21. November 2006

Zettels Meckerecke: Die Sünden der Väter

"Nicht nachvollziehen" könne man, "daß Teile der Studenten von 68 an den chinesischen Halbgott glaubten", an Mao also. Das kann man heute im "Spiegel" lesen. Auf Seite 136 der aktuellen Nummer, in einer Kurzkritik der Mao-Sendung aus der Reihe "Die Großen Diktatoren", die am 14. November vom ZDF gesendet worden war.

Ich allerdings kann das sehr gut nachvollziehen. Kunststück: Ich habe es ja erlebt. Und es waren zwar "Teile" der Stundentenschaft insgesamt, die Mao verehrten, aber es war - jedenfalls zeitweilig - eine Mehrheit der politisch aktiven Studenten, die das taten.



Es dürfte ungefähr 1976 gewesen sein, daß die Pekinger Staatsoper eine Europa-Tournee machte. Es war die Zeit, als in China sich Kritik an der "Viererbande" zu regen begann, diese aber noch nicht entmachtet war. Im Repertoire war das Stück "Das rote Frauenbataillon", das im Auftrag von Maos Ehefrau Tschiang Tsching, einem Mitglied dieser Viererbande, komponiert und choreografiert worden war. Es verherrlichte eine angebliche Episode aus dem chinesischen Bürgerkrieg.

Die Truppe gastierte auch im Bochumer Theater. Es gab eine ungeheure Kartennachfrage. Irgendwie gelang es meiner Freundin und mir, Karten zu ergattern. Das überwiegend studentische Publikum feierte die Aufführung frenetisch. Es traten, wenn ich mich recht erinnere, am Rand der Aufführung deutsche Redner auf, die Mao und die Kulturrevolution priesen, unter stürmischem Beifall. Es herrschte Sportpalast-Atmosphäre.

Da saßen proportional mindestens so viele überzeugte Maoisten im Publikum, wie Goebbels im Sportpalast überzeugte Nazis vor sich gehabt hatte, und sie bejubelten die chinesische Dikatur mindestens so fanatisch. Es war beschämend. Es war erschreckend. Ich habe damals erstmals sozusagen sinnlich erlebt, was es bedeutet, wenn Menschen kollektiv politisch die Vernunft verlieren.



Also, es waren nicht ein paar Doktrinäre, die Anfang der siebziger Jahre Mao verehrten, sondern es war ein großer Teil der studentischen Linken. Sieht man von den Mitgliedern und Sympathisanten des von der DKP, also von der DDR gesteuerten "Spartakus" ab und den Jusos, zu denen ich damals gehörte, dann waren im Grunde fast alle linken Studenten - also eine Mehrheit der Studenten überhaupt - Maoisten; ob sie nun in einer der vielen maoistischen "Parteien" (der KPD/AO, der KPD/ML, dem KB, dem KBW und wie sie alle hießen) organisiert waren oder nicht.

Das "kleine rote Buch", die sogenannte Mao-Bibel, wurde in großer Auflage verkauft und verteilt. Die "Kulturrevolution" galt als die große Hoffnung des Sozialismus, angesichts der "Verkrustungen", die man dem real in Osteuropa existierenden Sozialismus attestierte. Daß in China die Roten Garden die Alten zum Teufel jagten, das gefiel diesen jungen deutschen Linken; viele mögen sich dergleichen für Deutschland ausgemalt haben.



Wie konnten große Teile einer studentischen Generation so besoffen sein von einer hanebüchenen Ideologie? Wie konnten Menschen, die vermeinten für Freiheit und Gerechtigkeit einzutreten, einer der barbarischsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts, vermutlich der unmenschlichsten überhaupt, zujubeln?

Wie konnten ausgerechnet diejenigen, die ihren Vätern vorwarfen, einer Diktatur nicht widerstanden zu haben, selbst zu begeisterten und unkritischen Anhängern einer nicht weniger schlimmen Diktatur werden?

Fragen, die man doch eigentlich an diese, an meine, Generation mit derselben Härte stellen sollte, mit der wir damals unsere Väter gefragt haben, wie sie denn Hitler zujubeln konnten.

Aber seltsam, diese Vergangenheitsbewältigung findet kaum statt. Diejenigen, die damals Maoisten und Spontis waren, brauchen sich offenbar nicht zu rechtfertigen - sie haben es zu Ministerämtern gebracht, sitzen in den Redaktionen, machen Filme und schreiben Romane. Viele verklären ihre maoistische (oder stalinistische; so verschieden war das ja nicht) Begeisterung als jugendlichen Idealismus. Andere zucken mit den Schultern; naja, man war damals halt unreif.

Warum zum Teufel lassen die Söhne und Töchter, teilweise inzwischen ja schon die Enkel und Enkelinnen derer, die damals so jämmerlich moralisch versagt haben (viel jämmerlicher als viele von denen, die unter dem Druck der Verhältnisse bei den Nazis mitgelaufen waren) diesen das durchgehen?