I.
Vorgestern, am 15. Juli 2022, ist von Cape Canaveral – Entschuldigung: vom „Kennedy Space Center“ (KSC) – nicht zu verwechseln mit der daneben gelegenen Cape Canaveral Space Force Station (CCSFS) – von der aus dem Apollo-Programm bekannten „Mondstartrampe,“ dem „Launch Complex 39B,“ eine Falcon 9 von SpaceX mit einer Cargo-Dragonkapsel an der Spitze in den abendlichen Sommerhimmel gestartet, um mehr als 2,5 Tonnen Ausrüstung und Versorgungsgüter zur Internationalen Raumstation zu bringen (genauer: 2668 kg). Gestern, um 17:21 mitteleuropäischer Sommerzeit, ist die Mission CRS-25 nach 16 Stunden Flugzeit am Harmony-Modul der ISS angedockt. Das Kürzel CRS steht übrigens für „Commercial Resupply Service“ (habe ich schon einmal erwähnt, daß Raumfahrtorganisationen in aller Welt sich durch einen geradezu obsessiven AKÜFI, einen AbKÜrzungsFImmel auszeichen, der jedes Militär vor Neid erblassen läßt?). Das wäre weiter nicht erwähnenswert, da solche Starts mittlerweile Routine sind und Starts von SpaceX im Wochentakt stattfinden. Mehr noch: in wesentlich kürzeren Abständen. Der nächste Start von SpaceX, mit dem die neueste Tranche von 53 Starlink-Satelliten in die Umlaufbahn gebracht wurde, fand heute Nachmittag von der benachbarten Startrampe 40 im KSC statt, deren Erststufe als zweiter Booster seinen 13. Flug absolvierte. Damit beläuft sich die Zahl der Erdtrabanten, die SpaceX im Verlauf der letzten 3 Jahre gestartet hat, auf 2858, von denen mehr als 2500 ihren Dienst als Kommunikationsrelais versehen. Die nächsten beiden Starts zum Aufbau dieses im Wortsinn weltumspannenden Kommunikationsnetzes finden am nächsten Donnerstag von der Air Force Base auf der anderen Seite der USA, der Vandenberg AFB statt (Mission 3-2) sowie am Sonntag in einer Woche, dem 24. Juli, (Mission 4-25), wieder von der Rampe 39. (Die vorgestellte Zahl bezeichnet die „Schale,“ die Höhe, in der die Satelliten kreisen; die 4. Schale weist jetzt mehr als 1000 Satelliten auf.) Mit dem heutigen Start hat SpaceX im laufenden Jahr den 31. Start absolviert und hat damit jetzt schon mit dem Jahr mit den bislang meisten Starts, 2021, gleichgezogen.
Allerdings ist es bei dem Start am Freitag zu einem nicht ganz so häufigen Phänomen gekommen, das mir Gelegenheit gibt, eine hoffentlich hübsch anzusehende Bilderstrecke zusammenzustellen und auf eben diese Himmelserscheinung hinzuweisen. Es handelt sich dabei um die Ausbildung eines „space jellyfish“ – für den Ausdruck hat sich im Deutschen bislang noch kein elegantes Pendant gefunden. „Weltraumqualle“ gemahnt doch eher an bedrohliche Wanderer im leeren Raum zwischen den Sternen in schlechten Science-Fiction-Filmen als an die oft sublime Schönheit, die die namensgebenden Geschöpfe in den schwerelosen Tiefen der Meere aufweisen. (Manche Spezies sind auch in der Tiefsee heimisch, in Tiefen bis zu 2700 Metern.) Zu einer solchen Erscheinung kommt es, wenn für Betrachter auf der Erdoberfläche die Sonne schon einige Zeit untergegangen ist, der Himmel also recht dunkel erscheint, die Rakete aber beim Start in größerer Höhe noch von der dort tiefstehenden Sonne angestrahlt wird und die Wolke der sich ausbreitenden Verbrennungsgase und der Staubpartikel der Feststoff-Booster erhellen. Da der Schub und die Menge des verbrannten Treibstoffs gleich bleibt, der Druck der Atmosphäre aber mit zunehmender Höhe abnimmt, wächst der Durchmesser der erhellten Wolke rapide. Für Betrachter am Startplatz kommt hinzu, daß sich die Rakete nicht senkrecht in die Höhe bewegt, sondern gleich nach dem Start begonnen hat, „gegen den Horizont“ abzukippen. Das Ziel ist, nicht nur Höhe zu gewinnen, sondern auch, Geschwindigkeit relativ zum Erdboden zu gewinnen. In Höhen zwischen 14 und 70 Kilometern Höhe weicht der Neigungswinkel von 20 bis 45 Grad gegen die Vertikale ab. Um in einer Umlaufbahn zu bleiben, muß die erzielte Geschwindigkeit gerade so hoch sein, daß die Fliehkraft so hoch ist, daß sie die in dieser Höhe noch fast so stark wirkende Erdanziehung ausgleicht. Für die ISS etwa in ihrer Umlaufbahn in 400 km Höhe beträgt die irdische Anziehungkraft 8,67 km/Sek² statt der 9,8 km/Sek² am Erdboden. Um das zu erreichen, muß ein Raumfahrzeug eine Geschwindigkeit von 7,8 km pro Sekunde erreichen, also gut 28.000 km/h. Das ist auch der Grund, warum während der Brennphase der zweiten Stufe, hoch über den bremsenden Luftschichten, die erreichte Höhe wieder sinkt – von gut 190 Kilometern auf 160 bis 150: die Rakete beschleunigt hier (praktisch) parallel zum Erdboden, aber da die Umlaufgeschwindigkeit in dieser Phase noch nicht erreicht ist, macht die irdische Schwerkraft ihr Recht vorerst wieder geltend. Raumfahrtlaien ist dieses aller Intuition wiedersprechende Phänomen erfahrungsgemäß so schwer zu erklären wie eine Abseitsfalle im Fußball.
Da die Rakete, wenn sie erst einmal 30, 40 Kilometer Höhe gewonnen hat, auch der Erdkrümmung folgend für Betrachter in gleicher Höhe zu verharren oder abzusinken scheint, scheint sie aus dieser Perspektive wie ein leuchtender Punkt im Zentrum der sich ausbreitenden hellen Schale zu verharren. Für kritische Zeitgenossen, die darin nur „unnötige Luftverschmutzung“ sehen möchten, sei gesagt, daß es sich bei den „Abgasen“ der Zweitstufe, die in gut 70 km Höhe gezündet wird, um Wasserdampf als Resultat der Knallgasreaktion zwischen flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff handelt, und daß als Produkte der Verbrennung des in der Erststufe eingesetzten Treibstoffs RP-1 (für „refined petroleum“) hauptsächlich Kohlendioxid (CO2), Kohlenmonoxid (CO) und Wasser (H2O) entstehen.
In dieser Folge von Standbildern, die ich dem Videostream der NASA entnommen habe, ist gut zu sehen, wie sich das oben beschriebene Zusammenspiel der Faktoren für einen Beobachter am Startplatz darstellt:
Das am Freitag beobachtete Phänomen ist, soweit es sich ausmachen läßt, in der Geschichte der Raumfahrt zuerst im September 1977 beim Start des russischen Satelliten Kosmos-955 von Kosmodrom Plesetsk aufgetreten, als rund um die Nordhalbkugel, von Kopenhagen und Helsinki bis Wladiwostok quallenfömige Leuchterscheinungen am Nachthimmel gemeldet wurden. Im Russisch hat die se Erscheinung neben der „offiziellen“ Bezeichnung Космические медузы (kosmitscheskije medusi, ja: „Weltraumqualle“) auch noch den Namen Petrozawodsker Phönomen, Петрозаводский феномен. Zur wohl spektakulärsten Manifestation kam es im Dezember 2009 über dem äußersten Norden Norwegens und Schwedens, als die dritte Stufe einer von einem russischen U-Boot gestarteten Bulawa-Interkontinental-Rakete bei einer Fehlfunktion außer Kontrolle geriet, sich um die eigene Achse zu drehen begann und eine absolut irreal wirkende, rostrote Spirale im nächtlichen Himmel hinterließ (der Kleine Zyniker war einen Augenblick in Versuchung „Inkontinental-Rakete“ zu tippen). Zahlreiche Medien und Betrachter waren beim ersten Anblick der durchs Netz geisternden Bilder der festen Überzeugung, hier könnte es sich nur um einen Scherz handeln, der einem Bildbearbeitungsprogramm entsprungen sei.
(Das "Petrozawodsker Phänomen")
(Die "norwegische Himmelsspirale" von 2009)
Nachfolgend einige Beispiele für solche "Weltraumquallen":
(CSR-15, Juni 2018)
(Iridium-4-Mission, Dezember 2017)
("Inspiration-4-Mission," September 2021)
II.
„Oben leuchten die Sterne / und unten leuchten wir“ heißt es beim Martinsumzug im Kinderlied, und ein erheblicher ästhetischer Reiz ist diesen nicht geplanten und unvorhergesehenen Erscheinungen nicht abzusprechen – gewissermaßen eine vergrößerte Version der „Himmelschreiberei“ – bei der es allerdings, seit sie Anfang der 1930er Jahr en vogue kam, in aller Regel um Reklame ging. Nur wenige Künstler haben sich des Mediums als künstlerische Ausdrucksform zu bedienen gesucht – etwa der Brasilianer Vik Muniz mit seinen „Pictures of Clouds.“ SF-Leser können sich hier an J. G. Ballards Erzählung „The Cloud Sculptors of Coral D“ von 1967 erinnern, in dem Formgebung – und Fixierung – von Wolken für die futuristische Künstlerkolonie von „Vermilion Sands“ einer der „Trends der Saison“ wird (der wie alle solchen Trends in diesem Zyklus von Geschichten in einer Katastrophe mündet).
Apropos Science Fiction: solche Himmelsblüten sind auch nicht zu verwechseln mit der „Hongkong-Rose“ aus der gleichnamigen Erzählung des niederländischen Autors Tais Teng aus dem Jahr 1994. („Eigentlich“ heißt der in Den Haag geborene Autor, der im April seinen 70. Geburtstag feierte und der das wohl umfangreichste Oeuvre eines niederländischen SF-Autors vorzuweisen hat, ja Thijs van Ebbenhorst-Tengbergen, aber, wie er selbst schreibt: „wer kann sich dergleichen als Verfassernamen merken?“). In „Hongkong rozen,“ 1995 im Sammelband „Laserlicht“ bei Babel SF aufgenommen, handelt es sich – mutmaßlich - um eine perfide Terrorwaffe, die die nach Unabhängigkeit strebenden Kolonisten auf Mars und Mond gegen die Zivilbevölkerung der Erde einsetzen: die am Himmel erzeugten fraktalen Muster sind so gestaltet, daß sie das Sehzentrum der Betrachter, die sie zu lange ansehen, überlasten und die neuronalen Verknüpfungen „kurzschließen,“ und so zu Blindheit, irreparabler Schädigung des Hirns und zum Tod führen.
„Ein Himmel wie ein schwarzes Tintenfaß, der von Satelliten wimmelte. Jenseits der sich träge bewegenden Lichtpunkten hing eine Rose wie ein eisiges Nordlicht. Sie öffnete ihren Kelch in atemberaubender Langsamkeit und entrollte Staubblätter aus eingefrorenem Blitzleuchten.
Dem dünnen Chai klappte der Kiefer nach unten, seine Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen, um kein Photon des wunderbaren Schauspiels zu verpassen. Die Rose faszinierte ihn. So perfekt, so kühl. Ich könnte sie mir tausend Jahre lang anschauen.
Ein Finger der Angst strich ihm über das Rückgrat.
Der Nachthimmel gehört uns nicht. Wir haben dort Feinde.
„Mach die Augen zu!“ schrie er sein Schwesterchen an. „Das ist ein Trick der Himmlischen!“
Trotz seiner Angst, ungeachtet seiner wachsenden Gewißheit, daß es sich hier um eine Waffe handelte und er genau das tat, was die Himmlischen beabsichtigt hatten, konnte der dünne Chai seinen Blick nicht von der Rose abwenden. Ein brandneuer Schmetterling, schoß es ihm durch den Kopf, der gerade aus seinem Kokon geschlüpft ist und seine noch feucht glänzenden Flügel ausbreitet.
Ihm war völlig klar, wie selbstmörderisch es war, hinzusehen. Der Fraktale Terror lag gerade eine Generation zurück. Milliarden waren gestorben, nachdem sie nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf die Bilder geworfen hatten, die unversehens auf ihren Bildschirmen aufblühten.
Der Einzige Weg hatte die visuellen Gegenstücke zu Nervensignalen verbreitet – eine von Zacken zerrissene Spirale, die augenblicklich zum Herzstillstand führte, fünf rotierende Polyeder, die das Gehirn mit Endorphinen überfluteten, bis es in einem Koma versank, aus dem es keine Rückkehr gab.
Wahrscheinlich handelte es sich bei dieser Rose um eine dritte Variante.
Eine Minute, zwei. Plötzlich öffnete sich die Hülse und gab einen Kern aus blasser Watte frei. Quälend langsam hatte die Rose ihren Kelch entfaltet, Ring um Ring aus weißer, schwerer Seide, bis sie als vollendetes Schmuckstück in der Leere schwebte.
Zwei Millionen Meilen jenseits der geostationären Umlaufbahn verdampften Ströme von Natrium und Brom aus dem damit geimpften Kometenkern. Sie ließen den Himmel mit einem falschen Polarlicht aufleuchten.
Auf dem fernen Ceres, in der Abgeschlossenheit ihrer privaten Kuppel, öffnete Nathalia Ribeiro eine zweihundert Jahre alte Flasche Cola und trank auf ihre eigene Genialität. Dies war ihre erste Rose – mehr ein erster Versuch als ein wirkliches Kunstwerk. Sollten andere ihr nacheifern, sie vielleicht übertreffen – aber sie war die erste gewesen, der Pionier.
Am Nachthimmel der Erde verblaßte die kolossale Rose zu einem formlosen Nebelfleck.
Obwohl sie das Gegenteil eines tödlichen Fraktals darstellte, war die Blume trotzdem eine Kriegserklärung gewesen.
Der Haß der Himmlischen war immer noch ungebrochen.
(Die Titelzeichung stammt übrigens von Tais Teng selber.)
Bei der beschriebenen letalen optischen Waffe handelt es sich um einen „Basilisken“ (der Name ist selbsterklärend), wie ihn David Langford zuerst in seiner 1988 erschienenen Erzählung „BLIT“ beschrieben hat: ein auf dem Computer erzeugtes und über das Internet verschicktes Muster, das zum Kurzschluß des optischen Zentrums führt; Variationen eines solchen „Langford Hacks“ (etwa als Grafitto einer Stadtguerilla) finden sich in Ken MacLeods Roman „The Cassini Division“ (1998) und in Neal Stephensons „Snow Crash“ (1992).
(Spaceblooms, von "Awk Ro")
Und man sollte solche Himmelsblumen nicht verwechseln mit den Kreationen, die „Awk Ro“ in seinem angeblich im Jahr 2267 erschienenen Bestimmungsführer für Pflanzenleben im Weltraum vorgestellt hat – 26 der dort präsentierten 33 Gattungen sind übrigens zum Verzehr für hungrige Raumfahrer (jedenfalls der Spezies Homo sapiens) geeignet. Realiter verbirgt sich hinter dem Namen der kanadische Computerkünstler Martin Naroznik aus Vancouver, der die Graphiken, die er auf seinem PC entworfen hatte, 2004 in Buchform bei Etculli Publishing in Buchform herausbrachte (der Band ist längst vergriffen und so rar wie die dort präsentierten Kreationen). Und man sollte sie auch nicht verwechseln mit tatsächlichen „Himmelsblumen“ – den ersten wirklich im Weltraum gezüchteten Blumen, die 2016 im Zug botanischer Versuche auf der ISS gewachsen sind. Das Veg-01-Experiment wurde im April 2014 zur Internationalen Raumstation gestartet, im November 2015 durch den Astronauten Scott Kelly aktiviert und das Wachstum der Blumen für 90 Tage dokumentiert, davor die Pflanzen am 14. Februar 2016 gepflückt und zur genauen Analyse zur Erde zurückgeschickt wurden. Wie man aus den Bildern sehen kann, handelte es sich dabei um 13 Zinnien.
Der Zusatz dieses Titels verdankt sich Carl Gustav Jungs kleiner Schrift über die „fliegenden Untertassen“ von 1958: „Ein moderner Mythus. Von Dingen, die am Himmel gesehen werden.“ Jung kann in diesem letzten Buch, das zu Lebzeiten von ihm erschienen ist, über die Natur und tatsächliche Beschaffenheit naturgemäß nichts sagen – nicht einmal, ob sie „tatsächlich real“ sind und nicht nur Fehldeutungen natürlicher Phänomene und Zeitungsenten. Immerhin merkt er kritisch an, daß es noch nicht einmal den „photographiebessenen Amerikanern“ gelungen sei, zweifelshafte Aufnahmen davon zu erstellen, was eher gegen ihre Realität spräche. Ihm bleibt nur, anhand dieser Berichte und der Weise wie sie in den Träumen und Vorstellungen seiner Patienten auftauchen, Parallelen zu den ewigen Symbolen festzustellen, die er auch schon in den Bildgebungen der alchemistischen Scharteken immer wieder bemerkt hatte, seit er in den 1920er Jahren begonnen hatte, darin keine Anleitung zur Goldmacherei zu sehen oder eine verfrühte, verfälschte Chemie, sondern das „Große Werk“ als symbolische Darstellung der psychischen Individuation zu interpretieren.
U.E.
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