周作人《历史》
天下最残酷的学问是历史,他能揭去我们眼上的鳞,虽然也使我们希望千百年后的将来会有进步,但同时将千百年前的黑影投在现在上面,使人对于死鬼之力不住地感到威吓。我读了中国历史,对于中国民族和我自己失了九成以上的信仰与希望。“僵尸,僵尸!”我完全同感于阿尔文夫人的话。世上如没有还魂夺舍的事,我想投胎是真的,假如有人要演崇弘时代的戏,不必请戏子去扮,许多角色都可以从社会里去请来,叫他们自己演。我恐怕也是明末什么社会里的一个人,不过有这一点,自己知道有鬼附在身上,自己谨慎了,像癞病患者一样摇着铃铛叫人避开,比起那吃人不餍的老同类或者是较好一点了吧。
Zhuo Zuoren, "Geschichte"
Die grausamste Wissenschaft auf der Welt (1) ist die Geschichte. Sie läßt uns die Schuppen von den Augen fallen. Sie schenkt uns zwar die Hoffnung, daß es auch noch in hundert Jahren oder in tausend Jahren Fortschritt geben kann, aber sie macht uns auch deutlich, daß die vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende ihre Schatten auf unsere Gegenwart werfen, und wir erschrecken vor der dämonischen Macht, die sie besitzen. Ich habe die chinesische Geschichte studiert, und ich habe neun Zehntel meiner Hoffnung und meines Glaubens an das chinesische Volk und an mich selbst eingebüßt. "Gespenster, Gespenster!" Ich kann Frau Alvings (2) Worten nur beipflichten. Vielleicht gibt es auf Erden keine Wiederauferstehung, aber ich glaube, eine Wiederverkörperung findet wirklich statt. Wenn man an einem Schauspiel aus der Vorzeit teilnehmen möchte, braucht man keine Schauspieler, die sich verkleiden; es reicht, Menschen aus unsere Gesellschaft zu nehmen und sie sich selbst spielen zu lassen. Ich fürchte, daß ich für meinen Teil einer jener Geheimgesellschaften am Ende der Ming-Zeit angehöre - freilich mit dem Unterschied, daß ich mir bewußt bin, daß ich ein Gespenst mit mir herumtrage. Ich bin vorsichtig, und läute eine Glocke wie ein Aussätziger, um andere auf Abstand zu halten. Ich hoffe, daß ich es damit etwas besser halte als diese Vorfahren, die nur eine unersättliche Gier nach menschlichem Fleisch antrieb (3).
* * *
Anmerkungen:
1. "Auf der Welt", 天下 (tiānxià), wörtlich "unter dem Himmel."
2. "Gespenster", 僵尸 (jiāngshī). Ein Wiedergänger. Die gebräuchliche chinesische Bezeichnung für ein Gespenst, einen Geist in unserem Sinne ist 鬼 (guǐ), wie in dem Satz 自己知道有鬼附在身上 (zìjǐ zhīdào yǒu guǐ fù zài shēnshang), "ich weiß, daß ich ein Gespenst mit mir herumtrage". Sh. den nachfolgenden Exkurs.
3. "Nach Menschenfleisch". 吃人不餍 (chī rén bù yàn). Das Motiv, die "alte", feudale chinesische Sozialordnung des Kaiserreichs in die Metapher des Kannibalismus zu fassen, wurde von Lu Xun in der seiner ersten bedeutenden Erzählung, "Tagebuch eines Wahnsinnigen" von 1918 in die chinesische (moderne) Literatur eingeführt, dessen Protagonist von den Wahnvorstellungen beherrscht wird, die Mitbewohner seines Dorfes hätten ihn als das nächste Opfer vorgesehen, und dem sich noch der harmloseste Umstand als Bestätigung dafür ausmalt. Durch das Aufgreifen der Metapher in der kommunistischen Propaganda seit den zwanziger Jahren wurde es bald zu einem Klischee.
* * *
《历史》 (Lìshǐ) erschien am 17. September 1928 in der Beijinger Zeitschrift 語絲 (Yǔsī, "Gesprächsfaden") als zwölfter Abschnitt einer kleinen Reihe von kurzen Prosareflektionen (wer hier gewisse Parallelen zu Walter Benjamins "Über den Begriff der Geschichte" ausmachen möchte, dürfte nicht falsch liegen). 語絲, Yusi, war eine literarische Wochenzeitschrift, die 1924 auf Betreiben von Lu Xun gegründet worden war; der Herausgeber war 梁遇春, Liang Yuchun (1906-1932); die erste Nummer erschien am 17. November 1924. Die Erscheinungsweise wurde bald auf zweiwöchentlich umgestellt. Hauptbeiträger waren neben Lu Xun sein Bruder Zhuo Zuoren, Lin Yutang, Qian Xuantong, Yu Pingbo und Liu Bannong. Die redaktionelle Ausrichtung war zunächst strikt neutral und vermied politische Themen (wenn man die strikte Ausrichtung an der "Volkssprache", dem Putonghua, als Medium des Ausdrucks, einmal als "unpolitisch" gelten lassen will). Nach dem "Massaker vom 18. März", als die Truppen der Beiyang-Regierung unter Zhang Zuolin 1926 bei einer Studentendemonstration 43 Demonstranten erschossen und mehr als zweihundert verwundeten, veröffentlichte das Blatt über Monate hinweg Augenzeugenberichte und engagierte Artikel, die die Regierung angriffen. Am 22. Oktober 1927, nach der Nummer 153 vom 22. Oktober 1927 verbot die Zensur das Magazin; ab der Nummer 154 erschien die Zeitschrift unter der Herausgeberschaft von Lu Xun in Shanghai.
(Titelseite der "Yusi")
Liang Yuchuns tragisch früher Tod mit 26 Jahren verdankt sich nicht dem politischen Chaos und der Gewalt der Warlord-Ära, sondern einer Scharlach-Infektion. Seine eigenen Prosatexte erschienen in Buchform gebündelt in 春醪集 (Chūn láo jí, "Frühlingswein-Episoden"), 1930 in Beijinger Verlag Běixīn Shūjú erschienen, und postum 1934 in dem Band 《泪与笑》 (Lèi yǔ xiào, "Tränen und Gelächter") im Verlag der Buchhandlung Kaiming. Bei Beixin erschienen auch seine Übersetzungen von Daniel Defoes "Moll Flanders" (1931), unter dem Titel 《荡妇自传》, Dàng fù zìzhuàn, "Lebensbericht einer Schlampe" (die zweite Ausgabe verwendete dann den transliterierten Titel 《摩尔弗兰德斯》 "Mó'ěr Fúlándésī"); ebenfalls 1931 die chinesische Übersetzung von Wsewolod Garschins "Die rote Blume", 《红花》 und postum 1934 die Übersetzung von Joseph Conrads "Lord Jim" (bei 商务印书馆 a.k.a The Commercial Press).
(Zhuo Zuoren)
周作人《历史》
天下最残酷的学问是历史,他能揭去我们眼上的鳞,虽然也使我们希望千百年后的将来会有进步,但同时将千百年前的黑影投在现在上面,使人对于死鬼之力不住地感到威吓。我读了中国历史,对于中国民族和我自己失了九成以上的信仰与希望。“僵尸,僵尸!”我完全同感于阿尔文夫人的话。世上如没有还魂夺舍的事,我想投胎是真的,假如有人要演崇弘时代的戏,不必请戏子去扮,许多角色都可以从社会里去请来,叫他们自己演。我恐怕也是明末什么社会里的一个人,不过有这一点,自己知道有鬼附在身上,自己谨慎了,像癞病患者一样摇着铃铛叫人避开,比起那吃人不餍的老同类或者是较好一点了吧。
Zhuo Zuoren, "Geschichte"
Die grausamste Wissenschaft auf der Welt (1) ist die Geschichte. Sie läßt uns die Schuppen von den Augen fallen. Sie schenkt uns zwar die Hoffnung, daß es auch noch in hundert Jahren oder in tausend Jahren Fortschritt geben kann, aber sie macht uns auch deutlich, daß die vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende ihre Schatten auf unsere Gegenwart werfen, und wir erschrecken vor der dämonischen Macht, die sie besitzen. Ich habe die chinesische Geschichte studiert, und ich habe neun Zehntel meiner Hoffnung und meines Glaubens an das chinesische Volk und an mich selbst eingebüßt. "Gespenster, Gespenster!" Ich kann Frau Alvings (2) Worten nur beipflichten. Vielleicht gibt es auf Erden keine Wiederauferstehung, aber ich glaube, eine Wiederverkörperung findet wirklich statt. Wenn man an einem Schauspiel aus der Vorzeit teilnehmen möchte, braucht man keine Schauspieler, die sich verkleiden; es reicht, Menschen aus unsere Gesellschaft zu nehmen und sie sich selbst spielen zu lassen. Ich fürchte, daß ich für meinen Teil einer jener Geheimgesellschaften am Ende der Ming-Zeit angehöre - freilich mit dem Unterschied, daß ich mir bewußt bin, daß ich ein Gespenst mit mir herumtrage. Ich bin vorsichtig, und läute eine Glocke wie ein Aussätziger, um andere auf Abstand zu halten. Ich hoffe, daß ich es damit etwas besser halte als diese Vorfahren, die nur eine unersättliche Gier nach menschlichem Fleisch antrieb (3).
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Anmerkungen:
1. "Auf der Welt", 天下 (tiānxià), wörtlich "unter dem Himmel."
2. "Gespenster", 僵尸 (jiāngshī). Ein Wiedergänger. Die gebräuchliche chinesische Bezeichnung für ein Gespenst, einen Geist in unserem Sinne ist 鬼 (guǐ), wie in dem Satz 自己知道有鬼附在身上 (zìjǐ zhīdào yǒu guǐ fù zài shēnshang), "ich weiß, daß ich ein Gespenst mit mir herumtrage". Sh. den nachfolgenden Exkurs.
3. "Nach Menschenfleisch". 吃人不餍 (chī rén bù yàn). Das Motiv, die "alte", feudale chinesische Sozialordnung des Kaiserreichs in die Metapher des Kannibalismus zu fassen, wurde von Lu Xun in der seiner ersten bedeutenden Erzählung, "Tagebuch eines Wahnsinnigen" von 1918 in die chinesische (moderne) Literatur eingeführt, dessen Protagonist von den Wahnvorstellungen beherrscht wird, die Mitbewohner seines Dorfes hätten ihn als das nächste Opfer vorgesehen, und dem sich noch der harmloseste Umstand als Bestätigung dafür ausmalt. Durch das Aufgreifen der Metapher in der kommunistischen Propaganda seit den zwanziger Jahren wurde es bald zu einem Klischee.
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《历史》 (Lìshǐ) erschien am 17. September 1928 in der Beijinger Zeitschrift 語絲 (Yǔsī, "Gesprächsfaden") als zwölfter Abschnitt einer kleinen Reihe von kurzen Prosareflektionen (wer hier gewisse Parallelen zu Walter Benjamins "Über den Begriff der Geschichte" ausmachen möchte, dürfte nicht falsch liegen). 語絲, Yusi, war eine literarische Wochenzeitschrift, die 1924 auf Betreiben von Lu Xun gegründet worden war; der Herausgeber war 梁遇春, Liang Yuchun (1906-1932); die erste Nummer erschien am 17. November 1924. Die Erscheinungsweise wurde bald auf zweiwöchentlich umgestellt. Hauptbeiträger waren neben Lu Xun sein Bruder Zhuo Zuoren, Lin Yutang, Qian Xuantong, Yu Pingbo und Liu Bannong. Die redaktionelle Ausrichtung war zunächst strikt neutral und vermied politische Themen (wenn man die strikte Ausrichtung an der "Volkssprache", dem Putonghua, als Medium des Ausdrucks, einmal als "unpolitisch" gelten lassen will). Nach dem "Massaker vom 18. März", als die Truppen der Beiyang-Regierung unter Zhang Zuolin 1926 bei einer Studentendemonstration 43 Demonstranten erschossen und mehr als zweihundert verwundeten, veröffentlichte das Blatt über Monate hinweg Augenzeugenberichte und engagierte Artikel, die die Regierung angriffen. Am 22. Oktober 1927, nach der Nummer 153 vom 22. Oktober 1927 verbot die Zensur das Magazin; ab der Nummer 154 erschien die Zeitschrift unter der Herausgeberschaft von Lu Xun in Shanghai.
(Titelseite der "Yusi")
Liang Yuchuns tragisch früher Tod mit 26 Jahren verdankt sich nicht dem politischen Chaos und der Gewalt der Warlord-Ära, sondern einer Scharlach-Infektion. Seine eigenen Prosatexte erschienen in Buchform gebündelt in 春醪集 (Chūn láo jí, "Frühlingswein-Episoden"), 1930 in Beijinger Verlag Běixīn Shūjú erschienen, und postum 1934 in dem Band 《泪与笑》 (Lèi yǔ xiào, "Tränen und Gelächter") im Verlag der Buchhandlung Kaiming. Bei Beixin erschienen auch seine Übersetzungen von Daniel Defoes "Moll Flanders" (1931), unter dem Titel 《荡妇自传》, Dàng fù zìzhuàn, "Lebensbericht einer Schlampe" (die zweite Ausgabe verwendete dann den transliterierten Titel 《摩尔弗兰德斯》 "Mó'ěr Fúlándésī"); ebenfalls 1931 die chinesische Übersetzung von Wsewolod Garschins "Die rote Blume", 《红花》 und postum 1934 die Übersetzung von Joseph Conrads "Lord Jim" (bei 商务印书馆 a.k.a The Commercial Press).
(Liang Yuchun)
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Mit den "Gespenstern" und der Nennung der Frau Alving (阿尔文, ā'ěr wén) nimmt Zhuo Bezug auf August Strindbergs Drama aus dem Jahr 1881. Für die Modernisierer und Öffner der chinesischen Kultur im Zuge der "Neue-Kultur-Bewegung", die dem 4. Mai 1919 um ein paar Jahre vorausging, aber damit erst seine Breitenwirkung entfalten konnte, war die Begegnung mit dem Werk des norwegischen Bühnenautors eine Offenbarung. Sie konnten daran exemplarisch sehen, wie die Widersprüche, die Brüche, die inneren Zerrissenheiten, ohne Rückgriff auf die engen Konventionen des klassischen Theaters, kurz: die interne Hölle der eigenen Psyche und der "Familienbande" (im Sinne Karl Kraus') zur Darstellung gebracht werden konnten. Mao Dun schrieb 1925, Ibsen sei in China populärer als Karl Marx (wobei Marx zu dieser Ägide nicht wirklich "populär" gewesen sein dürfte; aber für den glühenden Kommunisten Mao war er das secundum comparationis). Die erste Erwähnung Ibsens erfolgte durch Lu Xun, der ihn in einer Artikelserie nannte, die er 1907-08 für das chinesischsprachige Magazinen "Henan" verfaßte, daß die chinesischen Studenten aus, eben, Henan, die in Tokio studierten, herausgaben. Der wirkliche Beginn der chinesischen Ibsen-Rezeption setzte ein, als die Zeitschrift 新靑年, Nue Jugend bzw La Jeunesse, ihm eine Sondernummer mit Übersetzungen widmete. Neben "Ein Volksfeind" und "Nora" waren in den zwanziger Jahren besonders die "Gespenster" ein Referenzpunkt der "neuen", "modernen" Literatur.
Traduttore, traditore: Wie oben erwähnt, verwendet Zhou in diesem Zusammenhang das Wort 僵尸 (jiāngshī), während die übliche Bezeichnung eines Spuks, eines Geistes oder Gespenstes 鬼 (guǐ) lautet. Zhou trifft damit das Ibsen'sche Original besser, denn das norwegische "Gengangere" meint "Wiedergänger", einen Untoten, einen Révenant, statt des doch eher ätherisch-nichtmateriellen Spuks, der sich vorzugsweise zur Geisterstunde manifestiert. Im Deutschen (auch im Englischen - Ghosts, Spanischen - Espectros, und Italienischen - Spettri) sind diese Wesenheiten durch den traditionell gebräuchlichen Titel nicht anpaßbar (das Französische, das "Les révenants" statt "les spectres" hat, bildet hier eine Ausnahme).
Jiangshi (auch getrennt Jiang Shi geschrieben), sind im Westen den Liebhabern der Tropen seichter Horrorfilme auch als "chinesische Vampire" oder "hüpfende Vampire" geläufig. Sie ernähren sich nicht vom Blut, sondern der Lebenskraft, dem Qi, ihrer Opfer. (Freilich hat hier durch die Überblendung westlicher Gruselklischees in den letzten Jahrzehnten eine interkulturelle Angleichung der Ernährungsgewohnheiten stattgefunden; seit gut 30 Jahren verschmähen auch Jiangshi Hämoglobin nicht; zum anderen ist der "psychische Vampir", der von der Lebenskraft seiner Opfer zehrt, im Westen spätestens seit dem Fin de Siècle eine geläufige Variante; Sheridan le Fanus Carmilla und Dorians Grays Bildnis dürften in dieser Ahnengalerie aufscheinen). Der Volksaberglaube an diese Gestalten ist in den chinesischen Quellen seit etwa dem dreizehnten Jahrhundert verzeichnet. Von den 750 kurzen Berichten-Anekdoten-Erzählungen des 子不語/Zi bu yu ("Was der Meister nicht erzählt hat", wobei mit dem Meister Konfuzius gemeint ist, der in seinen Lehrschriften solche wichtigen Dinge wie Nachtgespenster ausgespart hat) von Yuan Mei, zuerst 1788 gedruckt, widmen sich dreißig den Mitteln und Wegen, sich dieses Gelichters zu erwehren: Spiegel (anders als ihre westlichen Kollegen verfügen Jiangshi zwar über ein Spiegelbild, es versetzt sie aber in, halten zu Gnaden, Todesfurcht); ein Hahnenschrei, das Blut eines schwarzen Hundes, Aloesamen in die Haupt-Akupunkturpunkte auf dem Rücken klopfen, eine Handglocke läuten (im Westen werden solche Wesen ja auch durch Glockenklang verscheucht), den Atem anhalten (Jingshi sind blind und orientieren sich am Qi, das der Nase entweicht). Am wirkungsvollsten erweisen sich eine Axt oder eine Fackel. Da sie erst anfangen, umzugehen, nachdem die Leichenstarre eingesetzt hat, können sie sich nur noch mit starr ausgebreiteten Armen und kleinen Sprüngen vorwärtsbewegen. Traditionelle chinesische Leichenhäuser hatten aus diesem Grund erhöhte Schwellen von gut 15 Zentimetern Höhe; enteilende Jiangshi stolperten darüber und blieben liegen, bis das Licht der aufgehenden Sonne sie endgültig bewegungsunfähig machte und man sie einsammeln konnte. Die übliche Darstellung im Film zeigt sie in der Gewandung eines Mandarins der Qing-Zeit, eine kaiserlichen Beamten, mit dem traditionellen schwarzkrempigen Hut; daß die Beamtenkaste jener Zeit als hoffnungslos korrupt und das Volk auspressend galt, findet hier seinen abgesunkenen symbolischen Ausdruck.
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Mit den "Gespenstern" und der Nennung der Frau Alving (阿尔文, ā'ěr wén) nimmt Zhuo Bezug auf August Strindbergs Drama aus dem Jahr 1881. Für die Modernisierer und Öffner der chinesischen Kultur im Zuge der "Neue-Kultur-Bewegung", die dem 4. Mai 1919 um ein paar Jahre vorausging, aber damit erst seine Breitenwirkung entfalten konnte, war die Begegnung mit dem Werk des norwegischen Bühnenautors eine Offenbarung. Sie konnten daran exemplarisch sehen, wie die Widersprüche, die Brüche, die inneren Zerrissenheiten, ohne Rückgriff auf die engen Konventionen des klassischen Theaters, kurz: die interne Hölle der eigenen Psyche und der "Familienbande" (im Sinne Karl Kraus') zur Darstellung gebracht werden konnten. Mao Dun schrieb 1925, Ibsen sei in China populärer als Karl Marx (wobei Marx zu dieser Ägide nicht wirklich "populär" gewesen sein dürfte; aber für den glühenden Kommunisten Mao war er das secundum comparationis). Die erste Erwähnung Ibsens erfolgte durch Lu Xun, der ihn in einer Artikelserie nannte, die er 1907-08 für das chinesischsprachige Magazinen "Henan" verfaßte, daß die chinesischen Studenten aus, eben, Henan, die in Tokio studierten, herausgaben. Der wirkliche Beginn der chinesischen Ibsen-Rezeption setzte ein, als die Zeitschrift 新靑年, Nue Jugend bzw La Jeunesse, ihm eine Sondernummer mit Übersetzungen widmete. Neben "Ein Volksfeind" und "Nora" waren in den zwanziger Jahren besonders die "Gespenster" ein Referenzpunkt der "neuen", "modernen" Literatur.
Frau Alving. Gespensterartig. Als ich Regine und Oswald da drinnen hörte, war mir's, als sähe ich Gespenster vor mir. Aber ich glaube beinahe, Pastor Manders, wir alle sind Gespenster. Es ist nicht allein das, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns umgeht. Es sind allerhand alte, todte Ansichten und aller mögliche alte Glaube und dergleichen. Es lebt nicht in uns; aber es steckt in uns und wir können es nicht los werden. Wenn ich nur eine Zeitung in die Hand nehme, um daraus zu lesen, so ist's mir schon, als sähe ich die Gespenster zwischen den Zeilen umher schleichen. Im ganzen Lande müssen Gespenster leben. Mir ist's, als müßten sie so dicht sein, wie der Sand am Meer. Und dann sind wir alle mit einander ja so gottsjämmerlich lichtscheu.
(Erster Aufzug; Ü. M. von Borch)
Frau Alving (erschüttert). Gespenster!
Oswald (geht durch das Zimmer). Ja, du kannst sie wahrlich Gespnster nennen.
(Dritter Aufzug)
Traduttore, traditore: Wie oben erwähnt, verwendet Zhou in diesem Zusammenhang das Wort 僵尸 (jiāngshī), während die übliche Bezeichnung eines Spuks, eines Geistes oder Gespenstes 鬼 (guǐ) lautet. Zhou trifft damit das Ibsen'sche Original besser, denn das norwegische "Gengangere" meint "Wiedergänger", einen Untoten, einen Révenant, statt des doch eher ätherisch-nichtmateriellen Spuks, der sich vorzugsweise zur Geisterstunde manifestiert. Im Deutschen (auch im Englischen - Ghosts, Spanischen - Espectros, und Italienischen - Spettri) sind diese Wesenheiten durch den traditionell gebräuchlichen Titel nicht anpaßbar (das Französische, das "Les révenants" statt "les spectres" hat, bildet hier eine Ausnahme).
Jiangshi (auch getrennt Jiang Shi geschrieben), sind im Westen den Liebhabern der Tropen seichter Horrorfilme auch als "chinesische Vampire" oder "hüpfende Vampire" geläufig. Sie ernähren sich nicht vom Blut, sondern der Lebenskraft, dem Qi, ihrer Opfer. (Freilich hat hier durch die Überblendung westlicher Gruselklischees in den letzten Jahrzehnten eine interkulturelle Angleichung der Ernährungsgewohnheiten stattgefunden; seit gut 30 Jahren verschmähen auch Jiangshi Hämoglobin nicht; zum anderen ist der "psychische Vampir", der von der Lebenskraft seiner Opfer zehrt, im Westen spätestens seit dem Fin de Siècle eine geläufige Variante; Sheridan le Fanus Carmilla und Dorians Grays Bildnis dürften in dieser Ahnengalerie aufscheinen). Der Volksaberglaube an diese Gestalten ist in den chinesischen Quellen seit etwa dem dreizehnten Jahrhundert verzeichnet. Von den 750 kurzen Berichten-Anekdoten-Erzählungen des 子不語/Zi bu yu ("Was der Meister nicht erzählt hat", wobei mit dem Meister Konfuzius gemeint ist, der in seinen Lehrschriften solche wichtigen Dinge wie Nachtgespenster ausgespart hat) von Yuan Mei, zuerst 1788 gedruckt, widmen sich dreißig den Mitteln und Wegen, sich dieses Gelichters zu erwehren: Spiegel (anders als ihre westlichen Kollegen verfügen Jiangshi zwar über ein Spiegelbild, es versetzt sie aber in, halten zu Gnaden, Todesfurcht); ein Hahnenschrei, das Blut eines schwarzen Hundes, Aloesamen in die Haupt-Akupunkturpunkte auf dem Rücken klopfen, eine Handglocke läuten (im Westen werden solche Wesen ja auch durch Glockenklang verscheucht), den Atem anhalten (Jingshi sind blind und orientieren sich am Qi, das der Nase entweicht). Am wirkungsvollsten erweisen sich eine Axt oder eine Fackel. Da sie erst anfangen, umzugehen, nachdem die Leichenstarre eingesetzt hat, können sie sich nur noch mit starr ausgebreiteten Armen und kleinen Sprüngen vorwärtsbewegen. Traditionelle chinesische Leichenhäuser hatten aus diesem Grund erhöhte Schwellen von gut 15 Zentimetern Höhe; enteilende Jiangshi stolperten darüber und blieben liegen, bis das Licht der aufgehenden Sonne sie endgültig bewegungsunfähig machte und man sie einsammeln konnte. Die übliche Darstellung im Film zeigt sie in der Gewandung eines Mandarins der Qing-Zeit, eine kaiserlichen Beamten, mit dem traditionellen schwarzkrempigen Hut; daß die Beamtenkaste jener Zeit als hoffnungslos korrupt und das Volk auspressend galt, findet hier seinen abgesunkenen symbolischen Ausdruck.
U.E.
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