (2): Semantisches

Nicht nur im Deutschen ist das Wort "arm" mehrdeutig. Es bezeichnet nicht nur das, womit sich jetzt die "Unterschicht"- Diskussion befaßt - also geringes Einkommen, schlechte Lebensverhältnisse. Sondern es steht auch für etwas sehr Emotionales und sehr Soziales. Die Mutter sagt zum weinenden Kind: "Ja, was hat denn mein armer Schatz?". "Alas, poor Yorick" meditiert Hamlet, als er den Schädel Yoricks in Händen hält. Armer Yorick - arm, weil er jetzt tot ist, jener Hofnarr, der den jungen Hamlet auf seinen Schultern getragen hatte. "... and now, how abhorred in my imagination it is! my gorge rims at it" "... und jetzt, wie schaudert meiner Einbildungskraft davor! Mir wird ganz übel" übersetzt das Schlegel.

Wenn in Maupassants "Mon oncle Jules" der Ich-Erzähler schreibt: "Et je me rappelle l'air pompeux de mes pauvres parents dans ces promenades du dimanche, la rigidité de leurs traits, la sévérité de leur allure", dann meint er mit "armen" Eltern nicht, daß es der Familie wirtschaftlich schlecht ging, sondern er bedauert sie in ihrer kleinbürgerlichen Enge. Ein fast liebevolles Bedauern.

Das französische "pauvre", wenn auf nahestehende Personen bezogen, übersetzt man überhaupt oft besser mit "lieb", als mit "arm". In einem seiner Briefe an Louise Colet beschreibt Flaubert eine Szene aus seiner Kindheit, in der die Herzogin von Bercy in ihre Kutsche durch Rouen fährt: "... elle me remarqua, dans la foule, tenu dans les bras de mon père qui m'élevait pour que je puisse voir le cortège. Sa calèche allait au pas ; elle la fit arrêter et prit plaisir à me considérer et à me baiser. Mon pauvre père rentra bien heureux de ce triomphe." Die Herzogin ließ anhalten, um den hübschen kleinen Gustave Flaubert zu betrachten und zu küssen - ein Triumph für "mon pauvre père". Nicht für "meinen armen Vater", sondern für "meinen lieben Vater", oder vielleicht "mein Väterchen". Im Französischen wird der Diminuitiv seltener verwendet als im Deutschen, und das "pauvre" ersetzt ihn manchmal.



Mehrdeutig ist es also, das "arm"; aber es ist kein Homonym wie, sagen wir, "blau", das eine Farbe oder einen Zustand des Betrunkenseins meinen kann. Sondern es ist so, daß die eine Bedeutung immer mitschwingt, wenn wir das Wort in seiner anderen verwenden.

Wenn wir jemanden als einen "Armen" im Sinn dürftiger Lebensverhältnisse bezeichnen, dann ist das folglich keine neutrale Aussage; sagen wir, so, wie wenn wir jemanden einen Briefmarkensammler nennen. Sondern wenn wir das Wort "arm" verwenden, dann gehört zum Bedeutungsumfeld dieses Wortes etwas von dem Mitleid, auch der Zuwendung, welche die Konnotation des "arm", des "poor", des "pauvre" in den zitierten Beispielen mit ausmachen.



Semantik, gewiß. Aber Semantik spielt bekanntlich in der Politik eine immense Rolle. Begriffe "besetzen", ihnen eine bestimmte, politisch gewollte, Bedeutung geben oder eine solche verstärken - das gehört zum Geschäft der Spin Doctors ebenso wie die Analyse von Meinungstrends und die Vorhersage von Entwicklungen.

Im Fall des Worts "arm" ist das offensichtlich. Die beiden Bedeutungen des Worts durchdringen einander. Wenn jemand von "den Armen" spricht, gar von den "Ärmsten der Armen", dann appelliert er damit an unsere emotionale Reaktion. Zur Semantik tritt kulturelle Tradition hinzu: Kaum eine Kultur, kaum eine Religion, in der nicht das Mitleid mit den Armen, Wohltätigkeit ihnen gegenüber, als ein gesellschaftlicher Wert galt.

Und - natürlich - kaum eine Gesellschaft in der bisherigen Menschheitsgeschichte, in der es nicht wirklich Arme in einer sehr direkten, sehr unbezweifelbaren Bedeutung des Worts gegeben hätte: Menschen, die hungern, die frieren, die kein Dach über dem Kopf haben. Die im Elend leben. Deren Hilfsbedürftigkeit ebenso offensichtlich ist, wie es ethisch gewünscht sein muß, daß sich unser Mitleid auf sie richtet.

Die beiden Bedeutungen des Worts gehörten zusammen, weil die eine (die objektiv schlechte Lage der Betreffenden) die andere (die subjektive Reaktion des Mitfühlens) mit psychologischer Notwendigkeit nach sich zog.

Im ersten Teil habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß das auf viele von denjenigen, die in der aktuellen Diskussion als "arm" bezeichnet werden, keineswegs mehr zutrifft. Kinder, die nicht unterernährt sind, sondern oft fettleibig. Die nicht darunter leiden, kein Spielzeug zu haben, sondern deren Problem es ist, daß sie zuviel am Computer spielen. Menschen, deren Lebensstandard noch vor einem halben Jahrhundert sie als wohlhabend ausgewiesen hätte.

Es gibt Gründe, es gibt ernstzunehmende Argumente dafür, sie dennoch als "arm" zu bezeichnen. Aber dazu muß man die herkömmliche Bedeutung dieses Begriffs verlassen, zumindest stark erweitern. Man muß Armut neu definieren. Mit dem Begriff der Armut im sozialen Kontext befaßt sich der folgende Teil.

19. Oktober 2006

Randbemerkung: Dampf ablassen

Von der BILD-Zeitung erwartet man so etwas, in der FAZ ist es doch eher überraschend: Eine Art Leserforum, in dem man - Titel: "Dampf ablassen" - seinem Ärger über die Deutsche Bahn Luft machen darf. Als ich eben nachgesehen habe, hatten 59 Menschen von diesem Angebot Gebrauch gemacht.

Vermutlich gibt es kaum einen Kunden der Bahn, der - hätte er Zeit, wäre er zum Schreiben aufgelegt - da nicht mitmachen könnte. Ich beispielsweise könnte von meiner letzten Fahrt berichten: Eine halbe Stunden Schlangestehen beim Kauf der Fahrkarte. Vierzig Minuten Verspätung des IC. Ein "Bord-Bistro", in dem man nicht einmal einen Kaffee bekam, weil die Kaffemaschine leider kaputt war, wie eine mürrische Kellnerin erklärte. In Köln eine Gepäckaufbewahrung für 4 (in Worten: vier) Euro; dafür konnte man den Koffer nicht einfach ins Fach legen, sondern mußte Prozeduren des "Einlagerns" und "Auslagerns" in ein automatisches Aufbewahrungssystem absolvieren. Erfahrungen auf einer einzigen Fahrt.

Aber was soll's. Das ist alles trivial. Jeder Bahnkunde macht ständig solche Erfahrungen. Was mich interessiert, ist etwas anderes: Warum verspüren wir eigentlich keine vergleichbare Lust, über, sagen wir, das Einkaufen bei Karstadt oder im Kaufhof, über den Service in Restaurants oder, um beim Verkehr zu bleiben, über die Qualität von Autos "Dampf abzulassen"?

Liegt es daran, daß wir dort keine schlechten Erfahrungen machen? Gewiß nicht. Mürrische Kellner gibt es nicht nur in den Speisewagen der Deutschen Bahn, unpünktlich kann auch ein bestelltes Taxi sein. Nur - Dampf, den es abzulassen gälte, verursacht das kaum. Denn es gibt ja eine offensichtliche Abhilfe: Man geht nicht mehr in das Restaurant, in dem man unfreundlich bedient wurde. Man bestellt das Taxi das nächste Mal bei einem anderen Unternehmen. Man reagiert durch Handeln, also braucht man nicht zu meckern.

Das Bedürfnis, "Dampf abzulassen", entsteht erst dann, wenn dieser offensichtliche und vernünftige Weg, auf einen Mißstand zu reagieren, versperrt ist. Wenn wir es also mit dem Staat oder - in seltenen Fällen - einem anderen Monopolisten zu tun haben. Ihm gegenüber sind wir ohnmächtig. Die Deutsche Bahn kann es sich leisten, sich wie eine Behörde zu benehmen, denn wir Kunden können ja nicht zur Konkurrenz gehen; von einigen wenigen Privatbahnen abgesehen. So wenig, wie wir zu einem anderen Finanzamt gehen können, wenn wir mit dem für uns zuständigen unzufrieden sind.



Als ich als junger Mann den Sozialismus noch für eine gute Sache hielt, schoß es mir einmal - beim Warten in einer Schlange vor einem Bahnhofsschalter, logischerweise - durch den Kopf: Ist wirklich eine Gesellschaft erstrebenswert, in der alles so funktioniert wie die Bundesbahn? Damals keimte erster Zweifel an meinem linken Weltbild.

Ich war damals noch nicht in einem sozialistischen Land gewesen. Daß es im Sozialismus wirklich überall - in Restaurants, in Geschäften, bei Dienstleistern - exakt so zugeht, wie ich es von der Deutschen Bundesbahn kannte, habe ich eigentlich erst richtig erlebt, als wir Jahrzehnte später, unmittelbar nach der Wende, in die damals noch bestehende DDR reisten. Wo an einem Restaurant das Schild hing "Nur für bestellte Gäste". Wo man nicht bedient wurde, weil die Kellnerbrigade sich - während der Öffnungszeit! - um einen Tisch versammelt hatte, um gemeinsam gemütlich Pause zu machen. Wo uns ein Fischhändler erklärte, er habe jetzt, kurz vor Dienstschluß, keine Lust mehr, den von uns ins Auge gefaßten Zander zu filetieren - wir könnten ja Forellen nehmen, die seien schon filetiert.

Er war sozusagen eine einzige große Bahnreise, dieser Urlaub in DDR, in den letzten Wochen des Sozialismus.

Gedanken zu Frankreich (2): Ein Skandalgesetz, ein Gesetzesskandal

Am 12. Oktober hat die Französische Nationalversammlung ein Gesetz verabschiedet, das allerdings noch der Zustimmung des Senats und der Unterschrift von Präsident Chirac bedarf; beide sind fraglich. Der Wortlaut dieses Gesetzes ist knapp: "Seront punis comme indiqué à l'article 24 bis de la loi du 29 juillet 1881 sur la liberté de la presse ceux qui auront contesté l'existence du génocide arménien de 1915". Zu deutsch: "Wer die Existenz des Völkermords an den Armeniern von 1915 leugnet, wird gemäß Artikel 24.2 des Gesetzes über die Pressefreiheit vom 29. Juli 1881 bestraft."

Dieses Gesetz kennt jeder Franzose; denn unzählige überall an Gebäuden aufgepinselte Plakatierverbote verweisen darauf: "Défense d'afficher. Loi du 29 juillet 1881". Wer offenen Auges durch eine französische Stadt geht, der kann es kaum vermeiden, auf dieses Gesetz aufmerksam zu werden.

Es regelte in der Tat die Pressefreiheit - oder sagen wir, es reguliert sie. Auf sehr französische Weise, mit vielen, vielen Vorschriften. Jede periodische Publikation, so bestimmt es beispielsweise der Artikel 7, muß den Behörden mitgeteilt werden, einschließlich des Namens der Druckerei; und dies muß per Einschreiben geschehen und vom Herausgeber unterschrieben. Von jeder publizierten Nummer müssen dem zuständigen Gericht oder dem zuständigen Bürgermeisteramt zwei vom Herausgeber unterzeichnete Exemplare zugesandt werden, dazu zehn ebenfalls signierte Exemplare dem Informationsministerium in Paris.

Nun gut, das ist Bürokratie. Aber das Gesetz steckt auch voller Einschränkungen der Pressefreiheit (die überwiegend später hinzugefügt wurden). Wer Gerichte, die Landarmee, die Luftwaffe oder die Marine oder die die Allgemeine Verwaltung diffamiert, wird mit Geldstrafe belegt, so bestimmt es der Artikel 30. Artikel 31 erweitert das auf die Bediensteten von Ministerien, die Mitglieder der Parlamente, alle vom Staat bezahlten Geistlichen usw. Geschützt werden (Artikel 35.3) beispielsweise auch Beschuldigte, die nicht in Handschellen im Bild gezeigt werden dürfen.

Verboten ist die Beschreibung eines Verbrechens, wenn dadurch die Würde des Opfers verletzt wird (Artikel 35.4); die Beleidigung eines fremden Staatsoberhaupts, Regierungschefs oder Außenministers (Artikel 36), und so weiter und so fort. Ein Gruselkabinett von Einschränkungen der Pressefreiheit, das lustigerweise unter der Überschrift "Gesetz über die Freiheit der Presse" zu besichtigen ist. (Ich empfehle jedem, der Französisch liest, die Lektüre dieses Gesetzes).


Das jetzt verabschiedete Gesetz nun also nimmt Bezug auf den Artikel 24.2 dieses Gesetzes vom 29. Juli 1881, in seiner durch die Loi Fabius-Gayssot aktualisierten Version. Diese besagt:
Seront punis des peines prévues par le sixième alinéa de l'article 24 ceux qui auront contesté, par un des moyens énoncés à l'article 23, l'existence d'un ou plusieurs crimes contre l'humanité tels qu'ils sont définis par l'article 6 du statut du tribunal militaire international annexé à l'accord de Londres du 8 août 1945 et qui ont été commis soit par les membres d'une organisation déclarée criminelle en application de l'article 9 dudit statut, soit par une personne reconnue coupable de tels crimes par une juridiction française ou internationale. Zu deutsch: "Wer auf eine der in Artikel 23 genannten Weisen die Existenz eines oder mehrerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, wie sie durch den Artikel 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals als Anhang zur Londoner Vereinbarung vom 8. August 1945 definiert sind, und sofern sie gemäß Artikel 6 des genannten Status von den Mitgliedern einer als als verbrecherisch erklärten Organisation oder von einer Person begangen wurden, die durch französische oder internationale Gerichtsentscheidungen eines solchen Verbrechens für schuldig erkannt wurden, der wird mit der in Artikel 24, Absatz 6 festgelegten Strafen bestraft."
Bestimmt wird also, daß niemand das leugnen darf, was das Nürnberger Tribunal festgestellt hat. Dieses Verbot nun wird durch das jetzige Gesetz auf den Völkermord ausgeweitet, der 1915 an Armeniern begangen wurde.

Ich beschreibe jetzt zuerst die Vorgeschichte dieses Gesetzes; dann die Umstände seiner Verabschiedung und seine Kommentierung, die skandalös sind.


Vorgeschichte: Es gibt in Frankreich eine Tradition dessen, was légifération heißt. Man kann das mit Gesetzgebungswut oder auch Verrechtlichung übersetzen. In der jakobinischen Tradition, in der Tradition des Code Napoléon, im Grunde in der Tradtion der römischen Rechtsversessenheit, neigt man in Frankreich dazu, alles von Staats wegen zu regeln, was sich nur von Staats wegen regeln läßt. Das Vertrauen in die Fähigkeit der Bürger, ihre Angelegenheiten selbst zu handhaben, ist in Frankreich so gering wie in kaum einem Staat der freien Welt.

In dieser Tradition hat sich die französische Nationalversammlung immer angemaßt, per Gesetz festzulegen, wie die Franzosen die Geschichte zu sehen haben. Ein Beispiel ist die LOI n° 2005-158 du 23 février 2005 portant reconnaissance de la Nation et contribution nationale en faveur des Français rapatriés, das "Gesetz zur Anerkennung der Nation und nationaler Beitrag zugunsten der repatriierten Franzosen". In Artikel 4 dieses Gesetzes heißt es: Les programmes scolaires reconnaissent en particulier le rôle positif de la présence française outre-mer, notamment en Afrique du Nord, et accordent à l'histoire et aux sacrifices des combattants de l'armée française issus de ces territoires la place éminente à laquelle ils ont droit. Zu deutsch: "Die Lehrpläne der Schulen berücksichtigen insbesondere die positive Rolle, die Frankreichs überseeische Anwesenheit, insbesondere in Nordafrika, gespielt hat, und sie widmen der Geschichte und den Opfern der Soldaten der französischen Armee, die aus diesen Territorien stammen, den herausragenden Platz, auf den sie ein Anrecht haben."

Also, die Verdienste der Harkis sollen in den Schulen gewürdigt werden. Und das beschließt in Frankreich die Nationalversammlung! Politiker legen fest, was die historische Wahrheit ist.


Und so hat die französische Nationalversammlung aiuch per Mehrheitsbeschluß festgelegt, was 1915 den Armeniern angetan wurde. Das tat sie nicht jetzt, sondern bereits mit dem Gesetz vom 29. Januar 2001, das lakonisch feststellt: Article unique. La France reconnaît publiquement le génocide arménien de 1915. "Einziger Artikel. Frankreich anerkennt öffentlich den Genozid an den Armeniern 1915."

Bizarr, nicht wahr? "Frankreich" beschließt, daß sich ein bestimmtes geschichtliches Ereignis abgespielt hat. Und hierauf bezieht sich jetzt das aktuelle Gesetz.



Dessen Befürworter verweisen völlig zu Recht darauf, daß sie nur das strafbewehren wollen, was ohnehin schon 2001 gesetzlich festgestellt worden war. Und nun kommt der Gesetzesskandal: Kaum jemand in Frankreich widerspricht. Widerspricht jedenfalls im Namen der Meinungsfreiheit, der Freiheit der Forschung. Sondern man drückt sich. Michel Debré, der Präsident, der Nationalversammlung, der bei allen wichtigen Gesetzen präsidiert, ist absent. Ebenso sind es die meisten Abgeordneten. Debré läßt sicht durch die Vizepräsidentin Hélène Mignon vertreten, eine Sozialistin. (Das Gesetz wurde von den Sozialisten eingebracht). Die Regierungspartei UMP ist schlicht abwesend.

Am Ende wurde das Gesetz mit 106 gegen 19 Stimmen verabschiedet. Die Nationalversammlung hat 577 Abgeordnete.

Gab es einen Aufschrei der Empörung? Haben die Franzosen sich dagegen gewehrt, daß ihnen die Nationalversammlung vorschreibt, wie sie die Geschichte zu sehen haben?

Nicht im Geringsten. Ja, es gab Kritik an dem Gesetz. Und die macht den eigentlichen Skandal aus, den Gesetzesskandal. Zwar haben einige, zum Beispiel Jean-Marcel Bouguereau im Nouvel Observateur milde getadelt, daß "La France légifère", daß Frankreich alles durch Gesetze regeln will. Aber ein confrére von Bouguereau, ein Leitender Redakteur des "Nouvel Observateur", hat in einer Diskussion in LCP (einem TV-Sender ähnlich dem deutschen Phoenix) gesagt, man müsse nun einmal das unterdrücken (réprimer), was dem Gleichgewicht (équilibre) der französischen Gesellschaft schade. So denkt die französische Linke.

Auch Staatspräsident Chirac hat sich gegen das Gesetz gewandt. Und zwar, indem er mit Erdogan telefoniert hat, um ihm zu sagen - laut Erdogan -, er sei vraiment désolé, wirklich entsetzt also, über dieses Gesetz. Chiracs Büro bestätigt nur, er habe bei diesem Telefonat das Gesetz inutile genannt, nutzlos.

Nutzlos. Etwas viel Gesetzgeberei, zu viel légiferation. Das ist die Kritik in Frankreich. Daß es inakzeptabel ist, grundsätzlich, unbedingt, Menschen ihre Meinung zu verbieten - das spielt in dieser französischen Diskussion, im Land der Liberté, kaum eine Rolle.


So auch die EU. Sie hat das Gesetz bedauert - im Hinblick auf die Reaktion der Türkei. Nicht wegen der Verletzung elementarer Freiheitsrechte.

Und die französische Regierungspartei UMP hat das Ganze - in einem Akt unfreiwilliger Satire - auf die Spitze getrieben: Es gab einen Änderungsantrag der von der UMP unterstützt, aber nicht angenommen wurde. Danach soll gelten: Ces dispositions ne s'appliquent pas aux recherches scolaires, universitaires ou scientifiques. Die Vorschriften des Gesetzes sollen nicht für schulische, universitäre, wissenschaftliche Untersuchungen gelten.

Mit anderen Worten: Den Bürgern verbietet der Staat den Mund. Aber den Wissenschaftlern gewährt er immerhin Freiheit.

18. Oktober 2006

Armut (1): Autobiographisches

Den Begriff der "Unterschicht" möchte Arbeitsminister Müntefering vermeiden. Gestern erklärte er gar, es gebe keine Schichten in Deutschland. Gegen den Begriff "Armut" scheint sich eine solche Skepsis hingegen nicht zu regen. Die gestrige Presse ist voller Schlagzeilen wie "Koalition streitet über Ursachen der neuen Armut" und "Tiefensee fordert deutlichere Schritte gegen Armut".

Daß "Armut" ein mindestens so problematischer Begriff ist wie "Unterschicht", wird kaum zur Kenntnis genommen. Eine Ausnahme ist wieder einmal die FAZ, die darauf hinweist, daß "Armut ein relativer Begriff" sei und daß die zu ihrer Definition herangezogenen Grenzen "auf gesellschaftlich gesetzten Konventionen" beruhten und "in dieser Hinsicht willkürlich gegriffen" seien.

In der Tat. Was meinen wir überhaupt mit "arm"? Damit befaßt sich diese Serie. Ich beginne mit Autobiographischem.



Bei Ende des Zweiten Weltkriegs lebten meine Eltern in Thüringen und damit zunächst in der amerikanischen Besatzungszone. Als Thüringen und Westsachsen im Juli 1945 von den USA an die Russen als Besatzungsmacht übergeben wurde, sahen sie sich - es gab Gerüchte, es gab Beispiele - zunehmend in Gefahr, als Ärzte in die Sowjetunion deportiert zu werden. Es gelang erst meinem Vater, dann dem Rest der Familie, in den Westen zu fliehen. Dort kamen wir in einem kleinen Dorf unter, durch Vermittlung entfernter Verwandter meiner Großeltern.

Meine Großeltern und Eltern waren "ausgebombt" worden, dh sie hatten keinen materiellen Besitz mehr. Sie hatten kleine Ersparnisse, von denen wir lebten. Ein Einkommen gab es nicht; mein Vater konnte immerhin unentgeltlich in einem Krankenhaus als Assistenzarzt arbeiten, um sich fortzubilden.

Die sechsköpfige Familie wohnte in einem einzigen Raum. Er war allerdings relativ groß, nämlich der Schulraum einer ehemaligen Zwergschule. Mit Bretterverschlägen hatten meine Eltern ihn aufgeteilt, in zwei oder drei Teilbereiche. Die Möbel bestanden überwiegend aus Kisten, die man zweckentfremdet und umgebaut hatte; noch Jahrzehnte später sprach mein Vater von unserer "Kistenkultur". Geheizt werden konnte wenig. Im Winter waren wir auch in der Wohnung dick eingemummelt in Pullover, Decken usw. Aber eine gewisse Menge an Heizmaterial war doch irgendwie organisiert worden, so daß wir nie froren. Hauptsächlich hatte man wohl im Wald Kleinholz gesammelt, aber ich erinnere mich auch an einen Holzstoß neben dem Haus, aus Scheiten aufgebaut, die mein Vater gehackt hatte.

Unser Essen bestand im wesentlichen aus Kartoffeln, Gemüse, Brot und Quark, für uns Kinder dazu Haferschleim und Lebertran. Wenn die Felder abgeerntet waren, gingen wir "Ähren lesen" - die liegengelassenen Kornähren wurden aufgesammelt, zerstoßen, zu Eßbarem verarbeitet. Fett lieferten Bucheckern, die in umfangreichen Sammelaktionen jeden Herbst aufgesammelt und ausgepreßt wurden.

Von dem Bauern bekamen wir Kinder Äpfel, gelegentlich ein Stück Wurst. Manchmal luden sie uns ein, und wir durften große Scheiben Bauernbrot essen, das unglaublicherweise mit Butter und Zwetschgenmarmelade, der "Latwersch", bestrichen war. Wenn ein Schwein geschlachtet wurde, dann wurden wir Kinder während des Schlachtvorgangs eingesperrt, um nichts davon zu sehen (wir hörten aber die Todesschreie des Schweins), und danach gab es für alle - auch uns Städterkinder - Metzelsuppe und richtiges Fleisch, das Wellfleisch. Bilder zeigen mich als schmales und blasses, aber keineswegs unterernährtes Kind.



Bücher hatten meine Eltern kaum "gerettet"; wohl nur etwas Fachliteratur. Aber es gab eine Tageszeitung, anhand deren ich mit vier Jahren lesen lernte. Ich habe sie schon bald vermutlich gründlicher gelesen als die Erwachsenen; viel anderes war ja nicht zu tun. Ein "Volksempfänger" war auch gerettet oder wiederbeschafft worden, für den mein Vater eine endlos lange Antenne in vielfachem Hin und Her unter der Zimmerdecke gezogen hatte.

Irgendwie besorgten meine Eltern auch, als sie meine Leselust bemerkt hatten, das eine oder andere Kinderheft - "Puh der Bär", die "Bunte Kiste". Spielzeug hatten wir Kinder nicht, außer einem Teddybären, der die Ausbombung überlebt hatte, Bauklötzen und einem irgendwie aus der Reformpädagogik stammenden Spiel, bei dem man Zylinder in die passenden Röhren stecken mußte. Ein kreativeres Spiel war es, aus dem Lehm, den es um das Haus herum gab, Figuren zu formen.

Einmal kam ein "Zirkus" ins Dorf - dh eine Zigeunerfamilie, deren Darbietungen mit Ponies, Feuerschluckerei und Drahtseilakten meine kindliche Phantasie danach über Monate beschäftigte. Wir hatten "Freikarten" bekommen, weil meine Großmutter am Tag zuvor zwei bettelnden Familienmitgliedern ("zwei bildhübsche Zigeunerinnen" sagte sie immer wieder) Mehl geschenkt hatte. Einmal wurde im Dorfgasthaus ein "Tonfilm" gezeigt, vom Gemeindediener zuvor ausgerufen. Es war ein Micky-Maus-Film, in dem Micky auf einer endlosen Bohnenranke zum Mond kletterte.

Das waren die materiellen und ideellen Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, bis ich in die Schule kam. Etwa zur selben Zeit gelang es meiner Mutter, die "Niederlassung" für eine ärztliche Praxis zu bekommen, wir zogen in eine Kleinstadt, und es gab die Währungsreform. Danach war nichts mehr wie zuvor. Das Wirtschaftswunder begann auch für uns.



Ich habe das beschrieben, um deutlich zu machen, wie unklar der Begriff "Armut" ist.

Wir waren eben damals nicht arm, denn wir mußten nicht hungern, hatten ein Dach über dem Kopf, brauchten nicht zu frieren, hatten durch meine Eltern ärztliche Versorgung. Wir lebten an der Grenze zur Armut, aber eindeutig diesseits.

Armut - das bedeutete damals, nicht das Notwendige zum Leben zu haben. Das hat es in allen Kulturen, über die Jahrtausende bedeutet. Das bedeutet es auch heute noch für die meisten Menschen in den meisten Ländern der Welt: Hungern zu müssen, frieren zu müssen, keine ärztliche Versorgung zu haben, vielleicht nicht einmal eine Unterkunft.

Nur in einigen Teilen der Welt - in den USA, in Europa vor allem - hat sich ein Armutsbegriff herausgebildet, der mit dieser überkommenen Bedeutung des Worts kaum noch etwas gemeinsam hat. Als "arm" werden heute Menschen bezeichnet, deren Kinder nicht an Unternährung leiden, sondern an Fettleibigkeit; deren Problem nicht darin besteht, daß sie nichts außer der Tageszeitung zu lesen haben, sondern daß sie zuviel fernsehen und am Computer spielen. Menschen, die nicht nur ein Dach über dem Kopf haben, sondern denen der Staat ihre Wohnung bezahlt.

Es sind Menschen am unteren Rand der Gesellschaft; keine Frage. Aber sind sie "arm"?

Das ist das Thema der folgenden Teile dieser Serie: Es geht um statistische und andere Definitionen von "Armut"; zunächst aber um das, was wir konnotativ, assoziativ mit diesem seltsamen, emotional hoch geladenen Wort "arm" verbinden.

17. Oktober 2006

Gedanken zu Frankreich (1): Die konformistischen Individualisten

Wer im Deutschland der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre als Individualist gelten wollte, der versah sich oft mit Französischem: Er rauchte Gauloises, bot seinen Gästen Beaujolais an, fuhr einen 2CV (oder, wenn wohlhabend, einen Citroen DS), begeisterte sich für Juliette Gréco und jene Barbara, die in Göttingen mit einem Riesenerfolg auftrat. Er richtete sich philosophisch an Sartre und Camus aus, schätzte die mageren Gestalten, die Bernard Buffet malte, und die blauen Kleckse von Yves Klein. Er liebte die Filme von Jean-Luc Godard, François Truffaut und jenes jungen Claude Chabrol, der noch keine Krimis drehte, sondern Weltschmerz-Filme wie "Les cousins".

Reiste ein solcher Individualist nach Frankreich, dann machte er in der Regel zwei ernüchternde Entdeckungen: Erstens gab es dort in Massen Leute mit jenen seinen Attributen des Individualismus. Nun ja, damit war wohl zu rechnen gewesen. Aber es stellte sich noch etwas anderes heraus, zumindest mit Blick auf viele dieser Attribute: Es war gerade der französische Spießer, Monsieur Dupont, der die "Ente" fuhr (zumal in ihrer Kombi-Version - dem Auto der Krämer, Lieferanten, kleinen Handwerker). Es waren die Kleinbürger, die Rotwein tranken und Gauloises rauchten. Während die französischen Gegenstücke unseres deutschen Individualisten vielleicht einen Austin Mini fuhren, Mentholzigaretten rauchten und belgisches Bier jedem Rotwein vorzogen.

Hielt sich der deutsche Individualist länger in Frankreich auf, dann dämmerte ihm wahrscheinlich noch eine dritte, ihn nun wirklich treffende Erkenntnis: Seine Überzeugung, Frankreich sei "ein Land von Individualisten", erwies sich als ein Klischee, ein ziemlich grobes Vorurteil. Er sah Schüler in Schuluniformen, ganztags beschult, am Jeudi Libre, dem freien Donnerstag, von ihren Nannies im Jardin du Luxembourg sozusagen immer noch im Gleichschritt ausgeführt. Er knüpfte vielleicht Kontakte zu den Studenten des Quartier Latin - fast alle im selben Dress Code, mit Cordhose, Rollkragenpullover, randloser Brille. Zwar heftig diskutierend, aber nur über die richtige Variante des Sozialismus. Kurz, Menschen mit ausgeprägter sozialer Angepaßtheit, das Gegenteil von Individualisten.

Allmählich lernte er, unser deutscher Individualist, vielleicht auch verstehen, wie erbarmungslos die französische Gesellschaft ihrer Elite jede individualistische Neigung austreibt, wie sie sie von Jugend an auf Konformität trimmt. Gewiß, die jungen Leute sollen sich ruhig a bisserl revolutionär geben. Das gehört dazu, ein Aspekt des Hörnerabstoßens sozusagen. Aber spätestens mit Mitte zwanzig ist das vorbei, wenn sich die jungen Leute normal entwickeln. Sie werden dann zu angepaßten Spießern, linken und rechten.

Und die eigentliche Elite stellt sich schon mit achtzehn, neunzehn Jahren auf die Karriere ein, büffelnd auf der École Normale Supérieure, der École Polytechnique oder der École Normale d'Administration, der berühmten ENA, aus der fast die gesamte politische und administrative Elite Frankreichs hervorgeht.



Ja, natürlich - was ich bisher beschrieben habe, das ist meine eigene Erfahrung als frankophiler junger Mann gewesen. Der es allerdings vielleicht ein wenig leichter hatte als manche andere, ein realistisches Frankreich-Bild zu bekommen: Besaß er doch einen Patenonkel, der als deutscher Regierungsbeamter langjährig in Paris stationiert war, bei der damaligen OEEC, einer der organisatorischen Keimzellen der heutigen EU. Dieser Onkel machte sich ein gewisses bissig-freundliches Vergnügen daraus, dem jungen regelmäßigen Gast ein wenig den Kopf zu waschen und ihm seine allzu naiv-frankophilen Flausen auszutreiben.

Frankophil war er freilich selbst, jener Onkel, nur mit einem Schuß Zynismus und einer kräftigen Portion Realismus. Er hatte sich täglich mit dem französischen Bürokratismus, dem unbedingten Nationalismus französischer Staatsdiener herumzuschlagen, und er hatte es im Lauf der Jahre gelernt, auch im Privatleben mit dem französischen Konformismus, der Staatsgläubigkeit der Bürger und der Anmaßung der Fonctionnaires fertigzuwerden.

Daß Frankreich das "Land der Freiheit" sei, wie das sein naiver junger Patensohn dachte, konnte ihm folglich nur ein Lächeln entlocken. Dennoch liebte er dieses Land - freilich aus ganz anderen Gründen. Wegen der Hochschätzung von Kultur und Wissenschaft, quer durch die ganze Gesellschaft. Wegen der Klarheit und Rationalität, mit der nicht nur die Gebildeten dort argumentieren. Dergleichen. Seine Liebe zu Frankreich hatte wohl einen ähnlichen Charakter wie die von, sagen wir, Ernst Jünger und Carlo Schmid. Nicht die der zottelbärtigen Studenten, die sich am "Existenzialismus" begeisterten.



Ist es also schlicht irrig, das Klischee von der Freiheitsliebe und vom Individualismus der Franzosen? Nein, natürlich nicht. Klischees stimmen ja fast immer. Nur stimmen sie eben nicht ganz. Sie verallgemeinern, sie vergröbern, sie betonen das eine und lassen das andere weg.

Das gilt generell für die kognitiven Schemata, auf die wir freilich nun einmal angewiesen sind, um uns die Welt zu ordnen. Es gilt besonders für nationale Stereotype. Nationen haben ja schon ihre charakteristischen, oft über den Gang ihrer Geschichte hinweg sogar recht stabilen Züge. Aber diese bestehen eher in Dimensionen, zwischen deren Extrempolen sie sich bewegen, als in Merkmalen. Solche Pole sind beim deutschen Nationalcharakters zum Beispiel sensible Innerlichkeit und großkotzige Bramarbasiererei. Die des amerikanischen Nationalcharakters rücksichtsloser Egoismus und eine echte Überzeugung, anderen helfen zu sollen und zu können. Sentimentalität und Grobheit bei den Russen, Prüderie und Ausschweifung bei den Briten, Eigenbrödlerei und Brüderlichkeit bei den Skandinaviern - es lassen sich leicht solche Pole von Dimensionen finden, die einen Nationalcharakter kennzeichnen.

Und so ist es eben auch bei den Franzosen. Das Klischee vom freiheitsdurstigen Individualisten stimmt ebenso, wie Staatsgläubigkeit, Konformismus, Überbürokratisierung die französische Gesellschaft charakterisieren. Zwischen diesen Polen bewegt sich die französische Gesellschaft, zwischen ihnen lokalisiert sich das Denken von Monsieur Dupont und Madame Dupond.

Im nächsten Beitrag will ich das an einem aktuellen Beispiel illustrieren: Ausgerechnet das Parlament dieses Landes, das Voltaire verehrt wie einen Nationalheiligen, hat sich gerade die Verabschiedung eines Gesetzes geleistet, das auf eine nachgerade unglaubliche Weise in die Meinungsfreiheit und in die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung eingreift.

28. September 2006

Notiz

Bis Mitte Oktober, vielleicht etwas darüber hinaus, bin ich im Urlaub. Daß es mich in dieser Zeit irgendwann überkommt, aus einem Internet-Café heraus einen Beitrag abzuschicken, kann ich nicht ausschließen, will es aber auch nicht androhen. Kommentare können in dieser Zeit leider nicht freigeschaltet werden.

Wer - was ich ohnehin sehr empfehlen möchte - täglich in die Aggregierten Blogs schaut, ist auf dem Laufenden.

Allen, die hier mitlesen, herzlichen Dank für ihr Interesse!

Zettel

Übrigens. Kurzinfos über die zwanzig aktuellen Blogs gibt es hier, und Zusammenfassungen älterer Blogs sind, thematisch geordnet, hier zu finden. Falls jemand die Pause zum Stöbern nutzen möchte ;-)

27. September 2006

Ein Mann tritt für die Freiheit ein

Die Berliner Opernaffäre ist bisher so verlaufen, wie solche Affären - die Rushdie-Affäre, der Karikaturenstreit, der Streit um den Papst - fast ritualisiert verlaufen. Die Positionen, die Argumente sind bekannt. Eine Gruppe von Kommentatoren fordert mehr oder weniger vehement, daß wir nicht gegenüber den Islamisten einknicken. Die anderen raten zum Dialog und zum Vermeiden von Provokationen, ja zur Entschuldigung, wie jüngst die New York Times dem Papst. Nur die Proportionen variieren. Diesmal scheinen die Beschwichtiger eher in der Minderheit zu sein.

Ansonsten hat man bei der jetzigen öffentlichen Diskussion den Eindruck, denselben Film schon wieder im Programm zu finden; diesmal - gerade war ja erst der Papst-Streit - mit einer Wiederholungslatenz, wie man sie bei einem TV-Sender als Zumutung empfinden würde.

Also eigentlich kein Thema; jedenfalls nicht für diesen Blog, so schien es mir bisher. Meine Meinung zur Sache ist kurzgefaßt in diesem Thread in "Zettels kleinem Zimmer" zu lesen: Ich bin für den Dialog, und just deshalb gegen jede Zensur oder Selbstzensur.



Nun hat diese Sache aber heute einen Aspekt bekommen, der mich nun doch zu einer Anmerkung veranlaßt. Gregor Gysi hat sich zu Wort gemeldet, und zwar in der Welt.

Gysi schreibt zunächst das, was im Augenblick die meisten schreiben, nämlich:
Es ist daher eine falsche Reaktion, die Oper aus Angst vor Anschlägen abzusetzen, zumal sie bereits ein Jahr lang aufgeführt wurde, ohne dass es darüber erregte öffentliche Reaktionen oder gar Anschlagsdrohungen gegeben hätte.
Schön. Dann aber wechselt er das Thema:
So falsch die Absetzung der Oper auch ist, so wenig glaubwürdig sind die Aufgeregtheiten der Bundeskanzlerin und weiterer Vertreter der Bundesregierung und anderer Politiker. Sie schüren permanent Ängste vor dem islamischen Terrorismus. Die Gefahren werden immer wieder dargestellt, im gleichen Atemzug wird versucht, die grundgesetzlich gebotene Trennung von Polizei und Geheimdiensten aufzuheben und die Bundeswehr auch im Innern einzusetzen. Je größer die Terrorgefahr, desto größer auch die Versuchungen der Bundesregierung, Eingriffe in Freiheits- und Bürgerrechte durchzusetzen.

In einer wie dargestellt erzeugten gesellschaftlichen Atmosphäre der Angst vor dem islamistischen Terrorismus dürfen sich die genannten Politikvertreter nicht wundern, ...
Und so weiter. Gysi möchte die Schuld bei den üblichen Verdächtigen sehen.



Vor der Versuchung, "Eingriffe in Freiheits- und Bürgerrechte durchzusetzen", warnt uns also Gregor Gysi. Er macht sich Sorgen darum, daß die "grundgesetzlich gebotene Trennung von Polizei und Geheimdiensten" aufgehoben werde.

Hier ist tabellarisch die Biographie von Gregor Gysi zu lesen. Mit noch nicht zwanzig Jahren trat er 1967 der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands bei. Als die DDR unterging, hatte er es laut diesem biographischen Überblick zum "Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte Berlin und des Rates der Vorsitzenden der Anwaltskollegien der DDR" gebracht.

Mit anderen Worten, er war der Oberste aller Rechtsanwälte der DDR, die bekanntlich Organe der sozialistischen Rechtspflege waren. In einem System wie dem der DDR war es völlig ausgeschlossen, daß ein Genosse eine solche Schlüsselposition erreichte, der nicht das volle Vertrauen der Staats- und Parteiführung gehabt hätte.

Daß Gysi sich jemals in seiner Funktion in der DDR um "Eingriffe in die Freiheits- und Bürgerrechte" gesorgt hätte, ist nicht bekannt. Ebensowenig ist bekannt, daß er, als er in dieser einflußreichen Position als oberster Rechtsanwalt war, für eine Trennung von Polizei und Geheimdiensten eingetreten wäre.



Als die DDR-Diktatur endete, war Gysi kein unerfahrener junger Mann. Er war über vierzig. Er hatte Zugang zu Westmedien, er konnte sich informieren. Er kannte das diktatorische System der DDR, er kannte die Institutionen, die Rechtsgarantien, die Freiheiten in der Bundesrepublik. Er hat sich für die DDR entschieden. Anders als die Dissidenten hat er diese DDR nicht in Richtung Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu verändern versucht, solange er das hätte tun können. Jedenfalls gibt es dafür keine Anzeichen.

Und nun fühlt ausgerechnet dieser Mann sich berechtigt, vor Eingriffen in die Freiheits- und Bürgerrechte zu warnen. Und er attackiert dabei eine Kanzlerin, die, anders als er, als DDR-Bürgerin ihre Arbeit nie in den Dienst des Regimes gestellt hat.



Er hat sich gewandelt, Gregor Gysi? Er hat erkannt, daß die ersten Jahrzehnte seines politischen Lebens ein einziger Irrtum gewesen waren, daß er einer Diktatur gedient hatte? Er verurteilt jetzt das, woran er zwanzig Jahre geglaubt hatte? Vielleicht.

Aber selbst wenn: Kann denn jemand, der selbst so eklatant als Demokrat versagt hat, nicht wenigstens zu Fragen der demokratischen Freiheitsrechte schweigen?

"Menschliches Versagen" und "Antiquiertheit des Menschen"

Die Unfallstelle des Transrapid war noch nicht geräumt, da wußten die Staatsanwälte in Osnabrück laut Presse schon, wie es zu dem Unglück gekommen war. Noch am Freitag, dem Tag des Unglücks, meldete die FAZ: "Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß "menschliches Versagen" das Unglück ausgelöst hat." Und am selben Tag wurde das Geschehen auch schon in seinen wirtschaftlichen Zusammenhang eingebettet. So schrieb der Tagesspiegel unter der Überschrift "Der Faktor Mensch":
Das furchtbare Unglück im Emsland ereignete sich zu einer Zeitpunkt, als der Bundesverkehrsminister in Peking gerade Gespräche über einen weiteren Ausbau der Bahnlinie zum Flughafen von Schanghai führte. Dass Wolfgang Tiefensee seinen Besuch in China abbrach, nachdem er von der Katastrophe erfuhr, war ein Gebot des Respekts vor den Opfern und ihren Angehörigen. Ein Eingeständnis technischen Versagens der Magnetschwebebahn kann man daraus nicht ableiten. Nach allem, was wir zur Stunde wissen, ist das Unglück auf menschliches Versagen zurückzuführen.
Nichts wußte man in Wahrheit "zur Stunde", also am Abend des Tags, an dem sich das Unglück ereignet hatte. Auch jetzt, nach mehr als einer halben Woche, weiß man noch nicht, wie es dazu gekommen ist. Die Rekonstruktion von Unfällen ist immer aufwendig und langwierig, weil ein Unglück nicht seine eine "Unfallursache" hat, wie sie im Polizeibericht steht ("Unfallursache war überhöhte Geschwindigkeit"), sondern weil es aus der kausalen Verkettung vieler Faktoren entsteht.



Inzwischen gibt es Äußerungen von Leuten, die es auch nicht wissen, die aber immerhin in Betracht ziehen, daß "menschliches Versagen" noch keine erschöpfende Antwort auf die Frage ist, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Heute schreibt die FAZ:
Auch der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Winfried Hermann, geht von fehlenden Sicherheitsvorkehrungen auf der Transrapid-Strecke aus. Er sagte am Dienstag in einem Radiointerview: "Es ist zumindest nicht nur menschliches Versagen, sondern auch technisches Mangelwerk, muß man fast sagen." Auf welche "sich verdichtenden Hinweise" er sich genau stützt, wurde allerdings nicht deutlich.
Und auch die Staatsanwaltschaft Osnabrück scheint sich jetzt darauf zu besinnen, daß sie die Aufgabe hat, eine Untersuchung zu führen, und nicht deren Ergebnis forsch vorwegzunehmen. Aus demselben Artikel:
Die Rekonstruktion des genauen Unfallhergangs kann nach Angaben der Staatsanwaltschaft Osnabrück noch lange dauern. (...) Experten des Eisenbahnbundesamtes prüfen das Sicherheitskonzept der Versuchsanlage (...) Die Ermittlungen werden derzeit mit der Befragung von Zeugen des Unglücks fortgesetzt.


Was diese Ermittlungen ergeben, das werden wir in einigen Wochen, vielleicht einigen Monaten wissen. Aber die armen Menschen, denen schon am Tag des Unglücks "menschliches Versagen" zugeschrieben wurde, werden diesem Makel nicht mehr loswerden. Zusätzlich zu dem fürchterlichen Leid, das das Geschehen dieses Tags für sie ohnehin bedeutet.




Im Titel dieses Beitrags stehen zwei auf den ersten Blick sehr disparate Begriffe. Ich versuche jetzt, die Verbindung zwischen ihnen sichtbar zu machen.

"Die Antiquiertheit des Menschen" ist das Hauptwerk von Günther Anders, eine Sammlung von Einzeluntersuchungen. Zitiert wird meist seine Medienkritik. Aber der erste Band beginnt mit einem aus meiner Sicht weitaus originelleren Kapitel, das auch den Titel des Werks am besten illustriert: "Über prometheische Scham". Dort arbeitet Anders den Gedanken aus, daß der Mensch im Zeitalter dessen, was er die Zweite Industrielle Revolution nennt, zunehmend hinter den von ihm geschaffenen Geräten zurückbleibt und er in die Situation gerät,
die von den Geräten verlangt wird: durch die der Gerätebedienung. (...) die Schwierigkeiten der Bedienung: die der Einarbeitung, die des immer drohenden Versagens, schließlich die des effektiven Versagens, die gehören ja zur Bedienungssituation wesentlich dazu. (...) Und obwohl er dort, wo das Gerät herrscht, nun nichts mehr zu suchen hat und fehl am Ort ist, hat er doch an seinem Platz zu verweilen, weil nicht dazusein, gleichfalls über seine Kräfte geht.
Anders zieht hieraus weitgespannte anthropologische Konsequenzen; man kann seine Beschreibung aber auch sehr konkret-praktisch verstehen: Die Arbeitssituation des Menschen, der mit Maschinen zu tun hat, überfordert ihn im Grunde ständig. Sie überfordert ihn deswegen, weil er - sein Körper, sein Gehirn - nicht dazu "ausgelegt" ist, die "Anforderungen" zu erfüllen, die diese Geräte stellen.



Dazu gehört, daß Menschen fehleranfällig sind. Insofern ist der Mensch, technisch betrachtet, eine Fehlkonstruktionen; Günther Anders zitiert einen Offizier, der den Menschen als halt "faulty", als nun mal fehlerhaft, bezeichnet hat.

Wir machen ständig Fehler; im Kontext unserer technischen Umwelt und nach deren Normen. Wir machen sie zwangsläufig deshalb, weil die Funktionsmerkmale unseres Gehirns sich in einem ganz anders beschaffenen Handlungskontext entwickelt haben, in dem das, was unter den heutigen Bedingungen fehlerhaft ist, adaptiv gewesen war. Wenn man einen Speer schleudert, dann kommt es nicht auf die präzise Flugbahn an; wenn man den Trajectory einer Rakete berechnet, sehr wohl. Wenn dem Steinzeitjäger, der einem Beutetier nachsetzte, ein unerwartetes Hindernis begegnete, dann konnte er es umgehen oder überwinden. Wenn einem Transrapid ein unerwartetes Hindernis begegnet, dann gibt es keine Ad-Hoc-Abhilfe.



"Menschliches Versagen" begleitet alles, was wir in der, sagen wir, Kooperation mit technischen Geräten tun. Beim Schreiben dieses Textes unterläuft mir ständig menschliches Versagen in Gestalt von Tippfehlern. Das Verhalten eines Formel-1-Piloten wimmelt nur so von menschlichem Versagen - er kommt von der Ideallinie ab, schätzt den Abstand zu einem Konkurrenten falsch ein, so daß er ihn mit seinem Auto berührt, berücksichtigt die Nässe der Fahrbahn zu wenig und so weiter.

Der ganze Reiz derartiger Veranstaltungen besteht im Grunde im Auftreten solcher Fälle von menschlichem Versagen. Gäbe es sie nicht, dann könnte man die Leistungsfähigkeit der einzelnen Autos messen und danach ein Computerprogramm die Reihung beim Zieleinlauf berechnen lassen.

Nun sind aber menschliche Fehler oft folgenreich. Verhindern kann man sie nicht. Also besteht die Kunst des Sicherheitsingenieurs, des Softwareergonomen darin, ihre Folgen zu neutralisieren.

Jeder von uns vertippt sich. Wenn ein Tippfehler oder eine Fehlpositionierung der Computermaus zum Löschen einer Datei führen würde, dann läßt das aber der Softwareergonom nicht zu. Er baut eine Sicherheitsfrage ein. Er sorgt dafür, daß auch eine gelöschte Datei wiederherstellbar ist, und so fort.

Ebenso ist es bei Nuklearkraftwerken, bei der Eisenbahn und eben auch beim Transrapid. Die Sicherheitstechnologie dient wesentlich dazu, es sicherzustellen, daß menschliche Fehler keine katastrophalen Folgen haben.

Die Fehler sind nicht vermeidbar; sie liegen in unserer menschlichen Natur. Vermeidbar ist aber, daß sie größeren Schaden anrichten.



Wenn es in einem solchen komplexen System wie einem Nuklearkraftwerk oder einer Transrapid-Versuchsstrecke zu "menschlichem Versagen" mit katastrophalen Folgen kommen konnte, dann bedeutet das also zwangsläufig das Versagen von Sicherheitsvorrichtungen.

Oder anders gesagt: "Menschliches Versagen" und "mangelnde Sicherheitsvorrichtungen" sind keine Alternativen. Sondern menschliches Versagen kann sich in genau dem Maß fatal auswirken, in dem die Sicherheitsvorrichtungen unzureichend sind.

25. September 2006

Randbemerkung: Was ist schlimm an niedriger Wahlbeteiligung?

In Niedersachsen sind gestern die Oberbürgermeister einer Reihe von Großstädten und einige Regionspräsidenten gewählt worden. Diese Stichwahlen fanden überall dort statt, wo im ersten Wahlgang niemand die absolute Mehrheit erreicht hatte. Dazu meldet die Hannoversche Neue Presse:
Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) zeigte sich mit den Ergebnissen der Stichwahlen zufrieden. "Wir freuen uns, dass wir in Oldenburg und Salzgitter den Wechsel geschafft haben", sagte Wulff am Abend in Hannover. (...) Auch der Chef der SPD-Landtagsfaktion, Wolfgang Jüttner, wertete die Stichwahlen insgesamt als Erfolg für die Sozialdemokraten. "Wir haben allen Grund, mit dem Tag zufrieden zu sein", sagte er.
Zufrieden sind sie, Wulff und Jüttner, offenbar darüber, daß mal (wie in Oldenburg) ein Schwarzer einem Roten, mal (wie in Göttingen) ein Roter einem Schwarzen den Oberbürgermeistersessel abgenommen hat.

Die SPD war auch in der Region Hannover zufrieden: Wie die Hannoversche Allgemeine berichtet, setzte sich dort der SPD-Kandidat Hauke Jagau mit 58,5 Prozent durch. "'Uns ist es gelungen, noch einmal zu mobilisieren und so den Vorsprung zu halten. Das ist das Verdienst der Partei', sagte Jagau", so lesen wir es in der Hannover'schen Allgemeinen.



Wie sah diese Mobilisierung aus? Ein paar Zeilen später erfahren wir es: 27,7 Prozent der Wahlberechtigen gingen in der Region Hannover zur Wahl. In der Stadt Hannover waren es 23,3 Prozent.

Wir rechnen: 58,5 Prozent von 27,7 Prozent macht 16,2 Prozent. Sechzehn komma zwei Prozent der Wahlberechtigten haben also Hauke Jagau zum hannoverschen Regionspräsidenten gewählt. Welch eine Mobilisierung!



Über niedrige Wahlbeteiligungen zu lamentieren ist zur Mode geworden. Sie werden als Ausdruck von "Wahlmüdigkeit", von "Politikverdrossenheit" interpretiert. Manche sehen gar schon eine Krise unserer Demokratie heraufziehen.

Wieso eigentlich? Wenn viele Bürger es nicht der Mühe wert finden, zur Wahl zu gehen, dann deutet das darauf hin, daß sie geringe Unterschiede zwischen den Parteien oder Kandidaten sehen.

Was ist daran schlimm? In den meisten demokratischen Rechtsstaaten geht es heute glücklicherweise nicht jedesmal gleich um eine "Richtungsentscheidung", wie einst in der Weimarer Republik mit ihren oft extrem hohen Wahlbeteiligungen.

Gerade in alten, gut funktionierenden Demokratien ist das so. Die großen Parteien sind sich dort meist in den großen Fragen einig und unterscheiden sich nur in der Akzentsetzung - die Demokraten und die GOP in den USA, die sozial angehauchten Konservativen und die liberalen Blair-Sozialisten in GB, die Sozialdemokraten und die sogenannten bürgerlichen Parteien in Schweden.

Das weist auf einen Konsens der Bürger hin, auf politische Stabilität. Der Souverän entscheidet so, wie ein Aufsichtsrat einen Vorstand bestimmt: Man gibt denjenigen den Vorzug, die weniger verbraucht, die ideenreicher, die besser zur Lösung der aktuellen Probleme geeignet erscheinen. Es geht nicht, wie früher einmal, um einen Kampf der Weltanschauungen, gar um "Klasseninteresse".

Manchmal ergeben sich dennoch polarisierende Situationen. Und dann schnellen auch die Wahlbeteiligungen nach oben. Neunundziebzig Prozent bei den Bundestagswahlen 2002, fast achtundsiebzig Prozent drei Jahre später. Eine ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung bei den letzten US-Präsidentschaftswahlen.



Dies gesagt - die geringe Wahlbeteiligung bei kommunalen Stichwahlen scheint mir dennoch auf ein Problem hinzuweisen. Kein fundamentales wie "Politikverdrossenheit", sondern eher ein pragmatisches.

Warum überhaupt Stichwahlen? Weil man möchte, daß derjenige als Sieger hervorgeht, auf den sich eine Mehrheit einigen kann, auch wenn er nicht bei allen die erste Präferenz genießt. Bei der Hauptversammlung eines Vereins zum Beispiel macht das Sinn: Die beiden Bestplazierten treten im zweiten Wahlgang gegeneinander an. Derjenige, der dann den anderen schlägt, hat die Mehrheit hinter sich. Jedenfalls keine Mehrheit gegen sich. Er ist nicht unbedingt der Favorit der Mehrheit, aber die Mehrheit kann mit ihm am besten leben.

Aber bei einer Hauptversammlung ist eben die Wahlbeteiligung kein kritischer Faktor. Wenn zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang - wie bei deutschen Kommunalwahlen üblich - die Wahlbeteiligung drastisch abrutscht, dann schlägt die Logik der Stichwahl in ihr Gegenteil um: Der im zweiten Wahlgang Gewählte hat dann in der Regel nicht mehr, sondern sogar weniger Wähler hinter sich, als wenn schon im ersten Wahlgang mit relativer Mehrheit eine Entscheidung getroffen worden wäre.

Wenn die Wahlbeteiligung nur noch bei einem Viertel der Wahlberechtigten liegt, dann gewinnt am Ende derjenige, dessen Partei nicht die meisten Unentschlossenen überzeugen, sondern die meisten sicheren eigenen Wähler an die Urnen bringen konnte - die Parteimitglieder also, ihr Umfeld.

Das ist nicht der Sinn demokratischer Wahlen, und schon gar nicht rechtfertigt es den organisatorischen Aufwand eines Zweiten Wahlgangs.

24. September 2006

Arabiens Misere (3): Das Erbe des Osmanischen Reichs

Die arabische Misere ist nicht eine Folge des Islam, sondern der Islamismus ist umgekehrt wesentlich eine Folge der arabischen Misere nach dem Scheitern des arabischen Sozialismus. Das war die Hauptthese des vorausgehenden Beitrags. Daß der Islam nicht ursächlich für diese Misere ist, erhellt auch daraus, daß islamische Staaten außerhalb des Nahen bzw. Mittleren Ostens ja durchaus am Aufstieg Asiens partizipieren. Malaysia zum Beispiel - ein Land, in dem der Islam Staatsreligion ist - ist seit Anfang der siebziger Jahre laut World Factbook vom Rohstoffproduzenten zu einer sich entwickelnden multisektoriellen Wirtschaft geworden. Die Wachstumsrate betrug nach derselben Quelle 4,9 Prozent im Jahr 2003, mehr als 7 Prozent 2004 und 5 Prozent 2005. Das BSP pro Kopf der Bevölkerung liegt bei 12100 Dollar (geschätzt für 2005 - zum Vergleich: Syrien und Ägypten jeweils 3900 Dollar).



Es gibt also kaum Belege dafür, daß es der Islam ist, der Arabien daran hindert, dem Beispiel anderer Teile Asiens zu folgen und sich auf den Weg zum modernen, kapitalistischen Industriestaat zu machen. Was aber dann?

Der gescheiterte arabische Sozialismus, gewiß. Aber aus einem gescheiterten Sozialismus kann ja auch gerade neue Wachstumsdynamik hervorgehen, wie China und Osteuropa, wie Indien und inzwischen auch Vietnam zeigen. Was sind die Besonderheiten Arabiens, die bisher dort eine solche Entwicklung verhindert haben?

Eine einfache Antwort kann es natürlich nicht geben. Es könnten politische und kulturelle Traditionen eine Rolle spielen, gesellschaftliche und psychologische, geographische und klimatische Faktoren, wirtschaftsgeschichtliche Besonderheiten wie der traditionelle Schwerpunkt beim Handel; natürlich auch religiöse Unterschiede zwischen den nahöstlichen und den fernöstlichen Spielarten des Islam.

Solche Faktoren und ihre komplexen Wechselwirkungen zu untersuchen ist Sache der Fachleute; ich will und kann mich da nicht beteiligen. Ich möchte aber auf einen Umstand aufmerksam machen, der eine Rolle spielen könnte, und von dem ich den Eindruck habe, daß er kaum gewürdigt wird: Die Geschichte im 19. Jahrhundert.



Hier ist eine Weltkarte vom Ende des 19. Jahrhunderts. Wie üblich sind die britischen Kolonien hellrot und die französischen Kolonien violett eingezeichnet. Tiefrot findet man das niederländische, hellbraun das deutsche Kolonialreich usw.

Man sieht das weltumspannende Netz dieser Kolonien - und mitten darin sozusagen eine koloniale Lücke: den Nahen und Mittleren Osten. Vom Balkan bis nach Afghanistan erstreckt sich ein Band von in der Karte braun gezeichneten Staaten, die in der Legende als "Mohammedanische Reiche" bezeichnet werden. Es sind im wesentlichen das Osmanische Reich, Persien und Afghanistan. Asiatische Staaten, die niemals zu europäischen Kolonialreichen gehörten.

Das ist diejenige Region Asiens, die - mit Ausnahme der Türkei - heutzutage den Sprung in die Moderne nicht zu schaffen scheint, sondern die im Gegenteil vom Islamismus bedroht ist. Eine Koinzidenz? Gut möglich. Aber es könnte auch sein, daß hier ein wesentlicher Faktor liegt.



Der heutige Erfolg großer Teile Asiens basiert wesentlich darauf, daß sie es geschafft haben oder auf dem Weg dazu sind, auf der Basis einer sich immer mehr liberalisierenden Wirtschaft hochwertige Güter herzustellen und Dienstleistungen anzubieten, die international konkurrenzfähig sind. Das ging nur durch die Übernahme westlicher Technologie, westlicher Management-Methoden, vor allem aber der Disziplin, der Arbeitsmoral, der Effizienz, wie sie im westlichen Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet wurden.

Träger dieser Entwicklung waren und sind Eliten, die westlich orientiert sind - oft mit Englisch oder Französisch als Muttersprache, mindestens als Zweitsprache. Menschen, die in der westlichen Kultur ebenso verwurzelt, jedenfalls zu Hause sind wie in ihrer Nationalkultur. Englisch ist nicht nur in Indien Verkehrssprache, sondern auch in vielen anderen Ländern Asiens; die Eliten auch des kommunistischen Vietnam, von Laos und Kambodscha sind kulturell geprägt durch die französische Kolonialzeit.

Und die Länder Arabiens? Deren Kolonialherr war jahrhundertelang das rückständige Osmanische Reich. Es gab für einige von ihnen kurze Mandatszeiten nach dem Ersten Weltkrieg; es hatte gelegentliche britische Besatzungen gegeben, wie in Ägypten. Aber es hat sich nicht über ein Jahrhundert hinweg eine Elite herausgebildet, die wesentlich durch die westliche Kultur geprägt wurde.

Ein wesentlicher Faktor, der vielen Ländern Asiens den Eintritt in die Moderne, das Aufschließen zu Europa und Nordamerika erleichtert, fehlt also weitgehend. Gewiß gibt es Araber, die in Europa oder den USA studiert haben; gewiß gibt es - wie jetzt im Irak - heimgekehrte Emigranten. Aber das sind einzelne Personen, nicht eine ganze Schicht, wie beispielsweise in Indien die britisch geprägte Oberschicht.



Nochmals gesagt: Ich bin fern davon, zu behaupten, das sei der einzige oder auch nur der Hauptfaktor für den Rückstand Arabiens. Anderen Ländern ohne koloniale Vergangenheit - Japan, China, der Türkei - ist es gelungen, durch eine große Kraftanstrengung (Japan schon im 19. Jahrhundert, China unter der Kuomintang, die Türkei durch die eiserne Herrschaft Kemal Atatürks) den Weg in die Moderne zu beschreiten. Ländern mit kolonialer Vergangenheit, wie den meisten Afrikas, ist das andererseits bisher nicht gelungen.

Aber dies zugestanden - ist es nicht verwunderlich, daß das, was eine koloniale Vergangenheit an positiven Folgen doch zumindest nach sich gezogen haben könnte, in der heutigen Globalisierungsdiskussion so wenig beachtet wird?



© Zettel. Links zu allen drei Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Lawrence of Arabia, 1919 gemalt von Augustus John. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.

23. September 2006

Randbemerkung: Ein Mann schafft sich Respekt

Auf einer islamistischen WebSite wird gegenwärtig eine Videoaufnahme gezeigt, die schon einmal Anfang August 2004 zu sehen gewesen war. Darauf ermordet ein vermummter Mann, flankiert von zwei Kumpanen, einen Gefangenen. Einen Bericht darüber findet man beispielsweise in der Washington Post. Man erfährt dort, daß das Video Freitag Nacht auftauchte, genau zum Beginn des Ramadan.

Neu gegenüber der alten Version ist, daß jetzt der Name des Mörders genannt wird: Abu Ayyub al-Masri, Nachfolger von Abu Musab al-Zarkawi als Anführer der El Kaida im Irak.

Diese Meldung ist gegenwärtig auch in Spiegel-Online zu lesen.

Die dortige Redaktion hat allerdings einen Vorspann hinzugefügt, der, soweit ich das prüfen konnte, keiner Agenturmeldung entstammt, sondern offenbar das Werk von Spiegel-Online ist:
Der neue Chef der Qaida im Irak, Abu Ajjub al-Masri, scheint sich Respekt verschaffen zu wollen. Ein im Internet veröffentlichtes Video soll den Nachfolger Sarkawis bei der Tötung einer türkischen Geisel zeigen.
"Respekt verschaffen" schreibt Spiegel-Online. Ein Mörder verschafft sich dadurch "Respekt", daß er einem wehrlosen Entführten mit drei Kugeln das Gehirn aus dem Kopf schießt!



Was mag sich der SPON-Redakteur gedacht haben, der für diese Formulierung verantwortlich ist?

Wollte er sein Entsetzen über die verkommene Moral einer Mörderbande zum Ausdruck bringen, deren Anführer sich bereits dadurch "Respekt" verschaffen kann, daß er einen gefesselten, hilflosen Menschen abschlachtet? Wollte er darauf hinweisen, daß die in nahezu jeder Kultur am meisten verachtete Tätigkeit, die des Henkers, in der pervertierten Sicht der El Kaida jemanden zum Anführer qualifiziert?

Ich würde mich freuen, wenn es so wäre. Ich fürchte aber, der Redakteur, der das geschrieben hat sich gar nichts dabei gedacht.



Wie auch immer - das Entscheidende fehlt in der Meldung von SPON, wie auch in Meldung der Washington Post. Man findet es in der Jerusalem Post, die den Mord beschreibt, wie er auf dem Video zu sehen ist:
The militants stand behind a man wearing a tan shirt who is silent while al-Masri reads from a paper, criticizing companies and people working with the US military.

"Although we have urged Muslims around the world and in Turkey, in particular, ... they insist, including this apostate," al-Masri said in Arabic.

The hostage, reading from a statement in Turkish that is translated into Arabic by subtitles, identifies himself as Murad Buger, an employee of a Turkish company subcontracting for a Jordanian company that provides services to US military bases.

"I have seen the injustice of the Americans with my own eyes but I stayed for few dollars," Buger said, adding, "torture is intensifying in Abu Ghraib (prison)." He also urged Turkish companies to withdraw from Iraq.

Al-Masri then shoots Buger in the head three times.
Es geht also augenscheinlich nicht darum, daß der Anführer der Mörderbande "sich Respekt verschafft". Sondern es geht den Mördern wieder einmal darum, Angst unter denjenigen zu verbreiten, die am Aufbau des neuen Irak mitarbeiten.



Das ist es ja, was "Terrorismus" definiert: Terroristen kämpfen nicht gegen ihren Gegner. Die El Kaida liefert der irakischen Armee oder der US-Armee keine Gefechte. Sondern Terroristen versuchen eben das zu verbreiten, was das lateinische terror bedeutet - Furcht, Schrecken.

Nicht um Respekt geht es ihnen. Sondern um Entsetzen.