(Alle Bilder Parco Archeologico di Pompei)
Tod und Leben, nahe hier beisammen,
Aschenurnen neben Rosenflammen;
Jeder Morgen ist ein Blumenbringer,
Jeder Blick streift einen Totenzwinger.
Und den Trümmerrest von Architraven
Überdecken siegreich der Agaven
Bläulichgrüne, riesige Rosetten;
Auf dem Boden nackte Amoretten,
Tonfiguren, Statuettentrümmer;
Und ich frag mich: Ob nicht auch im Zimmer,
Wo ich Fremdling gestern übernachtet,
Eine Aschenurne eingeschachtet,
Da im Traum ein Weib mit Kahn und Ruder
Mich willkommen hieß als ihren Bruder?
Christian Wagner (1835-1918), "Im Garten des Albergo del Sole. Pompeji" (1906)
In seinem regelmäßigen Rechenschaftsbericht nach Weimar über die Abenteuer des "Maler Müller" im Land, wo die Zitronen blühen, schreibt Goethe, der sich nach zehn Jahren unablässiger Tätigkeit im Kabinett seines Großherzogs, wo er von den wöchentlichen Arbeitssitzungen nur insgesamt sechs versäumt hatte (zwei fielen mit einer Dienstreise zusammen), endlich eine kleine und anonyme Auszeit gegönnt hatte, am Dienstag, dem 13. März 1787 an seine
Confidante Frau von Stein: "Sonntag waren wir in Pompeji. - Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte. Ich weiß nicht leicht etwas Interessanteres." Aus der Tatsache, daß der Herr Geheimbde Rath weiter kein Wort über die Örtlichkeit verliert, darf man aber freilich schließen, daß er sich sehr wohl allerlei Interessanteres vorstellen konnte. Die Enge und Kleinheit der freigelegten Behausungen, die verwinkelten Gäßchen mit ihren Trittsteinen, die aufdringliche Tünchung der Wände in ihrem benehmenden dunklen Rotton, das bis heute unter "pompejanischem Rot" geläufig ist; die nicht selten ungeschlachten Proportionen der auf den Wandmalereien dargestellten Personen, das fettglänzende Grau, das oft dunkle Hauttöne andeutet, nicht zuletzt die Begattungsszenen auf den Fresken der "Lupanare," der öffentlichen Bordelle - all das konnte seinen am klassischen Ideal ausgerichteten Kunstsinn mit verschwimmendem Chiaroscuro, wie er es in den Kupferstichen seiner Studienzeit kennengelernt hatte, eigentlich nur beleidigen. Auch bei heutigen Betrachtern stellt sich beim Durchblättern von Bildbänden über die im Jahr 832 ab urbe condita von den pyroklastischen Lavaströmen des Vesuvs begrabenen Stadt am Golf von Neapel eher ein Gefühl von Beklemmung und Befremdung ein als ein ästhetischer Genuß - ein Eindruck, den übrigens Bauten und auch Gemälde aus der Anfangszeit der italienischen Frührenaissance oft hervorrufen, eine Art ästhetischer Atembeklemmung. Dennoch war die Entdeckung von Pompeji und dem benachbarten Herculaneum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Wendepunkt, weil sie einen unmittelbaren Einblick in die gelebte Alltagswirklichkeit der als Ideal verklärten Antike gestattete - und weil man an ihrem Beispiel zuerst die Techniken entwickelte, die diese handgreifliche Ans-Licht-Beförderung einer verlorenen Vergangenheit erst ermöglichte. In das Sortiment des bildungsbürgerlichen Kanons stieg die Stadt freilich erst im Lauf der neunzehnten Jahrhunderts auf - vor allem durch einen der größten "Bestseller" der frühen viktorianischen Zeit, Edward Bulwer Lytton "The Last Days of Pompeji" von 1834 (dessen frühe Popularität sich auch dem Zufall verdankt, daß wenige Monate nach dem Erscheinen des Buchs die Medien der Zeit voll von Berichten über einen neuen - wenn auch weitaus glimpflicher verlaufenen - neuen Ausbruch des Vesuvs berichteten. "Die letzten Tage von Pompeji" begründeten zwei Schulen der literarischen Vergangenheitsschau: zum einen den Historienroman, der sich an Topographie und dem Quellenstand und der historischen Forschung orientierte und die geschilderte Zeit nicht einfach als bunte Abenteuerkulisse benutzte (nach dem Muster von Alexandre Dumas pêres "Drei Musketiere") - und, weil sich Bulwers Roman auf das Schicksal und die drohende Verfolgung einer frühen christlichen Gruppe durch die heidnische Priesterschaft konzentriert, auf die Befestigung oder Evozierung des christlichen Ursprungs der westlichen Tradition, die durch den wissenschaftlichen Fortschritt wie auch die quellenkritische vergleichende Religionsforschung von zwei Seiten "unter Beschuß gekommen" war. Dieser Traditionsschiene verdanken sich spätere Beispiele des Genres, wie etwa Henryk Sienkiewicz' "Quo Vadis" (1896), Lew Wallaces "Ben Hur" (1880) oder auch Charles Kingsleys "Hypatia" (1853) - wobei Kingsley als anglikanischer Geistlicher seinen Strauß mit der katholischen Kirche in Gestalt des Bischofs von Alexandria ausficht, der den ungebildeten, abergläubischen Mob zum Mord an der antiken Philosophin aufstachelt.