6. Juli 2020

Corona und kein Ende

Das Christentum ist 2000 Jahre alt, die CDU 75. Diese Partei brauche jetzt eine weltliche Daseinsbegründung, meint Thomas Schmid. Selbst die Kirchen zeigten in der gegenwärtigen Krise ja, dass sie nichts zu sagen wissen. ­

Durch Corona mussten wir hinnehmen, nicht nur Freiheiten im öffentlichen und kulturellen Raum zu verlieren, sondern auch die Freundes- und Liebesbeziehungen fast einzustellen, weil unser Nächster eine mögliche Ansteckungsquelle ist. Mindestens aber mussten sich viele umstellen. Es ist jedoch falsch, dies mit einer Kriegszeit zu vergleichen, wo die Väter und die Lieben zuhause für lange Zeit getrennt waren und Verliebte nur Post bekamen.

Die moderne Ritterrüstung gilt nicht dem Schwert und der Lanze, sondern einem möglichen unsichtbaren Schwarm von Feinden aus dem Mund des andern, aus dessen Hand, an dessen Türgriff.

Die Gastfreundschaft der Erholungsorte, die von unserem Bedürfnis nach Fremdem, nach wilder Natur und Abwechslung lebt, musste hilf- und einnahmelos abwarten. Dreihundert Übernachtungsgästen habe er noch absagen müssen, klagte mir ein Wirt im Sellrain-Seitental in Österreich, wohin die Grenzen jetzt wieder keine mehr sind.

Wie soll der Markt sich selbst heilen unter dem weltweiten Angriff von Corona? Muss die Menschheit zurück in das alte Zuhause der bescheidenen Freiheit? Die Analysen der klugen Wirtschafts-Denker versagen. Die handlungstheoretischen Ansätze der Philosophen besitzen nicht einmal eine Placebo-Wirkung. Sie sind bloß Erklärungen, keine Hilfe und Arznei für die Gesellschaft und die Wirtschaft. Die Schulen können nicht voll auf den Bildschirm verlegt werden, vielleicht Universitäten. Alle hoffen auf den Impfstoff im nächsten Jahr, denn die „Herdenimmunität“ ist vermutlich nicht erreichbar.

Herdenimmunität ist ein Wort, das an unsere Stufe ‚höhere Tiere‘ erinnert. Und ist die unsinnige Rebellion gegen Polizisten auf der Straße nicht auch ein Beweis dafür?

Und die Christen? Die zwei Meter zwischen den Personen wären kein Grund, zu verzweifeln. Die Kirchenbesucher achteten schon in gesunden Zeiten darauf, möglichst weit weg von einem Nachbarn in der Kirchenbank zu sein. Hier ist das wahre Problem ein anderes, nämlich: wie weit die Christen von der Sache Jesu entfernt sind, denken und leben. Gewiss mehr als 2 m. Und wie weit die Prediger bei der Nachfolge Jesu hinter den Jüngern und Aposteln zurückbleiben. Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben im vergangenen Jahr erstmals insgesamt mehr als 500.000 Mitglieder durch Austritt verloren.

„Das ist nur Selbstbetrug“

Thomas Schmid schrieb am 26. Juni 2020 in DIE WELT S. 2 (forum@welt.de) über den „Selbstbetrug“ der 75 Jahre alten CDU und betont: „Über das Christliche der Partei spricht das heutige Spitzenpersonal kaum noch. Das war schon 1945 nicht sehr viel anders.“ Er rügt den gravierenden Widerspruch mit dem hohen C. Die durch den biblischen Begriff „Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ im Parteiprogramm verbürgte Freiheit und Würde jedes Einzelnen sei eine reine Pflichtübung, daher sei die Berufung auf das Christentum eine „Anmaßung“ und auch eine „Verklärung“ des Christentums, das sich gegen Hitler nicht zu wehren wusste, das protestantische noch schlechter als das katholische. Außerdem sei es ein Widerspruch: In einer Republik könne es keine christliche Politik geben. Schon unter Adenauer sei es um die Wähler aus den Kirchen gegangen und habe diese Scheinheiligkeit Heinrich Bölls heiligen Zorn erregt. Es wäre besser, wenn die echten Christen den verwaschenen Begriff „christliches Menschenbild“ politisch vermeiden und den Persilschein der Gründungszeit der Partei durchschauen würden.

Es gibt heute schon Aufsätze über die 9 Millionen Deutschen, die Mitglieder der NSDAP waren, ohne dass die Religion und die Frage, ob es meistens Getaufte waren, überhaupt vorkommt. So im Gespräch mit Jürgen Falter, Professor für Politikwissenschaft in Mainz, über sein Buch „Hitlers Parteigenossen“ in DIE ZEIT vom 25.06.20, S. 15. Gängige Thesen werden relativiert, richtig ist: 40 Prozent der Mitglieder waren Arbeiter, überproportional vertreten waren Angestellte und Beamte mit 60 Prozent; man musste nicht eintreten, trotz de Drucks, den es gab. Nach 1937 gab es kaum noch Austritte. Opportunismus und Karrierismus stützten das Regime. – Ich kannte eine Münchnerin, die als Mädchenbundführerin neben Scholls im Psychologie-Seminar gesessen hat und nach dem Krieg Führerin ihres katholischen Jugendbundes war. Die fragte sich, als sie die Räumung Dachaus als Krankenpflegerin erlebte, wie das geschehen konnte durch fast lauter getaufte Christen. Sie arbeitete bis zu ihrem Tod für eine Reform der Kirche. Joseph Ratzinger hat sie geschätzt und hat diesen Funken unterstützt. Ich wählte ihn als großen Theologen für meine Habilitation (1979). Es ist ein Zeichen des Niedergangs, dass er in seiner Heimat am wenigsten erkannt wird – oder muss das so sein, bei allen Propheten?

Gefängnisse und Freiheiten

Als ich Student war, stimmten befreundete Christen, die es wirklich sein wollten, bei Wahlen für das Land Bayern die FDP, obgleich sie eingeschriebene Mitglieder der CSU waren, weil eine zu große Mehrheit den Charakter einer regierenden Partei verderben kann; nur im Fall einer Münchener Stadtwahl war die CSU vor einer absoluten Mehrheit von selbst sehr gut bewahrt.

Die Verwerfungslinie verläuft durchaus nicht zwischen politischer und gläubiger Praxis, sondern ganz woanders. Das sah man gerade daran, dass zum letzten Besuch des Papa emeritus Ratzinger in Regensburg bei seinem Bruder ein Markus Söder zur Verabschiedung am Münchener Flughafen kam, der Bischof der Landeshauptstadt aber nicht.

In Ländern wie den USA ist es nochmals anders und machen politisch Sensible gerade die Rassenfrage zu einem Religionsersatz. Die Soulsängerin Nina Simone drückt das nicht nur im Singen, sondern auch in Worten gut aus: „Mein ganzes Leben lang wollte ich herausschreien, was es heißt, eingekerkert zu sein. Denn ich kenne die tödliche Stille des gesellschaftlichen Gefängnisses, in dem man als Farbiger lebt.“ (Zitiert in: FAZ 27.06.20 von Edo Reents, Mein Herz so weiß, S. 9)

Dass wir Menschen so verflixt egoistisch, misstrauisch und doch auch so liberal und liebevoll sein können, macht unsere Größe aus. Christen, die es wirklich sein wollen, zu raten, wie es Thomas Schmid tut, es dort, in den Kirchen, aber dann ganz zu sein, und als Bürger zusätzlich politische Wächter und Täter, ist ein guter Rat.

Ludwig Weimer

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