27. September 2013

Die Mutter der Nation


Erling Plaethe hat gestern in diesem Blog einen Beitrag über das Phänomen Angela Merkel veröffentlicht. Darin spricht er unter anderem das Streben der Kanzlerin nach einer Art Allzuständigkeit für das Leben der Bürger an.

Der Terminus „Kompetenz“ war – und ist im juristischen Jargon immer noch – ein Synonym der Vokabel „Zuständigkeit“: So liegt in Deutschland die Kompetenz für das Schulwesen bei den Bundesländern, so haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union diesem in Brüssel gestrandeten Wa(h)lfisch etliche Kompetenzen übertragen. Ob damit auch der – so die landläufige Bedeutung des Fremdwortes – nötige Sachverstand einhergeht, mag freilich nicht nur von ironiegeneigten Zeitgenossen bezweifelt werden.

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Nun kann man wohl davon ausgehen, dass Frau Merkel immer mehr Zuständigkeiten beansprucht, weil sie sich selbst mehr Sachverstand zur Lösung der einschlägigen Probleme zutraut als der Gesellschaft oder dem einzelnen Bürger. Und die Gesellschaft ebenso wie viele einzelne Bürger scheinen der Kanzlerin in dieser Einschätzung zu folgen: Zwar mögen am Horizont tiefschwarze Gewitterwolken namens Euro-Schuldenkrise, demographischer Wandel oder Energiewende dräuen, aber die Kapitänin hat das Staatsschiff in den letzten acht Jahren durch so manchen Sturm und um zahlreiche Klippen herum gelenkt. Die Stille des Meeres mag zwar nur eine halkyonische sein, doch solange die Fregatte auf Kurs segelt und der Proviant ausreicht, ist eine Meuterei wenig ratsam. Zumal die mutmaßlichen Rädelsführer der Revolte bereits als Leichtmatrosen ausgemacht sind oder sich noch nicht hinreichend bewährt haben. 

Um den Ozean zu verlassen und wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen: Angela Merkel hatte auch deshalb leichtes Spiel, weil die wirklich drängenden Probleme dieses Landes im Wahlkampf kaum thematisiert worden sind. Freilich, insbesondere die Alternative für Deutschland (AfD) ist aus diesem Kartell des Schweigens ausgebrochen, aber eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihrem Programm hat ja gerade nicht stattgefunden: Es ging doch nicht darum, ob bzw. wo die neue Partei recht hat, sondern ob bzw. wo sie rechts ist. Wenn die Positionen der politischen Neulinge so falsch und schädlich sind, mag sich der verwunderte Beobachter fragen, warum hat man dann nicht das (gemäß dieser Annahme leicht zu gewinnende) argumentative Duell gesucht, sondern dem Gegner ohne viel Federlesens die Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen? Die Kanzlerin und auch ihre Adlaten mussten sich dabei nicht einmal die Hände und das Gewissen schmutzig machen, übernahmen doch Politiker aus dem linken Spektrum und Repräsentanten der Medien nur zu gern die Rolle des Hirtenbuben, der vor dem Wolf warnt.

Das von SPD, Grünen und Linken beschworene Szenario eines zutiefst gespaltenen Landes mit schreiender sozialer Ungerechtigkeit war unschwer als billiges Ablenkungsmanöver zu erkennen. Freilich konnten insbesondere die SPD und die Grünen, die hinsichtlich aller wirklich drängenden Agenden mit beiden Armen im Mus-Topf des Einheitsbreis stecken, aufgrund dieser Zwangslage nicht mit Steinen oder Schlamm werfen. Es war eine Kampagne im Stile des Schattenboxens mit einem Herausforderer, dessen Schläge – wenn überhaupt – nur das eigene Kinn trafen.

Sobald Probleme schier unlösbar erscheinen, wünscht sich auch der erwachsene Mensch in die Zeit seiner Kindheit zurück, in der es einen Papa und/oder eine Mutti gab, der/die es schon richten würde(n). In unserer zur Infantilisierung neigenden Gesellschaft ist dieses Bedürfnis zweifellos stärker ausgeprägt als in Gemeinschaften, die keine Tradition des aufgeklärten Absolutismus, sondern eine lange kollektive Übung des Individualismus und der Eigenverantwortung aufzuweisen haben.

Man wird Merkel verzeihen, dass sie schon jetzt, da die Leichname der Wahlversprechen noch nicht einmal erkaltet sind, dem zukünftigen Koalitionspartner die Morgengabe der Steuererhöhung in Aussicht stellt. Doch ebenso sicher wird es in naher Zukunft zu einer pubertären Trotzreaktion gegen die mütterliche Fürsorge kommen – vielleicht auch erst in ziemlich genau vier Jahren.

Noricus


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