12. Juli 2020

"...daz ist der stern Kometa..."

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...Vnd wie der stern Kometa
Den lovf und sine meta
Tovgen in dem firmament
Gut untz uf den innsten sent
Der stern ist lúzil liut erkant
Und ist vmb in also gewant
Daz er sich selten schowen lat
Vnd swenner verborgen stat
So gat ein rovch und ein kunst
Uon im als von dez tievils tunst
Von swenne man den sternen siht
Der tiutit gerne so man giht
Urlug oder manslaht
Daz man tribet tac und naht
Er tiutet och gemeinen tot
An liuten an vihe dez todis not
Er tiut och gerne tiure jar
Ich han den selben sternen fúr war
Mit minen ogen wol gesehin
Dez war ich mit warheit vil veriehin
Si warn an dem gestirne
So kvnste rich so virne

Hugo von Langenstein, Martina (1293 abgeschlossen), 14,110 - 15,20

Es kommt nur sehr selten vor (eigentlich nie), daß ich eine Weichenstellung, eine vor langer Zeit getroffene Entscheidung bedauere, gerade wenn es um recht triviale Aspekte geht. So etwa der Entschluß, nie im Leben zu fliegen, keinen Führerschein zu besitzen und niemals einen Fuß auf Berliner Gebiet zu setzen. Heute morgen, kurz vor Beginn der Dämmerung, ergab sich eine solche Gelegenheit. Ich habe vor über dreißig Jahren darauf verzichtet, zu fotografieren, weil mir das angelegentliche Fixieren aus Ausflugzielen oder seltenen geselligen Anlässen als zu trivial erschien und der Aufwand, sich hier mit einer halbwegs professionellen Ausrüstung, Teleobjektiven, Stativen und Blitzgeräten angesichts der wenigen Male, in denen ich mich damit beschäftigt habe, finanziell und vom Zeitaufwand her gesehen als völlig unangemessen wirkte. Das Ergebnis solcher Enthaltsamkeit ist, daß das einzige bildgebende Medium, das mir zur Verfügung steht, die im Smartphone eingebaute Weitwinkelkamera ist - die aber für Fernaufnahmen und das Heranzoomen astronomischer Objekte weder gedacht noch geeignet ist.



Ich habe in meinem Leben mittlerweile ein paar Kometen erlebt. Nicht viele, aber einige: als Faustregel läßt sich sagen, daß uns, mit schwankendem Rhythmus, gut einmal pro Jahrzehnt ein bemerkenswerter Schweifstern hier im inneren Sonnensystem einen Besuch abstattet. Freilich gilt, daß sie für das unbewaffnete Auge durchaus unspektakulär wirken und erst in einem kleinen Teleskop halbwegs den Eindruck auf der Netzhaut hinterlassen, den man von Astrophotographien her kennt. Kohoutek 1974 und der Halleysche Komet im Mai 1986 erwiesen sich als ausgesprochene Enttäuschungen; Hale-Bopp 1996 und Hyakutake 1997 dagegen als eindrucksvoll, wie auch Komet McNought zu Anfang des Jahres 2007 - nur waren sie mit Ausnahme von Hyakutake, der gut zwei Monate dicht über dem Nordhorizont stand und immerhin als schwacher Strich zu erkennen war, mit einer geschätzten Schweiflänge von knapp über einem Winkelgrad, parallel zum Horizont, die für das bloße Auge sichtbar war, "rein optisch" eine Enttäuschung: alle hatten sie keine Ähnlichkeit mit den prachtvollen Schweifsternen, wie man sie auf den Stahlstichen des neunzehnten Jahrhunderts findet, oder auf den langzeitbelichteten Photographien, die einen sofort beim Stichwort "Komet" in den Sinn kommen.

(Zwei Beiseit-Bemerkungen: zum einen hatte ich bei den Beobachtungen sowohl bei Hale-Bopp, Hyakutake und McNought einen deutlich wahrnehmbaren Grünstich im Koma um den Kometenkopf ausmachen können und war erfreut, festzustellen, daß dies nicht auf Fehlsichtigkeit in Okular, Objektiv oder dem eigenen optischen Apparat zurückzuführen war, sondern von den professionellen Astronomen bestätigt wurde. "Grün" ist in der Astronomie eine Färbung, die praktisch durch Abwesenheit glänzt. Zwar finden sich im Fundus der Science Fiction immer wieder einmal grüne Sterne, etwa in Edmond Hamiltons "Star of Life" von 1947 oder Nictzin Dyalhis "When the Green Star Waned" von 1925. H. G. Francis hat seinen Commander Perkins 1980 sogar zur Wega ins "Land der grünen Sonne" geschicht - was man als Chuzpe werten kann; da den meisten Sternfreunden dieser fünfthellste Stern am Nachthimmel als Teil des "Himmelszeigers" des Sommerdreiecks überaus vertraut ist und sie um seinen intensiven Blauschimmer wissen. Aber im "RL" lassen sich keine grünen Sterne ausfindig machen. Zwar strahlt ein Stern wie unsere Sonne mit ihrer Spektralklasse von G2 in diesem Bereich des sichtbaren Lichts am intensivsten - das ist auch der Grund, warum Chlorophyll in unseren Augen grün erscheint - aber neben dieses schmale Band im Spektrum treten auch noch die anderen Bereiche von blau bis rot, was nach dem Prinzip der Farbaddierung Weiß ergibt, wenn das Licht nicht im Strahlengang eines Prismas aufgefächert wird. Die grüne Färbung von Kometen-Koma- und -Schweif geht übrigens auf zweibindigen Kohlenstoff zurück. Zum zweiten: es ist ernüchternd, festzustellen, daß der Halleysche Komet, der seit der Entdeckung seiner Periodizität, seinem regelmäßigen Wiedererscheinen alle 76 Jahre, so etwas wie ein "langsamer Taktmesser" der Moderne darstellt, dessen Erscheinen 1835, 1910 und 1986 den Wechsel von Epochen unterstreicht, in drei Jahren, 2023, den sonnenfernsten Punkt seiner Bahn in einer Entfernung von 5,2 Milliarden Kilometern durchlaufen wird. Sooo lange scheint 1986, zwei Jahre nach "Orwells Jahr", noch nicht zurückzuliegen... (Dieser Punkt liegt übrigens im Sternbild Hydra, der Wasserschlange, direkt unter dem Sternbild Löwe, 18° südlich der Ekiptik.))

Langer Rede kurzer Sinn: mir ist bislang noch kein "klassischer Komet" untergekommen, und ich hätte geschworen, daß sich das auch nicht ändern würde. Bis heute nacht - als es nach gefühlten zehn Tagen späterherbstlich anmutendem Dauerregen aufklärte und die Sternbilder unverstellt sichtbar wurden und ich um 3:35 vom Balkon aus Ausschau hielt. Und da war er: Komet C2020 F3 (NEOWISE), hart im Nordnordosten, gute zehn Grad über der Horizontlinie, mit einem klar sichtbaren Schweif, geschätzte fünf Grad oder mehr lang. (Solche Maße sind Pi-mal-Daumen ohne Instrumente am Himmel schwer zu taxieren; als Faustformel gilt, daß der Vollmond einen halben Bogengrad Winkeldurchmesser ausmacht.) Mit einer Helligkeit von gut erster Größenklasse, im Winkel von 85 Grad nach oben weisend und leicht in Richtung Westen geneigt. Es handelt sich hier um den Gasschweif, der vom Strahlungsdruck der Sonne getrieben wird und deshalb stets direkt von ihr fortweist. Daß wir ihn aus einem anderen Winkel sehen, beruht darauf, daß sich unser Proszeniumsplatz auf dem dritten Planeten des Sonnensystems befindet, der sein Zentralgestirn auf eigener Bahn umläuft und dessen Position sich fortlaufend ändert.) Und da ich, um zum Eingang zurückzubiegen, eben nicht über die Möglichkeit verfüge, selber Bilder dieses nun wirklich raren Schauspiels einzufangen, bleibt mir an dieser Stelle nichts übrig, als einige Fotografien aus dem Fundus des Weltnetzes zu sammeln und zu präsentieren.

Man sollte sich jedenfalls auf keinen Fall dieses nun wirklich rare Himmelsschauspiel entgehen lassen. Die beste Sichtbarkeit von Komet Neowise bietet sich bis zum 24. Juli; momentan hat der Komet eine Entfernung von rund 160 Millionen Kilometern zur Erde; sie wird bis zum 23., dem Zeitpunkt der größten Erdannäherung, auf 103 Millionen Kilometer schrumpfen. Den sonnennächsten Punkt seiner Umlaufbahn hat er bereits am 3. Juli durchlaufen, mit einem Abstand von 44 Millionen Kilometern. Wie so oft bei langperiodischen Kometen haben die Schwerkrafteinflüsse von Sonne und Jupiter zu Bahnänderungen geführt; vor dieser Passage betrug seine Umlaufzeit gute 4500 Jahre; jetzt sind es 6800 Jahre. Der sonnenfernste Punkt seiner Bahn ist von 81 Milliarden Kilometern auf 108 Milliarden Kilometer angewachsen.

Beobachtern kommt in den nächsten 10 bis 12 Tagen zugute, daß wir abnehmenden Mond haben: morgen, am 13. Juli, tritt er in sein letztes Viertel, am 20. Juli haben wir Neumond. Das Längerwerden der Tage wirkt sich für diesen kurzen Zeitraum nicht wirklich aus; die "bürgerliche Dämmerung" beginnt rund 50 Minuten vor Sonnenaufgang; der Zeitpunkt, zu dem die Sonne über dem Horizont erscheint, verlegt sich für meinen Standort von 5:25 Uhr am 12. Juli auf 5:40 am 24. Welche Entwicklung die Helligkeit des Kometen nehmen wird, läßt sich erfahrungsgemäß schwer vorhersagen. Zum einen nimmt sie wegen der rapide schrumpfenden Entfernung zu; auf der anderen Seite wird die Entfernung von der Sonne größer, so daß die Anregung durch die harte, ionisierende Strahlung des Sonnenlichts abnimmt. Man darf sich dieses Leuchten ganz genau wie das in einer Leuchtstoffröhre vorstellen: auch in diesem Fall werden Gasmoleküle durch energiereiche Strahlung zum Emittieren von Photonen angeregt. Es kann auch niemand sagen, wie es mit den Gasvorräten bestellt ist, die diesen Leuchtstoffvorrat bilden. Am besten sichtbar ist der Komet zurzeit zwischen 3:30 und 4:30; danach wird der vom sich aufhellenden Himmel überstrahlt. Der helle Stern, der gut 20 Grad über dem Horizont unübersehbar im Osten strahlt, ist die Venus als Morgenstern; der Komet läßt sich finden - obwohl er unübersehbar ist - in dem man an ausgestreckter Hand Daumen und Zeigefinger spreizt und mit diesem "Meßinstrument" zweimal links, Richtung Norden, vorgibt.

Auffinddiagram für den Morgen des 13. Juli:





Hier läßt sich die Bahn von C/2020 F3 über das Himmelsgewölbe verfolgen:
 

(Über Lübeck, 10. Juli. Copyright Lübecker Nachrichten)


(Über dem Schweriner Schloß, 10 Juli)


(Über Abbottford im kanadischen Vancouver, 10. Juli. Aufnahme: Amir Hariri)


(Aus der Perspektive der Internationalen Raumstation, 5. Juli. Astronomy Picture of the Day der NASA von 9. Juli)


(Über dem Libanon, 7. Juli. Aufnahme Maround Habibi. Astronomy Picture of the Day vom 11. Juli)


(Über Brno/Brünn, 10 Juli; Aufnahme Miloslav Druckmuller.)





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PS. Von Hugo von Langenstein, dem Verfasser des mehr als 32.000 Verse umfassenden Epos über das Martyrium der Heiligen Martina, ist nicht viel bekannt. Sicher ist, daß er zwischen 1287 und 1298 in der Mainauer Komtur des Deutschen Ordens erwähnt wird. Da er 1271 seine Ländereien dem Orden vermachte, als er ihm mit seinen vier Söhnen beitrat, muß er zu diesem Zeitpunkt bereits ein erwachsener Mann in damals fortgeschrittenem Alter, mindestens Ende der Dreißig, gewesen sein. Von daher kann als sicher angenommen werden, daß es sich bei dem Kometen, den er mit eigenen Augen gesehen hat ("Ich han den selben sternen fúr war/ Mit minen ogen wol gesehin"), um den Großen Kometen von 1264 handelt, der Ende Juli sichtbar wurde und es vier Monate lang blieb. Von den "großen Kometen" des Mittelalters ist dieser eine Ausnahme, da er zuerst in Europa - genauer in Frankreich - gesichtet wurde, am 14., vier Tage, bevor ihn die ersten Aufzeichnungen aus Japan vermelden (Gilles de Lessines vermerkt dies ein Jahr später in seiner Chronik.) Für Deutschland verzeichnen sächsische Klosterchronisten für den 22. die erste Sichtung. Die chinesischen Annalen vermerken für den 25. Juli, daß der Schweif eine Länge von mehr als 100 Bogengrad hatte;  die japansichen Aufzeichnungen registrieren, daß er zuerst im Sternbild des Großen Bären am nordwestlichen Abendhimmel erschien, am 23. Juli in den Bereich des Löwen wanderte und zwei Tage später in den des Krebses. (Natürlich verwendeten die chinesischen Himmelsbeobachter nicht unsere Konstellationen, sondern ein Unzahl kleiner Asterismen, Sternansammlungen zwischen drei bis neun Sternen; bei diesen Angaben werden hier die für uns geläufigen Sternbilder genannt.)  "Urlug" meint im Mittelhochdeutschen übrigens "Krieg"; das niederländische "oorlog" bewahrt diese Radix bis heute. Ich habe mir übrigens die Freiheit erlaut, den Text nach der ersten, 1856 von Adelbert von Keller besorgten Druckausgabe zu zitieren, und nicht nach der zeichengetreuen Texttranskription des deutschen Textarchives, die hier einsehbar ist. Ich hoffe, daß man mir soviel philologischen Schindluder nachsehen kann.

U.E.

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