29. Oktober 2013

Die Freiheit, die er meint – Eine Replik auf Christian Lindner


Einen Gastbeitrag in Deutschlands Intelligenzblatt Nummer 1 veröffentlichen zu dürfen – das ist außerparlamentarische Opposition der Premium-Klasse: Christian Lindner, der Hoffnungsträger einer ansonsten weniger de luxe als vielmehr de profundis agierenden FDP, hat sich nicht lumpen lassen und zu dem Thema Stellung genommen, das den deutschen Blätterwald derzeit unheilschwanger rauschen lässt.

In einigen Punkten kann ich Lindner ohne weiteres zustimmen: Das Recht auf Privatsphäre und auf Unverletzlichkeit einer (vermeintlich) unter vier Augen oder vier Ohren geführten Kommunikation ist in der Tat eine fundamentale Freiheit. Und die Vorratsdatenspeicherung stellt zweifelsohne einen Bruch mit rechtsstaatlichen Prinzipien dar, impliziert sie doch einen Generalverdacht zu Lasten der Nutzer von Telekommunikationsdiensten. Auch der Kritik an Bundesinnenminister Friedrichs absurder Phantasie eines Sicherheits-Supergrundrechts pflichte ich vollumfänglich bei.

Andere Äußerungen Lindners reizen jedoch zu einer dissentierenden Replik: So wird etwa zu Beginn des Artikels behauptet, dass der Lauschangriff der NSA „immer […] ganz nach oben auf die politische Tagesordnung“ gehört habe.
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Ich könnte mich nicht erinnern, dass sich die FDP dieses Thema im verflossenen Bundestagswahlkampf in Versalien und Fettdruck auf die Fahnen geschrieben hätte. Ganz im Gegenteil: Die liberale Partei hat Pofallas Schlussstrich-Postulat weitgehend unwidersprochen hingenommen. Man muss Lindner allerdings zubilligen, dass eine späte, allenfalls auch durch das verheerende Wahlresultat stimulierte Erkenntnis besser ist als eine ganz und gar ausbleibende.
Gerade mit der Obama-Regierung wurden in Bürgerrechtsfragen viele Erwartungen verbunden. Doch sie hat massiv Vertrauen verspielt.
Die Fallhöhe liegt hier im Auge des – mit Verlaub – naiven Betrachters. Schon Obamas erste Amtszeit ließ ganz deutlich erkennen, dass der in der Präsidentschaftskampagne beschworene „Change“ ein kreißender Berg war, der dann doch nur ein kränkelndes Mäuslein gebar. In vielem hat der mit einem Vorschusslorbeerkranz Bedachte an die Politik seines in Europa so bedingungslos verachteten Amtsvorgängers angeknüpft. Die Eliten unseres Kontinents sollten sich eingestehen, dass sie das Weihrauchfass zu früh geschwenkt haben. Es ist ungerecht, Obama an den überzogenen Maßstäben zu messen, die ein in seinem manichäischen Weltbild verhaftetes Juste Milieu an ihn angelegt hat. Der Friedensnobelpreis des Jahres 2009 ist ein beschämendes Dokument der verzerrten Wahrnehmung, die eine notwendige Folge der selbstgewählten Isolation in ideologisch fest zugemauerten Elfenbeintürmen ist.
Amerika verfolgt eine unsentimentale, strikt an seinen Interessen orientierte Außenpolitik.
Welche Außenpolitik sollte es denn sonst verfolgen? Dass Staaten auf der Bühne des Weltgeschehens ihre Belange und ausschließlich ihre Belange vertreten, ist zumindest außerhalb Deutschlands eine Selbstverständlichkeit. Horst Köhler hat mit der Verkündung dieser Wahrheit eine Entrüstungslawine losgetreten, unter der seine Präsidentschaft letztlich begraben wurde.

Legen wir die Karten offen auf den Tisch: Militärische Einsätze wie jener in Mali werden uns in Zukunft noch öfter bevorstehen. Die Verhinderung der islamistischen Machtergreifung in einem afrikanischen Land erfolgt nicht aus Altruismus, sondern weil – gemäß einer bekannten lateinischen Spruchweisheit – es unsere Angelegenheit ist, wenn die Wand des Nachbarn brennt, insbesondere falls zu befürchten ist, dass das in Flammen stehende Bauwerk als Rekrutierungspool für hierzulande operierende Terroristen dienen oder den Massenexodus über das Mittelmeer noch weiter beflügeln könnte.
Es liegt auch in unserem ureigensten Interesse, im Pulverfass des Nahen Ostens einen Verbündeten zu haben, bei dem nicht zu befürchten steht, dass er morgen antiwestlich administriert wird. Der gleichsam geborene Kandidat für diese Alliiertenrolle wäre – übrigens unabhängig von allen historischen Erwägungen – natürlich Israel. Dass wir Europäer uns nicht dezidiert auf die Seite des jüdischen Staates schlagen, ist ein sicheres Zeichen für unsere mittlerweile virulente Unfähigkeit, nach den Regeln der internationalen Beziehungen zu spielen.
Ebenso wird im Zusammenhang mit einem möglichen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union kaum thematisiert, dass dieser Schritt für unseren Staatenverbund auch den Verlust eines der bestausgebauten diplomatischen Netzwerke des Globus bedeuten würde. Dass Botschaften im ewigen Konflikt der Länder dieser Erde nicht nur die Champagnerfront bilden, sondern auch für andere Zwecke verwendet werden können, dürfte ja gerade im Rahmen der NSA-Affäre für jedermann deutlich geworden sein.
Die Gespräche über ein transatlantisches Freihandelsabkommen haben ohne ein transatlantisches Datenschutzabkommen keinen Sinn. […] Freiheit steht vor Freihandel.
Der Nexus zwischen der Sinnhaftigkeit eines Freihandelsvertrages und dem Abschluss einer Datenschutzkonvention erscheint mir wenig belastbar. Ob Europa mit den USA den Abbau von Handelshemmnissen vereinbaren soll, richtet sich allein danach, ob uns dieser Pakt Wohlstandsgewinne bringt. Dies ist offensichtlich der Fall. Lindners Einlassung impliziert außerdem, dass Freihandel ein Aliud zur Freiheit darstellt. Ganz im Gegenteil: Freihandel ist ein Teil der Freiheit, auf den zu verzichten oder den unter eine aufschiebende Bedingung zu stellen ein Fehler wäre.
An anderer Stelle fordert Lindner selbst, dass „[u]nsere Reaktion […] ebenfalls auf Sentimentalitäten verzichten“ sollte. Dies ist vollkommen richtig. Wenn wir etwas für die Verbesserung der Lebensverhältnisse auf unserem Kontinent tun können, insbesondere auch in einem kriselnden Peripherie-Land wie Spanien, dann sollten wir dies nicht aus gekränkter Eitelkeit unterlassen.

Abschließend meint der FDP-Politiker, dass die auf den Datenschutz bezogene Leistungsbilanz der zu erwartenden Großen Koalition danach zu bemessen sei, ob sie „mit den Mitteln des Rechtsstaats gegen fremde Nachrichtendienste wie gegen Big Business im Internet“ angehe. Ebenso ist bereits zuvor von einer Kooperation zwischen „'Big Brother' und 'Big Data'“ die Rede.

Damit wird in das zeitgeistkonforme Horn gestoßen, dessen Obertonreihe das Glissando von staatlicher Auskundschaftung zu Datenverkäufen durch private Unternehmen zum populären Klischee werden lässt. Wenn ich Bedenken habe, dass ein Dienste-Anbieter mit den ihm übermittelten Angaben in der zugesicherten Weise umgeht, dann nehme ich von einer Vertragsbeziehung zu diesem Marktteilnehmer ganz einfach Abstand. Niemand zwingt mich, in einem sozialen Netzwerk meine Privatsphäre zur Schau zu stellen. Der (eigene oder fremde) Staat gibt mir hingegen überhaupt nicht die Möglichkeit, ihm meine Daten oder den Wortlaut meiner Kommunikation vorzuenthalten, es sei denn, ich nutze weder das Internet noch ein Telefon noch den traditionellen Postweg.

Die von Lindner zu Recht propagierte „Selbstbeschränkung des deutschen Staats“ (und freilich auch ausländischer Mächte) muss der Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen zum Schutz der Privatsphäre der Bürger sein. Wenn sich Gesetzgeber und öffentliche Gewalt dagegen entscheiden, den Souverän auszuspionieren, bleiben auch die Tentakel der sogenannten Datenkraken schlaffe, blutleere Ärmchen.

Vielleicht ist dieses Urteil voreilig, aber ich sehe in Lindners Einlassungen durchaus die Weichenstellung für eine sozialliberale Positionierung der FDP. Ich würde den Freidemokraten dringend empfehlen, sich in Klausur zu begeben, und zwar an eine entlegene Örtlichkeit ohne Internet und Handy-Empfang. Diese zeitlich begrenzte Thoreau-Nachfolge hätte weniger den Zweck, nicht ausgespäht zu werden; sie könnte vielmehr einer erratischen, von medialen Sirenengesängen betörten Partei als Katharsis und auch als Katalysator dafür dienen, dass sie zu sich selbst findet.  
Noricus


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