29. September 2013

Reise nach Jerusalem


Liebe Leserin, lieber Leser, ich hoffe, Sie fühlen sich nicht getäuscht, wenn ich Ihnen verrate, dass dieser Beitrag ein anderes Thema hat als den Nahostkonflikt. Zweifellos kennen Sie das Gesellschaftsspiel „Reise nach Jerusalem“: Dabei wandern die Teilnehmer zu Musik um einen Stuhlkreis, der eine Sitzgelegenheit weniger aufweist, als Mitspieler vorhanden sind. Sobald der Tonmeister die Beschallung unterbricht, muss jeder Kombattant versuchen, einen freien Platz zu ergattern. Wer stehen bleibt oder es nur auf die Knie eines bereits akkomodierten Gegners schafft, scheidet aus.

Alle vier Jahre wird in Deutschland eine Variante der „Reise nach Jerusalem“ aufgeführt, bei der nicht natürliche Personen, sondern Parteien gegeneinander antreten, von denen einige gleichsam eine Anwartschaft auf bestimmte Stühle haben. Wie hinlänglich bekannt, sind bei der heurigen Ausgabe unter anderem die Piraten, die FDP und die AfD stehen und somit auf der Strecke geblieben.

Soweit sie aufgrund selbstreflexiver Versenkung nicht ohnehin das Ende der Musik überhört hatten, waren die Piraten deshalb chancenlos, weil sie es auf drei Stühle abgesehen hatten, an denen die SPD, die Grünen und die Linke ältere Rechte beanspruchen. Die FDP machte den Fehler, es nicht auf ihren angestammten Sessel abzusehen, sondern – die Spielregeln komplett verkennend – mit dem Knie der Union zu liebäugeln. Und die AfD? Die hatte sehr wohl einen freien Sitz ins Visier genommen. Vielleicht schadete es ihr, dass alle anderen Mitspieler im Vorfeld beteuert hatten, dieser eine Stuhl dürfe nicht besetzt werden. Es sind also am Ende der Runde paradoxerweise zwei Plätze frei geblieben.

Wie könnte es weitergehen? Die Grünen, die so unsanft auf ihrem Stuhl gelandet sind, dass sie sich dabei nicht nur das Steißbein verstaucht, sondern auch die Sitzgelegenheit stark beschädigt haben, werden vielleicht nach dem ehemaligen FDP-Stammplatz schielen. Freilich löst diese Option in den Reihen der Alternativen gewisse Ressentiments aus, aber man kann das vierbeinige Möbelstück ja durchaus ein bisschen zurechtrücken und mit der entsprechenden Politur behandeln.

Die AfD wird sich vermutlich weiterhin auf den von allen anderen verfluchten Stuhl fixieren und damit bei der europäischen Polit-Ausgabe der „Reise nach Jerusalem“ den ersehnten Erfolg einfahren. Die Piratenpartei wird – nach heutigem Sachstand – auf absehbare Zeit besinnungslos vor dem Stuhlkreis herumtaumeln.

Und die FDP? Sie könnte versuchen, auf dem ramponierten Stuhl der Grünen Platz zu nehmen oder einen eigenen Schemel zwischen Union und SPD zu stellen. Möglicherweise geht sie auch daran, ihren alten Sitz zurückzuerobern oder mit der AfD eine Spielgemeinschaft zu gründen. Vielleicht baut sie auch einen ganz neuen Stuhl zusammen, stellt diesen außerhalb des Kreises auf und lässt sich unabhängig vom Erschallen oder Verstummen der Musik darauf nieder. „Hier sitzen wir und können nicht anders“, wäre dann wohl ein passender Kommentar. „Wenn Ihr was von uns wollt, dann müsst Ihr zu uns kommen.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Noricus


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