14. Juni 2011

Zitat des Tages: "Alle Studenten sollten Anarchisten werden". Noam Chomsky über seine politische Haltung

ZEIT Campus: Was war das Schlüsselerlebnis, das Sie zum Anarchisten machte?

Chomsky: Es gab keins. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich angefangen, in New Yorker Antiquariate zu gehen. Viele von ihnen wurden von Anarchisten betrieben, die aus Spanien stammten. Deshalb erschien es mir damals ganz natürlich, Anarchist zu sein.

ZEIT Campus: Sollen alle Studenten Anarchisten werden?

Chomsky: Ja. Studenten sollen Autoritäten herausfordern und sich damit in eine lange anarchistische Tradition einreihen.


Noam Chomsky in einem Interview mit "Zeit Campus", das seit drei Stunden auf "Zeit-Online" zu lesen ist.


Kommentar: Chomsky war und ist über buchstäblich Generationen ein Idol der Linken, vor allem der intellektuellen Linken.

Er meldet sich seit Jahrzehnten unverdrossen zu Wort; meist in der Pose des Mahners und vor allem des Anklägers. Erst kürzlich hat er das wieder getan, als er die Täterschaft der Kaida bei den Anschlägen von 9/11 bezweifelte und Ex-Präsident George W. Bush als jemanden bezeichnete, dessen "Verbrechen diejenigen Bin Ladens weit übertreffen" (siehe Bei Hochhuth geht mir der Hut hoch. Auch bei Noam Chomsky. Über die Verantwortungslosigkeit des Intellektuellen; ZR vom 22. 5. 2011).

Mir - und vermutlich den meisten - ist er immer als ein freischwebender Linker ohne Präferenz für eine bestimmte linke Partei oder Strömung erschienen. In dem Interview erfahren wir, daß er sich als Anarchist versteht; und zwar nicht in einem schwammigen Sinn, sondern mit konkretem Bezug zum politischen Anarchismus als einer Bewegung, die vor allem in Spanien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erheblichen politischen Einfluß hatte.

In Diskussionen über den Anarchismus wird gern betont, daß das Bild vom bombenwerfenden Anarchisten ein Zerrbild sei und daß Anarchisten im Gegenteil eine friedliche und herrschaftsfreie, eine sanfte Gesellschaft wollten.

Das ist schon richtig. Aber bei kaum einer anderen politischen Strömung besteht eine solche Diskrepanz zwischen dem deklarierten Wollen und dem faktischen Handeln; dem Handeln jedenfalls eines Teils ihrer Anhänger.

Sanftheit kippt leicht in Militanz um, wenn sich die Anderen den Sanften nicht fügen wollen. Wer Macht als solche ablehnt, der fühlt sich nicht selten moralisch berechtigt, gegen die Träger der Macht - Polizisten beispielsweise - mit allen Mitteln vorzugehen; auch mit Gewehren und Bomben, wenn er denn anders seine sanften Ziele nicht erreichen zu können meint.

Ob man die Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande, der sogenannten RAF, zu der Zeit, als sie ihre Taten verübten, zu Recht als "anarchistische Gewalttäter" bezeichnet hat, sei dahingestellt; zumindest der anfängliche harte Kern bestand aus orthodoxen Leninisten (siehe So macht Kommunismus Spaß (5): Terrorismus der RAF, Terrorismus der Dschihadisten; ZR vom 30. 7. 2007). Aber dieses Umkippen von Sanftheit in Gewalt ist in den Biografien einiger der Anführer doch offensichtlich. Gudrun Ensslin war vom schwäbischen Pietismus geprägt; Ulrike Meinhof begann als christliche Pazifistin (siehe "So macht Kommunismus Spaß" (4): Das Leben von Ulrike Marie Meinhof; ZR vom 31. 10. 2007).



Es gibt in den USA neben Anarchisten wie Chomsky auch die libertarians, die Libertären, deren politisches Denken ebenso wie dasjenige der Anarchisten um den Gegensatz von Freiheit und Macht kreist. Gerade gestern ist ihr bekanntester Vertreter, der republikanische Kongreßabgeordnete Ron Paul, als einer der Bewerber um die Kandidatur gegen Barack Obama im kommenden Jahr angetreten; wie immer ohne Aussichten, aber als jemand, der viel Respekt genießt.

Zwischen Libertären und Anarchisten gibt es mindestens zwei entscheidende Unterschiede: Libertäre wollen die staatliche Ordnung nicht beseitigen, sondern freiheitlicher gestalten; und sie haben - gerade weil sie freiheitlich denken - nicht die Utopie einer egalitären Gesellschaft, in der alle sozialen Unterschiede eingeebnet sind.

Libertäre verlangen etwas, das im demokratischen Rechtsstaat realisierbar ist; sie können diesen deshalb bejahen. Anarchisten träumen von einem Idealstaat jenseits des demokratischen Rechtsstaats. Das macht sie gefährlich. Wer, wie Noam Chomsky, die Studenten zum Anarchismus aufruft, dient nicht dem demokratischen Rechtsstaat, sondern gehört zu seinen Feinden.
Zettel



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