2. Juli 2020

Der letzte Grandseigneur des deutschen Journalismus: Zum Tod von Dieter E. Zimmer

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Am 19. Juni, also bereits vor zwei Wochen, ist Dieter E. Zimmer in Berlin im Alter von 85 Jahren gestorben. Die Nachricht von seinem Tod ging aber erst vor zwei Tagen "durch die Medien" - insofern mag man mir diesen verspätete Eintrag nachsehen, nicht zuletzt, weil mir diese Nachricht Anlaß war, in seinen Büchern, von denen sich ein gutes Dutzend auf den unterschiedlichsten Regalen meiner Bibliothek verteilt finden, wieder einmal zur Hand zu nehmen.

Eigentlich sollte es in der Überschrift "...des deutschen Feuilletons" heißen, jenem Ort, der im Journalismus, als er in seiner heutigen Form in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entstand, "unter dem Strich", abgetrennt von den politischen Nachrichten, bedeutete und dem kleinen gesamten Weltrest außerhalb des politischen Tagesgeschehens gewidmet war, und in dem die meisten Texte Zimmers während seine mehr als vierzigjährigen Tätigkeit als Redakteur für die ZEIT erschienen sind. Aber gemäß dem Verständnis jener überregionalen Zeitungen, die sich heute noch seine solche redaktionelle Spielweise leisten, sind die meisten großen Reportage-Serien, die Zimmers Ruf als einer der hervorragendsten Wissenschaftsvermittler in den 1980er und 1990er Jahren begründet haben und aus denen seine Bücher entstanden sind, nichts für diesen Bereich der Referate über den Kulturbetrieb und der intellektuellen Zeitgeistmoden. Es handelte sich um eingehende Darstellungen des Wissenstands auf anspruchsvollen Fachgebieten wie der klinischen, empirischen Psychologie, der Evolutionstheorie oder der Sprachwissenschaft, Themen, auf die er über Jahrzehnte immer wieder zurückkam und deren Entwicklung man daran gut verfolgen konnte. Wer die daraus entstandenen Bücher las, bekam nichgt nur einen erschöpfenden Überblick über die Kontroversen und Widersprüche, die jedes lebendige Forschungsgebiet ausmachen, sondern auch Literaturverzeichnisse und Fußnoten, wie man sie aus dem Blätterrauschen der Tageszeitungen nicht gewohnt war. Dabei war Zimmer nie bereit, einen Kotau vor dem Verdikt des auch damals schon "politisch korrekten" Zeitgeist zu machen. Mitte der 1970er Jahre referierte er nicht nur über die IQ-Forschungen anhand von Zwillingsstudien des englischen Psychologen Hans Eysenck, der der Erblichkeit und genetischen Festgelegtheit unserer geistigen Fähigkeiten (wie sich sich nicht zuletzt in den Messungen des Intelligenzquotienten widerspiegelt) einen so hohen Rang einräumte, daß er schon von 45 Jahren zur bête noire aller progressivistischen Sozialutopisten wurde. Ein Gleiches galt für die Soziobiologie Edward O. Wilsons, die er 1979 in seiner ersten größeren Buchpublikation Unsere erste Natur ausführlich vorstellte. Dort und in den beiden Folgebänden Der Mythos der Gleichheit, 1980 und Die Vernunft der Gefühle, 1981, nahm er, wenn auch eben nur referierend und in kleinerem Rahmen, das vorweg, was in den 1990er Jahren im englischen Sprachbereich Daniel Dennett (in Consciousness Explained, 1991, und Darwin's Dangerous Idea, 1995) oder Steven Pinker (The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature, 2002) in ihren weit gelesenen und rezipierten Büchern einem am konkreten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis interessierten Publikum ohne ideologische Vorbehalte nahegebracht haben: eine Sicht auf die Welt, auch der menschlichen Verhältnisse und Möglichkeiten ganz im Zeichen der biologischen Gegebenheiten und ihrer Formung durch die Kräfte der Evolution.

Eine gewisse Kulmination - und zugleich ein Nebenkriegsschauplatz - bildete 1986 die rigorose Abrechnung mit den Grundannahmen und Aussagen der Psychoanalyse Sigmund Freuds, Tiefenschwindel: Die endlose und die beendbare Psychoanalyse, die er anhand der Erkenntnisse der modernen Hirnforschung und der Biologie von A bis Z als das entlarvte, was sie darstellen: als wissenschaftlichen Humbug, ja mehr noch: anhand der schütteren Datenbasis, des rein induktiven Vorgehens Freuds und des sektenhaften Agierens seines Zirkels und der Ausbildung in diesem Bereich bis heute, als eine Scharlatanerie. Das hat ihm, naturgemäß, eine tiefe  Feindschaft und heftige Kritik eben jener Vertreter eingebacht - so wie es seit Sir Peter Medawar in den 1960er Jahren in England jedem gegangen ist, der nachwies, daß hier nicht nur der Kaiser nackt, sondern noch nicht einmal ein nackter Kaiser vorhanden ist. (Für Frankreich hat mit größerer Breitenwirkung, aber empirisch weitaus schütterer fundiert, Michel Onfray 2010 mit seinem Buch La crépuscule d'une idole dieses Unterfangen durchgeführt.) Herbe Kritik  - höflich gesagt - an Freud und seinen Annahmen ist heute dort, wo Wissenschaft zum Tragen kommt, heute nicht mehr kurrent, so wenig es die Humoralpathologie in den Humanmedizin ist; die Psychoanalyse ist ein erledigter Fall. Ich war allerdings überrascht, wie kurrent und verbreitet diese Theoreme - vom Verdränden bis zum Ödipuskomplex - im Bereich des genannten Feuilletons noch sind, als die aus Anlaß des 150. Geburtstags Freud dort allenthalben fröhlich und unkritisch referiert wurden.

Auf der anderen Seite stand, bzw. steht, Zimmers Leistung als Übersetzer und Herausgeber, vor allem als Herausgeber der Werkausgabe von Vladimir Nabokov in 24 Einzelbänden, die seit 1989 beim Rowohlt Verlag erschienen sind und der man im englischen Sprachbereich schlicht nichts Vergleichbares zur Seite setzen kann. Zimmer hat als Übersetzer seit 1960 gut eineinhalb Dutzend Bücher Nabokovs ins Deutsche übersetzt, angefangen mit Nabokovs erstem auf Englisch verfaßten Roman The Real Life of Sebastian Knight, der noch im Zug des von "hurricane Lolita" (Carles Kinbote in "Pale Fire") ausgelösten Publikationsbooms ab 1958 erschien. Auch ein nicht geringer Teil der kleinen Bändchen von Edward Gorey, die der Diogenes Verlag in den siebizger Jahren publiziert hat, sind von ihm übersetzt worden, wie auch Ambrose Bierces The Devil's Dictionary. Für Zimmer galt exemplarisch NICHT, was seit dem Verdikt von C. P. Snow über die "beiden Kulturen", die "two cultures" sich immer wieder als Malus der neuzeitlichen Intellektuellenkultur erwiesen hat und was auch nach 60 Jahren ungebrochen anhält: die Scheidung des Sich-Auskennens, der tatsächlichen Beschlagenheit auf einem von zwei Bereichen: entweder dem der technisch-naturwissenschaftlich fundierten tatsächlichen Welterkenntnis - oder aber dem geisteswissenschaftlichen Bereich, der sich archetypisch in der Geringschätzung der Mathematik ausdrückt. In diesem Sinn war er, was man im Englischen einen "Renaissance man" nennt, ein wirklicher Universalist.

Meine persönliche Lesebiographie mit den Texten Zimmers ist, stelle ich fest, mit dem Ende seiner Redaktionstätigkeit bei der ZEIT weitgehend an ihr Ende gelangt. Als letzten Titel finde ich Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit aus dem Jahr 2005 (der sich neben dem zweiten Teil über linguistische Universalien für mein Empfinden zu sehr auf den Streit um die Rechtschreibreform, ein lebenslanges Thema Zimmers, kapriziert) und die Kompilation zu den Quellen Nabokovs, die dieser in seinen letzten russischen Roman, Die Gabe, hat einfließen lassen. Das - also der Hiatus der eigenen Lektüre - spricht nicht gegen die Texte. Journalismus ist nun einmal zeitgebunden; wer eine Einführung in den Stand der Neurobiologie heute liest, wird nicht zu einer populär, wenn auch fundiert geschriebenen Einleitung auf dem Stand von vor 35 Jahren greifen. Das gilt nicht für die Annotations- und Herausgebertätigkeit in Sachen Nabokov. Hier liegt der Malus eindeutig auf meiner Seite und verdankt sich dem Umstand, daß ich, aus Prinzip, keine Übersetzungen lese, wenn ich der Originalsprache mächtig bin. Im Journalismus gilt das eiserne Prinzip, das vor über 80 Jahren für den Rundfunk geprägt wurde: "das versendet sich." Was nun Texte angeht, die einen "überzeitlichen Bonus" für sich beanspruchen können (das klingt hochgestochen, soll aber schlicht heißen: die nichts von ihrem Interesse undeit ihrer Frische verloren haben), so hat Zimmer auf seiner eigenen Webseite eine reichliche Auswahl von Texten zur Verfügung gestellt, die er im Lauf der Jahrzehnte für die ZEIT verfaßt hat, Buchauszüge, autobiographische Texte und - vor allem - Annotationen und Ausführungen zum Werk Nabokovs. Wer daran Interesse finden mag, dem sei das Stöbern dort nahegelegt. Als Amuse-Geule seien an dieser Stelle zwei kleine Aufsätze empfohlen, die sich zum einen mit einer der bekanntesten Pasagen in der Proust'schen Recherche beschäftigen - dem "gelben Flecken auf dem Gemälde Vermeers" ("Auf der Suche nach dem gelben Mauerstück: Wie Proust bei Vermeer etwas sah, das gar nicht da ist"), 1996 in der Süddeutschen Zeitung erschienen -, zum anderen eine konkrete Spurensuche zu Nabokov ("Nabokov zwischen den Zietseen") aus dem Jahr 2014 zu dessen Berliner Zeit, in der sich die lokale Befindlichkeit gleich dreier meiner Lieblingsautoren auf wundersame Weise treffen,  in seinem Werk, A Guide to ohne kausal einander zu tangieren - die Schnittmenge besteht allein in der Seenlandschaft der Berliner Umgebung - nämlich des Fontane der Wanderungen, dem home turf Günter de Bruyns und dem russischen Exilanten, der, nach den Worten von Karl Schlögel, die Berliner Topographie am intensivsten in der russischen Diaspora zum Zentrum seines Schaffens gemacht hat.

Dort findet sich auch eine vollständige Text- (und Bild-)version des Werks, das von Zimmers Texten am längsten Bestand haben dürfte - auch wenn es, sub specie aeterniatate, nur eine Fußnote zum Werk Nabokovs dastellt; aber eine von staunenswerter Akuratesse und Akribie: die Aufarbeitung und Dokumentation von Nabokovs lebenslanger Passion für Schmetterlinge und sämtlicher Passagen in seinem Werk: A Guide to Nabokov's Butterflies and Moths.



U.E.

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