6. Januar 2022

Der Brummkreisel



Eigentlich - "eigentlich" - ist dies ein Job für den ArgoNerd, der an dieser Stelle vor kurzem im Zusammenhang mit dem Kurznachrichtenmedium Twitter erwähnt wurde. Andererseits ist dessen übliches Verfahren hier nicht mehr hinreichend, um dem Anlaß gerecht zu werden. Sein Verfahren besteht darin, fast immer ohne Erläuterung oder Überschrift zwei zeitversetzte öffentliche Äußerungen von Politikern nebeneinander zu setzen, die trefflich den Satz illustrieren, den die größte deutsche Kanzlerin in der Geschichte des Universums im Jahr 2008 getan hat: "Man kann sich nicht darauf verlassen, daß das, was vor den Wahlen gesagt wird, auch wirklich nach den Wahlen gilt, und wir müssen damit rechnen, daß das in verschiedenen Weisen sich wiederholen kann.“

Deshalb seien an dieser Stelle nur einige Aussagen hergesetzt, in denen sich Christian Lindner, Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei und seit jetzt vier Wochen Finanzminister dieses Landes, im Lauf des letzten halben Jahres zum Thema "Impflicht" geäußert hat.

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Drei Monate vor der Bundestagswahl äußerte er sich im Juli so:

FDP-Parteichef Lindner hat sich gegen eine Impfpflicht ausgesprochen. Zugleich forderte er im ZDF eine "politische Garantie", dass ein neuer Lockdown ausgeschlossen werde.

FDP-Chef Christian Lindner lehnt eine Impfpflicht, wie sie in Frankreich eingeführt wird, für Deutschland ab. "Ich halte diesen Weg für Deutschland nicht für richtig", sagte er im ZDF-Morgenmagazin. (ZDF, 26.7.2021)


Nach der Wahl, aber noch während der laufenden Koalitionsverhandlungen, hatte sich seine Sicht bereits ausdifferenziert.

Politiker von SPD und FDP schließen Impfpflicht aus. In Österreich soll die Spritze gegen Corona bald verpflichtend sein. Politiker von SPD und FDP schließen das für Deutschland aus Während die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht anhält, wird eine Regelung für bestimmte Berufsgruppen nach Einschätzung des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner eingeführt werden. "Inzwischen haben sich Bund und Länder für eine einrichtungsbezogene Impfpflicht ausgesprochen. Sie wird deshalb kommen", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Zu Beginn der Pandemie hätten alle, einschließlich der Bundeskanzlerin, Impfpflichten ausgeschlossen. Praktiker hätten auch Bedenken gehabt, dass betroffene Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlassen könnten. "Inzwischen wird das allgemein anders eingeschätzt", sagte der FDP-Chef. (Die ZEIT, 20.11.2021)


Nach der Vereidigung hörte es sich dann freilich so an (genau gesehen fällt der 6. Dezember natürlich zwei Tage vor die Vereidigung im Buntestag, aber zu diesem Zeitraum waren die Modalitäten der Koalitionsvertrags in trockenen Tüchern und längst veröffentlicht):

Tatsächlich hat Lindner im Lauf des Jahres seine Positionen massiv verändert. Im Januar äusserte er selbst gegen eine einrichtungsbezogene Impfpflicht starke Vorbehalte. In einem Statement sprach er davon, dass die FDP eine Impfpflicht auch für in Pflegeberufen tätige Menschen «aus verfassungsrechtlichen Gründen für hochproblematisch» halte. Genau diese wird derzeit allerdings von der neuen Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP mit dem Sozialdemokraten Olaf Scholz an der Spitze auf den Weg gebracht.

Und noch Anfang September war Lindner grundsätzlich gegen eine allgemeine Impfpflicht. «Eine Impfpflicht wäre nicht verhältnismässig», sagte er in der ZDF-Sendung «Was nun?». Das Coronavirus könne schliesslich nicht mit einer Impfpflicht, wie es sie bei den Masern gebe, ausgerottet werden.

Am vergangenen Donnerstag dann der Schwenk: Bei «Bild live» sprach sich Lindner für eine Impfpflicht aus: «Die Impfpflicht ist ein scharfes Schwert, aber ich glaube, sie ist verhältnismässig.» Lindner führte dasselbe Argument wie im September an. Allerdings kam er zu dem entgegengesetzten Ergebnis: «Bei Pocken und Masern hat der Staat eine Impfpflicht ausgesprochen, ohne dass das zu verfassungsrechtlichen Bedenken geführt hätte.» (NZZ, 6.12.2021)


Und heute wiederum, bei seinem Auftritt auf dem traditionellen Dreikönigstreffen der FDP, hat Lindner nun, ganz überraschend, die Berufung auf die Freiheit als Fundament des Liberalismus wiederentdeckt:

Lindner sieht Impfpflicht als empfindlichen Eingriff in Selbstbestimmungsrecht

Finanzminister Lindner legt sich in Sachen Impfpflicht nicht fest und betont, Freiheit, nicht Schutz der Gesundheit sei »das höchste Gut unserer Verfassung«.

Eine Impfpflicht bezeichnete er als empfindlichen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Menschen, über das zu Recht ohne Parteilinien entschieden werden müsse. »Ich bin nicht mehr prinzipiell dagegen«, sagte Lindner weiter. »Aber ich bin auch nicht positiv entschieden.«

Lindner, der auch Bundesfinanzminister ist, sagte, der Verlauf der Pandemie in den vergangenen Wochen sei eine Bestätigung für ein maßvolles Vorgehen bei Eingriffen in Grundrechte. Die Krisenstrategie der neuen Bundesregierung mit 2G- und 3G-Regeln für den Hygieneschutz, der Wiedereinführung kostenloser Tests und einem Krisenstab mit einem Bundeswehrgeneral an der Spitze zeige Wirkung. (Spiegel Online, 6.1.2022)


Der kleine Zyniker, der hier immer mitschreibt (und der im letzten Satz zuerst "an der Spritze..." gelesen hatte), ist sich sicher, daß Herr Lindner diese Erkenntnis zugewachsen ist, nach dem ihm während der Rauhnächte zwischen Heiligabend und dem Dreikönigstag, wo nach dem Volksglauben die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Verstorbenen traditionell durchlässiger sind ("ubi sunt / qui ante noch in mundo fuerunt?" heißt es in den "Carmina Burana") die Geister von Gustav Heinemann, Theodor Heuss und Hans Dietrich Genscher um Mitternacht erschienen sind und ihm die Tradition der Freiheit und Selbstbestimmung ins Gedächtnis gerufen haben. Und nicht etwa die Überlegung, daß sich eine Impfplicht womöglich nicht in wenigen Wochen praktisch durchsetzen läßt, allein schon, weil diese Regierung mangels eines nationalen Impfregisters gar nicht weiß, wer sich unter den Geimpften und mit welchem Status befindet. Auch nicht, weil sich ein hihes Gericht finden könnte, daß einen solchen Schritt für verfassungswidrig erklären könnte. Und nicht deshalb, weil man in den Nachbarstaaten damit spielt, auf solche Maßnahmen zu verzichten. Und schon gar nicht, weil im Zuge des explodierenden Zahlen der Omikron-Infektionen und der ganz überwiegend wie ein Schnupfen verlaufenden Fälle, die, wie aus den ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen ersichtlich, zudem nicht nur für eine massive Immunität gegen die Omikron-Variante sorgt, sondern auch durch Kreuzreaktivität gegen die Delta-Variante, die für hohe Sterbezahlen gesorgt hat und der die "Impfplicht!"- und Lockdownpanik geschuldet ist, klar wird, daß ein solcher Schritt schlicht sinnlos wäre und auch nch dem letzten vor Augen führen würde, daß es unserer Obrigkeit längst nicht mehr um die Beendung der Pandemie und um zielführende maßnahmen geht, sondern einzig um die Gängelung und Kujonierung der Bürger.

Und derselbe kleine Zyniker merkt an, daß der Name "Wendehals," mit dem man solche Funktionäre vor 30 Jahren belegt hat, in diesem Fall unangemessen ist. Denn diese Apparatschiks ruachten nur einmal ihren Kurs zu ändern und konnten hinfort als einsichtig und geläutert gelten. Welcher Nutzen aber soll unserer Obrigkeit aus der, sagen wir, Wendigkeit eines Herrn Lindner erwachsen? Auch hier hat der kleine Zyniker einen Vorschlag in petto: sollte es, etwa angesichts der heutigen Vorgänge in Kasachstan und einem möglichen Eingreifen russischer Truppen zur Wahrung der öffentlichen Ordnung, zu einem tatsächlichen Bruch der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen (sprich: Europa) kommen (der kleine Zyniker merkt an, daß es ihn nicht im mindesten wundern würde, wenn hier westliche Dienste und Agents provocateurs ihre Hände im Spiel hätten, um genau das herbeizuführen, nachdem Herr Putin zögert, durch eine Invasion der Ukraine diesen Vorwand zu liefern) zu einer vollständigen Einstellung der Versorgung Deutschlands mit russischem Erdgas kommen, dann könnte man immer noch Herrn Lindner ans Stromnetz anschließen. Seine Rotationsenergie reicht allemal hin, um dieses Land auf längere Zeit mit Energie zu versorgen.

U.E.

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