In seinem Artikel auf Zeit-Online "Warum ein Veggie Day liberal ist" analysiert wenn auch nicht so, wie der Autor sich das vorgestellt hat.
Laut Gohl habe die FDP in ihrer Oppositionsphase von 1998 bis 2009 das Regieren verlernt und sei zu einer reinen "Dagegen-Partei" verkommen, die ein "Profil als konservative Wirtschaftspartei zuspitzte" um "den Protest einer 'vergessenen Mitte' zum Leitthema" zu erheben. Das hätte bei vielen innerhalb der FDP inhaltlich Unterstützung erlangt. Zwar habe die FDP 2009 damit öffentliches Gehör gefunden, aber dabei vernachlässigt "sozialpolitisch und rechtsstaatlich progressiv zu sein". Das habe in vielen Anderen ein Unbehagen ausgelöst, weshalb die FDP bei vielen als siechender Arm des CDU-Wirtschaftsflügels wahrgenommen und deshalb letztlich abgewählt worden wäre. Als Beleg zitiert Gohl eine Forsa-Studie nach der 60% der abgewanderten FDP-Wähler die Partei für einen "verlängerten Arm der Wirtschaft", Rückwärtsgewandt und nicht Zukunftsfähig hielten.
Er schließt daraus, die FDP dürfe sich nicht mehr als "defensive,[...] konservative Schutzmacht einer 'vergessenen Mitte'" sehen (er setzt "vergessene Mitte" dabei explizit in Anführungsstriche). Sie müsse beginnen Freiheit nicht nur quantitativ und als "Stoppschild, das die Unabhängigkeit des Einzelnen schützt" zu betrachten, was nur zur "PR-Posse" tauge, sondern stattdessen qualitativ. Das sei "anspruchsvoll, weil Freiheit dann nicht in einer Größe, sondern in vielen Formen existier[e], lebensweltlich, kulturell und zeitgeschichtlich in unterschiedlichen Ausprägungen." Das habe den Vorteil, dass man lernen könnte Freiheit "zu gestalten".
Da hierbei der Mensch im Mittelpunkt stehe und nicht Umweltschutz, Klassenkampf und Traditionen, würde dies ausreichend Distanz zu Grünen, SPD und CDU wahren.
Er kommt zu dem Schluss
Eine solche liberale Partei wäre eine wertorientierte Reformpartei. Sie verstünde sich als politischer Partner mündiger Menschen, die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen können – und als Anwalt souveräner Bürger in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die auch Verantwortung für ihre Mitwelt, Umwelt und Nachwelt tragen wollen. Sie erwarten vom Staat, dass er sie in Ruhe, aber niemals im Stich lässt. Mit der CDU könnte eine solche FDP Ordnung und Verantwortung im Land stärken, sich mit der SPD um faire Chancen kümmern oder mit den Grünen Nachhaltigen Fortschritt anstreben.
Kommentar: Gohls Ausführungen bieten eine nachvollziehbare Erklärung für das Scheitern der FDP.
Die Unabhängigkeit des Einzelnen zu schützen taugt aus seiner Sicht nur zur PR-Posse, Freiheit wird daher nun irgendwie anders definiert. Was genau bleibt im Ungefähren und Vagen, aber auf jeden Fall soll es qualitativ sein. Die Unabhängigkeit des Einzelnen ist zu schlicht, nicht intellektuell genug:
Vertreter quantitativer Freiheit wollen immer mehr Freiheit und weniger Intervention: "Je mehr Freiheit, desto besser." Also: Protest gegen den Veggie-Donnerstag mit einer Bratwurst in der erhobenen Hand, als sei es die Freiheitsfackel. Dagegen kommt für Freunde qualitativer Freiheit die Qualität vor der Quantität – also: "Je besser die Freiheit, desto mehr davon."
Die Bratwurst, wie schlicht, wie ungehobelt, wie unfein, wie Stammtisch, wie unintellektuell. Freiheit soll "besser" sein, es soll darum gehen die richtige Freiheit (oder Freiheit zum Richtigen?) zu mehren. Was das ist muss natürlich erst einmal erkundet werden, was Raum für schöngeistiges, wie tiefgründiges Philosophieren liefert:
Qualitative Freiheit dagegen erfordert Reflexion – Freiheit als Leitbild beim Arrangement von gegenseitigen Abhängigkeiten. Das ist die Tradition der Aufklärung.
Und es ist anspruchsvoll, weil Freiheit dann nicht in einer Größe, sondern in vielen Formen existiert, lebensweltlich, kulturell und zeitgeschichtlich in unterschiedlichen Ausprägungen.
Die Freiheit des Einzelnen, ausgestaltet und definiert von Vordenkern, wie Christopher Gohl.
Was es genau heißt "als Anwalt souveräner Bürger in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die auch Verantwortung für ihre Mitwelt, Umwelt und Nachwelt tragen wollen" zu agieren, was nicht schon eine andere Partei in ihrem Blick hat, wird nicht klar. Das liegt auch daran, dass zuvor jedes Unterscheidungsmerkmal, nämlich eine klare Definition der Freiheit als Schutz der eigenen Autonomie vor Vorschriften mit Hilfe des Gewaltmonopols, zugunsten eines Freiheitsbegriffes als Joker für die Lenkung des Einzelnen durch die Definitionsmacht des Wahren und Schönen durch das Kleinbürgertum aufgegeben wurde - durch den Teil des Kleinbürgertums, der Zeit und Muße für ausführliche, ausschweifende, philosophische Debatten hat.
"Der individuelle Mensch in seiner Einzigartigkeit" als Hauptwert der Partei würde jeder Programm- und Wahlkampfstratege der anderen Parteien unterschreiben können und die Frage mit welcher konkreten Bedeutung dieses wohlklingende Ziel gefüllt werden soll, welche die anderen Parteien nicht unterschreiben könnten, bleibt unbeantwortet.
Sie erwarten vom Staat, dass er sie in Ruhe, aber niemals im Stich lässt. Mit der CDU könnte eine solche FDP Ordnung und Verantwortung im Land stärken, sich mit der SPD um faire Chancen kümmern oder mit den Grünen Nachhaltigen Fortschritt anstreben.
Das zwischen diesen Zielen und ihrem ideologischen Hintergrund ein Widerspruch stehen könnte, der sich nicht so einfach auflösen lässt, kommt Herrn Gohl nicht in den Sinn. So liefert Gohls Beitrag eine Erklärung für das Verhalten und den Niedergang der FDP. Die FDP als Wohlfühlpartei, die sich mit jeder anderen Partei wunderbar versteht, dabei das beste von allem (widersprüchlichen) repräsentiert, das ist offenbar die Utopie in der FDP-Parteizentrale gewesen. Everybody's darling wollte man sein, bei jedem beliebt und hoch angesehen, als intellektuelle Spitze jeden Wertes und jeder Strömung, Perfektion der dialektischen Aufhebung aller Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Leitwerten.
Und das hält man in der FDP-Parteizentrale für Liberalismus. Denn Christopher Gohl, der heute "weltbürgerlichen Ethos in Wirtschaft und Demokratie" an der Universität Tübingen lehrt, war zuvor in der FDP-Parteizentrale tätig. Und zwar nicht als irgendwer, sondern als Leiter der Abteilung Politische Planung, Programm und Analyse von 2011 bis 2012. Er hat mit Christian Lindner und Patrick Döring das aktuelle Grundsatzprogramm der FDP erarbeitet.
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