4. September 2013

Der FISA-Court ist kein Geheimgericht, das Problem heißt "standing". Über die 3. Gewalt der Vereinigten Staaten.


Seit den Veröffentlichungen durch Snowden hat es der FISA-Court, als angebliches Geheimgericht, auch in der Medienberichterstattung und damit der Öffentlichkeit zu einiger Bekanntheit geschafft. Die Abkürzung steht dabei für
United States Foreign Intelligence Surveillance Court.
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Geheim ist dieses Gericht, genauso wie seine Berufungsinstanz, der United States Foreign Intelligence Surveillance Court of Review, freilich nicht. Seine Richter sind öffentlich bekannt, sie werden frei und unabhängig vom obersten Richter der Vereinigten Staaten, dem Chief Justice des Supreme Courts, auf 7 Jahre ohne Möglichkeit der Wiederernennung aus den Reihen der sonstigen, auf Lebenszeit ernannten Bundesrichter ausgewählt und öffentlich ernannt. Weder die Exekutive noch die Legislative sind an diesem Auswahlprozess beteiligt, er wird vollständig im Ermessen des unabhängigen und auf Lebenszeit ernannten Chief Justice durchgeführt. Nach ihrer Ernennung sind die Richter des FISA-Court und seiner Berufungsinstanz ebenfalls unabhängig und nicht an Weisungen gebunden, sie können auch nicht für wohlgefälliges Verhalten erneut vom Chief Justice ernannt werden und sind nach dem Ende (und auch während) ihrer Amtszeit weiterhin als auf Lebenszeit ernannte Richter tätig und damit mit ihrem Richtergehalt auf Lebenszeit abgesichert.

Geheim sind freilich die Überwachungsbeschlüsse, die der FISA-Court erlässt. Aber Überwachungsbeschlüsse sind in den meisten Fällen geheim und werden - wenn überhaupt - erst im Nachhinein den Betroffenen mitgeteilt oder aber nie, egal welches Gericht den Überwachungsbeschluss fällt. Die Besonderheit am FISA-Court ist lediglich, dass sich seine Gerichtsbarkeit so gut wie ausschließlich auf eben solche Überwachungsbeschlüsse beschränkt, aber läge die Zuständigkeit für Überwachungsanträge der Auslandsgeheimdienste bei anderen Gerichten, so wären die Entscheidungen darüber genauso geheim. Auch Gerichte, die ansonsten auch für öffentliche Verhandlungen zuständig sind, hören zu Überwachungsbeschlüssen erst einmal nur die beantragende Seite - und wenn der Betroffene nichts von dem Beschluss erfährt, dann bleibt es auch dabei.

Das Problem liegt also nicht in der Existenz des FISA-Court, sondern einer anderen Hürde zum rechtlichen Gehör und zur verfassungsrechtlichen Prüfung in einem ordentlichen, streitigen Gerichtsverfahren: Dem standing.

Unter seinem derzeitigen Chief Justice John Roberts hat der Supreme Court einige bedeutende Bürgerrechtsfälle behandelt, in denen die Mehrheit der Richter den Schutzbereich der Bürgerrechte gefestigt, unterstrichen oder sogar ausgeweitet hat - falls der Fall denn zur Entscheidung angenommen wurde und zu einer inhaltlichen, rechtlichen Würdigung kam.

Darunter sind insbesondere Entscheidungen, die Einschränkungen der Redefreiheit für Verfassungswidrig erklärt haben, wie Federal Election Commission v. Wisconsin Right to Life, Inc., Snyder v. Phelps und Citizens United v. Federal Election Commission. Mindestens ebenso wichtig sind Entscheidungen, in denen das Recht auf richterliche Haftüberprüfung unterstrichen und verteidigt wurde, wie Hamdan v. RumsfeldBoumediene v. Bush (in dem das Recht auf richterliche Haftüberprüfung vor amerikanischen Zivilgerichten auch für ausländische Guantanamo-Häftlinge festgestellt wurde) und Munaf v. Geren.

Auch die Gleichbehandlung vor dem Gesetz wurde in United States v. Windsor, sehr zum Ärger vieler religiöser Konservativer, für gleichgeschlechtliche Ehen gestärkt. Ein anderer Fall, Hollingsworth v. Perry, ist zwar vom Ergebnis her erst einmal im Sinne der Progressiven und der kalifornisches Homosexuellen ausgegangen, wurde inhaltlich jedoch gar nicht erst entschieden. Den Betreibern der Volksinitiative zur Aufnahme des Verbotes in die Verfassung, den einzigen, die das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen in Kalifornien verteidigen wollten, fehlte es an standing, also der Fähigkeit ein Recht vor einem Gericht überhaupt gelten machen zu können. Die habe nämlich nur ein offizieller Vertreter des Staates, womit die einzigen zur Vertretung des Staates vor Bundesgerichten befugten Amtsträgern de facto ein Veto gegen Gesetze haben, die von irgend einem Betroffenen für verfassungswidrig gehalten und vor Gericht angegriffen werden, so die Kritiker der Entscheidung. Andere sehen die Auswirkungen des Urteils auf Fragen des standing weniger dramatisch.

Es ist aber nicht das einzige Urteil, in dem die inhaltliche Behandlung eines Falles auf Grund eines eng ausgelegten standings verweigert wurde. In zwei Gerichtsentscheidungen aus den Jahren 2006 und 2007 spricht eine klare Richtermehrheit den Steuerzahlern das standing ab, steuerfinanzierte Ausgaben auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Während es in DaimlerChrysler Corp. v. Cuno im Kern um eine Bevorzugung innerstaatlicher Investitionen zum Nachteil zwischenstaatlichen Handels ging, fehlte in Hein v. Freedom From Religion Foundation das standing um gegen eine Verletzung der Bill of Rights, namentlich der Trennung von Religion und Staat, zu klagen.

Die Begründung für die enge Auslegung des standing liegt laut Rechtssprechung des Supreme Courtin in Artikel III der U.S.-Verfassung, genauer des Abschnitts 2, der den Umfang des rechtssprechenden Gewalt des US-Bundesgerichte beschreibt:


The judicial Power shall extend to all Cases, in Law and Equity, [...], to Controversies [...]

In den von mir gekürzten Abschnitten werden die Arten von cases und  controversies aufgeführt, für die US-Bundesgerichte Jursidiktion haben. Worum es hier geht ist die Beschränkung auf "cases and controversies" im Sinne des commen law. Eine Möglichkeit beispielsweise zur abstrakten Normenkontrolle auf Antrag einer Minderheit im Parlament, wie in vielen modernen Verfassungen, die ein Verfassungsgericht vorsehen, besteht nicht. Das wäre auch nicht notwendig, wenn es eine breite Anfechtungsmöglichkeit vor Gericht gäbe, auch für indirekt oder als Teil einer großen Masse ungewiss Betroffene, die nicht genau feststellen können, wer von ihnen von einer allgemeinen Maßnahme, die sie alle treffen kann, genau und in welchem Umfang betroffen ist.

In einem gewissen Rahmen hat es sicherlich seine Berechtigung das standing nicht jedem mit einer konstruierten oder nur sehr indirekten Betroffenheit zuzugestehen. Die Entscheidung des Verfassungsgebers die Möglichkeit einer Popularklage, anders als beispielsweise in Bayern, bewusst nicht einzuräumen muss respektiert werden. Aus gutem Grund entscheiden sich die meisten Verfassungsgeber gegen diese Möglichkeit, um eine Blockade und unlautere Umgehung der politischen Entscheidungsfindung aus politischem Kalkül einiger weniger Aktivisten, die sich eigenmächtig zu Anwälten der Sache der Allgemeinheit aufschwingen, zu erschweren.

Im Gegenzug sehen Verfassungen wie das deutsche Grundgesetz die Möglichkeit zur Einleitung einer abstrakten Normenkontrolle durch verschiedene Verfassungsorgane und eine Minderheit im Parlament vor. Doch auch das ist kein muss, lassen sich hiergegen doch grundsätzlich ähnliche Argumente anführen, wie gegen die Popularklage. Es ist legitim den Missbrauch der Gerichte zum politischen Taktieren und zum Ausfechten politischer Meinungsverschiedenheiten einzudämmen. Zwar stellt die Verfassung die oberste Rechtsquelle dar und Gesetze, die ihr widersprechen, sind folglich nichtig, doch sind die Gerichte nicht als Oberaufsicht und Vormund über die beiden anderen, grundsätzlich gleichwertigen und gleichgestellten Gewalten gedacht. Es gibt gute Gründe, um die Zuständigkeit der Gerichte auf die Klärung von Streitfällen und den subjektiven Rechtsschutz für persönlich Betroffene einzuschränken, schließlich sollen sie nicht zu einem standardmäßigen, politischen Entscheidungsgremium werden, wir die beiden anderen Gewalten. Dies erfasst auch Organklagen, wenn sich ein richtiger Streit zwischen zwei Verfassungsorganen über ihre Rechte nicht anders beilegen lässt, aber keine abstrakten Normenkontrollen ohne streitiges Verfahren oder mit einer nicht in ihren Rechten verletzten Partei.

Problematisch wird es, wenn dadurch eine gerichtliche Kontrolle auf Verfassungsmäßigkeit so gut wie ausgeschlossen wird, insbesondere bezüglich grundlegender Rechte, die in der Verfassung verankert sind.

Auf Grund der Geheimhaltung der Überwachungsprojekte ist aber genau das der Fall, denn keiner konnte bisher Nachweisen persönlich und konkret betroffen zu sein. Eine unbewiesene Vermutung reicht nicht aus. Alle bisher angestrebten Verfahren bezüglich mutmaßlicher nachrichtendienstlicher Überwachungsprojekte wurden daher bisher auf Grund mangelnden standings spätestens am Supreme Court abgewiesen

Ironischerweise hat sich aber ausgerechnet durch die Enthüllungen durch Edward Snowden die Beweislage für zukünftige Gerichtsverfahren geändert. Wurden bisher Klagen auch mit der Begründung abgewiesen, es handele sich bei den Vorwürfen um unbewiesene Spekulation, stellt sich nun die Frage, ob der Supreme Court die restlichen Kriterien für die Klagebefugnis als gegeben ansieht. Es kann aber keine zufriedenstellende Lösung der Problematik sein, wenn es erst einen Geheimnisverrat mit Flucht nach China bedarf, um eine verfassungsrechtliche Überprüfung vor Gericht zu ermöglichen.

Die heutige standing doctrine gab es übrigens nicht immer. Ursprünglich gingen die US-Gerichte davon aus, dass jedermann gegen die Verletzung allgemeiner und öffentlicher Rechte vor Gericht Klage erheben könnte. Erst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts änderte der Supreme Court seine Rechtssprechung.

Nun kann es natürlich sein, dass diese Änderung in der Rechtsprechung nur eine fehlerhafte Rechtsauslegung korrigieren sollte, die gegen die eigentliche Bedeutung des 3. Artikels der US-Verfassung verstieß und die Stellung der Gerichte gegenüber den anderen beiden Gewalten unzulässig überhöhte. Doch ist die enge Auslegung des standings eben auch ein Kind der New-Deal-Ära, berüchtigt für ihre Änderungen in der Verfassungsauslegung, um den Weg frei für zahlreiche Bundesprojekte zu machen, die von der ursprünglichen Verfassung (und ihrer rechtmäßigen, geschriebenen Verfassungszusätze, die mindestens dreiviertel der Staaten ratifiziert haben) nicht gedeckt waren. Auch die standing doctrine hat diesem Ziel ursprünglich geholfen.



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