2. Mai 2021

"Vom Verschwinden im Bild": Die Mumins, Virginia Woolf und die "Fahrt zum Leuchturm"





***

I.
Die vielleicht bekannteste Episode des "Verschwindens im Bild," zumindest was für junge Leser im Kindesalter die erste Begegnung mit dieser Trope angeht, findet sich in einem Buch, dessen Status im Hinblick auf sein Publikum durchaus schillert. Eigentlich sind es sogar zwei Stellen: in Roald Dahls "The Witches" von 1983 (1986 in deutscher Übersetzung als "Hexen hexen" erschienen) findet sich in der Passage, in der die aus Norwegen stammende Großmutter ihrem ungläubigen Enkel von der Existenz wirklicher böswilliger Zauberinnen erzählt, als Illustration die Geschichte von ihrer Jugendfreundin, die von einer solchen Hexe in ein Gemälde gebannt wurde.

­

"Der zweite Fall war sehr merkwürdig," sagte meine Großmutter. "Es gab da eine Familie, die Christiansen hieß. Sie lebten auf dem Hollenkolmen, und sie besaßen ein altes Ölbild, das im Wohnzimmer hing und auf das sie sehr stolz waren. Auf dem Bild sah man eine Schar Enten auf dem Hof vor einem Bauernhaus. Es waren keine Menschen auf dem Bild, nur die Enten auf der Wiese und das Haus im Hintergrund. Es war ein schönes, großes Gemälde. Na ja, eines Tags kam ihre Tochter Solveg aus der Schule und aß einen Apfel. Sie erzählte, daß eine nette Frau ihn ihr auf der Straße geschenkt hätte. Am nächsten Morgen war Solveg nicht in ihrem Bett. Ihre Eltern suchten sie überall, aber sie konnten sie nicht finden. Plötzlich rief ihr Vater laut: "Da ist sie ja! Sie füttert die Enten!" Er zeigte auf das Ölbild, und tatsächlich war sie da zu sehen, wie sie die Enten mit Brot aus einem Korb fütterte. Ihr Vater lief zu dem Bild und faßte sie an - aber das half nichts: sie war Teil des Gemäldes, nur ein Bild, das auf die Leinwand gemalt war."

"Hast du das Bild mit dem kleinen Mädchen darauf selber gesehen, Großmutter?"

"Oft," sagte meine Großmutter, "und das Seltsame war, daß die kleine Solveg immer wieder ihren Platz wechselte. Manchmal war sie tatsächlich im Haus, und man konnte sehen, sie sie aus dem Fenster schaute. Aber sie hat sich nie bewegt, sie war nur eine Gestalt, die mit Ölfarbe gemalt war. Es war seltsam," sagte meine Großmutter. "Es war ganz merkwürdig. Und das Seltsamste war, daß sie im Bild älter wurde, als die Jahre vergingen. Nach zehn Jahren war aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau geworden. Nach dreißig Jahren war sie eine reife Frau. Und zum Schluß, 54 Jahre nachdem das alles passiert war, verschwand sie einfach aus dem Bild."

"Soll das heißen, daß sie gestorben ist?" fragte ich.

"Wer weiß das schon?" sagte meine Großmutter. "In der Welt der Hexen passiert vieles, was keiner von uns versteht."




(In der Verflimung von 1990 mit Anjelica Huston als Oberhexe wurde der Name des Mädchen in "Erica" geändert.)

* * *

Die andere, ebenfalls skandinavisch grundierte Episode, um die es hier gehen soll, stellt das genaue Gegenteil dieser Schreckensvision dar: hier ist das Gemälde Idylle und bergender Zufluchtsort, kein dämonischer Ort der magischen Verbanung aus der Welt der Lebenden. Sie findet sich im achten und vorletzten der neun Bände, in denen die schwedische-finnische Autorin Tove Jansson (1914-2001) den trügerisch idyllisch-beschränkten Kosmos des Mumintals und seiner Bewohner geschildert hat. In "Pappan och havet" von 1965 überwiegen - nicht zum ersten Mal - die melancholischen Töne, die Prüfung der Beziehungen und die Frage nach dem angemessenen Leben, die das Buch weit aus der Sphäre der unschuldigen Kinderliteratur über die Abenteuer einiger schlichter Trollgestalten hinausheben. Der Abenteuerurlaub auf der einsamen Insel, auf der Muminvater den erloschenen Leuchtturm wieder in Betrieb nemhen will, wird zur Suche nach dem eigenen Selbst - für alle Beteiligten. Im sechsten Kapitel, "Neumond," bricht die Muminmutter, von Sehnsucht nach dem heimischen Tal getrieben, aus ihrer bisherigen Rolle heraus und erschafft sich mit Hilfe der Kunst ganz im Wortsinn ein Refugium, eine Zuflucht.

* * *



Die Muminmutter stand plötzlich auf und kletterte auf den Dachboden. Als sie wieder herunterkam, hatte sie drei Tüten Netzfarbe gefunden, Braun, Blau und Grün, eine Dose mit Bootsmennige, etwas Kienruß und zwei alte Pinsel.

Und dann malte die Muminmutter Blumen an die Leuchtturmwände, große, kräftige Blumen, weil die Pinsel so dick waren, der Kalk sog die Farben sofort auf, sie wurden hell und leuchtend - ach, es sah wunderschön aus! Das hier machte hundertmal mehr Spaß als das Holzsägen. Eine Blume nach der anderen erblühte auf der Wand, Rosen, Ringelblumen, Stiefmütterchen, Pfingstrosen ... Die Muminmutter erschrak fast, weil sie so schön malen konnte. Unten malte sie hohes grünes, wehendes Gras, ganz oben hätte sie gern eine Sonne gehabt, aber ohne gelbe Farbe ging das ja nicht.

Das Wandgemälde der Muminmutter wurde von Tag zu Tag schöner. Inzwischen war sie bei der Tür angelangt, sie hatte große grüne Apfelbäume gemalt, die voller Blüten und Früchte waren, unten im Gras lagen ebenfalls Äpfel Überall wuchsen Rosenbüsche, große rote Gartenrosen. Jeder einzelne Busch war mit weißen Muscheln eingefaßt. Der Brunnen war grün, der Holzschuppen braun.

Nach diesem Abend erinnerte das Wandgemälde der Muminmutter immer mehr ans Mumintal. Die Sache mit der Perspektive fiel ihr allerdings schwer, und ab und zu sah sie sich gezwungen, manche Dinge aus dem Zusammenhang zu nehmen und einzeln woanders hinzumalen. Den Herd zum Beispiel und ein paar Sachen aus dem Salon. Es war einfach unmöglich, jedes Zimmer komplett unterzubringen, schließlich konnte siie nur jeweils eine Wand bemalen.




Am besten malte die Muminmutter direkt vor Sonnenuntergang, dann war sie allein in dem leeren Turm und konnte das Mumintal viel deutlicher vor sich sehen.

Eines Abends begann am westlichen Himmel der schönste und heftigste Sonnenuntergang zu lodern, den die Muminmutter je gesehen hatte. Flammen in Rot und Orange, Rosa und Neapelgelb schossen in die Höhe, aus den Wolken troffen brennende Farbens aufs dunkle, stürmische Meer. Der Wind blies inzwischen aus Südwest, kam von einem pechschwarzen, sehr scharf umrissenen Horizont direkt auf die Insel zu.

Die Muminmutter stand auf dem Eßtisch und malte mit roter Mennige Äpfel in einen Baumwipfel. Wenn sie nur diese Farben draußen am Himmel zum Malen gehabt hätte, das wären vielleicht Rosen und Äpfel geworden!

Während sie den Himmel betrachtete, kroch das Abendlicht an der Wand hinauf und zündete die Blumen in ihrem Garten an. Sie wurden lebendig und begannen zu leuchten. Der Garten öffnete sich, der geharkte Kiesweg mit seiner unbeholfenen Perspektive stimmte plötzlich und führte direkt zur Veranda. Die Muminmutter legte die Pfoten an den Baumstamm, er war sonnenwarm. Sie roch, daß der Flieder blühte.

(...) Sie schlang die Arme um ihren Apfelbaum und schloß die Augen. Die Rinde war rauh und warm. Das Rauschen des Meeres verstummte. Die Muminmutter war in ihren Garten hineingegangen.


Das Leuchtturmzimmer lag jetzt leer und verlassen da. Die Farbtöpfe standen noch auf dem Tisch und draußen vor dem Fenster setzte die Sturmschwalbe ihren einsamen Reigentanz fort. Als der Westhimmel erlosch, flog sie aufs Meer hinaus.

Die Familie kam zum Tee nach Hause.

"Wo ist Mutter?" fragte Mumin.

"Vielleicht ist sie Wasser holen gegangen," sagte der Muminvater. "Sie hat wieder einen neuen Baum gemalt."

Die Muminmutter stand hinterm Apfelbaum und beobachtete, wie ihre Familie Tee kochte. Sie sahen alle leicht verschwommen aus, als bewegten sie sich unter einer Wasserfläche. Das, was passiert war, hatte die Muminmutter nicht besoners überrascht. Endlich befand sie sich in ihrem eigenen Garten, wo alles an seinem Platz war und so wuchs, wie es wachsen sollte. Das eine oder andere war nicht ganz richtig gezeichnet, aber das machte nichts. Sie setzte sich ins hohe Gras und lauschte dem Kuckuck, der irgendwo hinter dem Fluß rief.

Als das Teewasser kochte, war die Muminmutter fest eingeschlafen. Den Kopf hatte sie an ihren Apfelbaum gelehnt.




* * *

Schon ab dem zweiten Band um die "knuffige," vermeintlich schlicht-harmlose Trollfamilie, "Komet im Mumintal" (Kometjakten) von 1946, sind die Zeichen unübersehbar, daß dieser kleine, beschränkt-unschuldige Kosmos in seinem Bestand gefährdet ist: der Komet, der die Erde zu vernichten droht, der Treck Mumins durch das ausgetrocknete Meer zu der Sternwarte, in der er sich Orientierung und Rat bei den dortigen Sternkundigen holen will und die ihm nicht zuteil wird, der Auftritt der Morra, des fleischgewordenen (?) Prinzips alles Lebensfeindlichen, der Erstarrung, des Entropie: das ist nicht das, was man von harmloser, naiver Unterhaltung für Kinder erwarten sollte. Anders als die vermeintliche Anarchie der Gestalten von Tove Jansssons Land- und Zeitgenossin Astrid Lindgren werden hier tiefere Fragen des Menschseins berührt. Pippi Langstrumpfs Späße entfalten ihren widerporstigen Effekt nur auf den Buchseiten der Geschichte; anders als die Welt der Mumins unterliegt diese Welt keinen grundstürzenden Veränderungen und keiner grundsätzlichen Gefährdung. Spätestens seit den Eingangspassagen von "Trollvinter" ("Winter im Mumintal") von 1957, als Mumin aus dem Winterschlaf gerissen wird und sich mit der Erfahrung der schneebedeckten, lebensfeindlichen Winterlandschaft ohne Beistand behelfen muß, hat der Erzählkompaß Tove Janssons vom Pikaresken auf das Existentialistische gewechselt. Aber während diese Einschüsse in den frühen Bänden noch sporadisch bleiben, grundieren sie in den beiden letzten Büchern, eben "Pappan och havet" und "Sent i november" (1970) den gesamten Text.

Diese beiden letzten Bücher markieren auch eine neue Richtung im Werk der Autorin, die sich hauptsächlich als Künstlerin sah und erst durch den Erfolg des ersten Mumin-Buchs von 1945 schrifstellerisch tätig wurde. Ab den frühen 1930er Jahren waren die kleinen, in der Gestalt an aufrechtgehende Nilpferd(chen) erinnernden Wesen auf ihren Aquarellen immer wieder aufgetaucht. Die erste Geschichte, in denen daraus Charaktere wurden, eine Familie auf der Suche nach einem neuen Zuhause, entstand 1944. Nach der Bombardierung Helsinkis durch sowjetische Bomber im Sommer 1944, angesichts der ungewissen Lage, der Präsenz deutscher Truppen im Land und dem sogenannten "Fortsetzungskrieg" nach dem Winterkrieg von 1939/40 gegen die rote Armee im Norden des Landes und im angrenzenden Karelien fühlte sie sich außerstande, wie gewohnt zu zeichnen und zu malen. Das Erzählen war ein Ausweg.



(Tove Jansson, "Das Fest," Wandbild für das Rathaus von Helsinki, 1947)

Als Künstlerin stand Tove Jansson ein Leben lang im Schatten ihrer Mutter, der Graphikerin Signe Hammersten-Jansson (1882-1970). Es war kein gespanntes Verhältnis, aber der Konflikt von kreativen Geistern aus erfolgreichen Künstlerfamilien, die ihren eigenen Weg aus dem Schatten nehmen wollen, ist altbekannt und wohl unvermeidlich. Tove Jansson war für respektable, aber eben als trivial angesehene Kinderunterhaltung zuständig (ein Genre, dessen Ruf als belanglos und schlicht weltweit gilt); ihre Mutter war eine angesehene Künstlerin. Nicht zuletzt stammen von ihr die Entwürfe für mehr als 220 Briefmarken der finnischen Post. Nach ihrem Tod - im selben Jahr, als "Sent i november" erschien, wandte Tove Jansson sich vom Mumin-Kosmos ab und verfaßte anschließend Bücher, die sich explizit an ein erwachsenes Publikum wandten: die Romane "Die Sonnenstadt" (1974) und "Der Steinacker" (1984), zwei Bände mit Erinnerungen und mehr als ein halbes Dutzend Bände Kurzgeschichten. Die Themen blieben dieselben wie in den letzten beiden Mumin-Büchern: die Einsamkeit des modernen Menschen, die eigenbrötlerisch ihren skurrilen Interessen nachgehenden Sonderlinge, die Welt aus dem Blickwinkel "am Rand der Welt". Keins dieser Bücher - bis auf den Memoirenband "Die Tochter des Bildhauers" (1968), der ihren Kindheitserinnerungen gewidmet ist - hat die Leserschaft oder die Resonanz erhalten, wie sie ihren Kinderbücher zuteil geworden ist. Keins davon entwickelt jenen Sog, jene traumhafte Folgerichtigkeit, wie sie etwa die Bildwanderung der Muminmutter kennzeichnet.



II.
An dieser Stelle soll es aber nicht allein um den Hinweis auf einen weiteren "Ausflug ins Bild" gehen, sondern um meine Vermutung, daß es sich bei diesen "wundersamen Inselabenteuern" um eine Replik, eine Anspielung, sogar eine Neufassung einer literarischen Vorgabe handelt, auf die bislang nicht verwiesen worden ist (was nicht überrascht, da das Lesepublikum beider Romane kaum Überschneidungen aufweisen dürfte). Und bei dieser Vorlage handelt es sich um einen Roman, der im Urteil der Kritiker und auch der Leser zu den bedeutendsten Romanen der englischen Literatur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt, nämlich Virginia Woolfs "Die Fahrt zum Leuchtturm" ("To the Lighthouse") aus dem Jahr 1927. Natürlich kann ich nicht beweisen, daß zwischen den beiden Büchern eines solche Seelenverwandtschaft, eine solche direkte Abhängig besteht - sowenig ich "nachweisen" kann, daß Vladimir Nabokov sich tatsächlich zur Abfassung von "Lolita" durch einen Non-Maigret-Roman von Georges Simenon hat anregen lassen. In der Regel fällt ein solcher wasserdichter Nachweis in der Literaturwissenschaft schwer: wenn nicht schriftliche Äußerungen, unterstrichene Exemplare aus der Bibliothek des betreffenden Autors oder ähnliche unumstößliche Indizien vorliegen, bleibt man auf das Vorweisen von Parallelen, Themen und Situationen angewiesen. Und natürlich finden Autoren ihre Themen auch selbst und manche Geschichten machen sich unabhängig an denselben Lokalitäten und den Saiten, die sie zum Klingen bringen, fest.

Daß ein Werk der Literatur im Lauf seiner Rezeption "das Genre wechselt," ist zwar selten, aber es kommt vor: Defoes "Robinson Crusoe", als ernsthafte Studie des Überlebens eines Schiffbrüchigen und der Strategien, die ihm die jahrzehntelange Einsamkeit ertragen lassen gedacht, ist seit Jahrhunderten ein Klassiker der Jugendliteratur - und nichts weiter. Genauso ist es Jonathan Swifts gnadenloser Satire an der Menschheit überhaupt ergangen - für neun von zehn heutigen Lesern ist "Gullivers Reisen" nur noch ein Kinderbuch mit putzigen Zwergen und Riesen. Aber daß sich zwei Variationen desselben Themas, einmal als seriöser Text, einmal als vermeintlich triviale Kinderbelustigung, durchaus auf Augenhöhe begegnen können, ist außergewöhnlich.

Der erste Hinweis, daß es sich bei "Pappan och havet" um eine Replik handelt, findet sich im Titel: das wörtliche "Der Vater und das Meer" erinnert unübersehbar an Hemingways letztes großes Werk, "Der alte Mann und das Meer" von 1952, auch wenn die Krisis, die der Muminvater zu überstehen hat, weniger dramatisch ausfällt (der Titel der deutschen Übersetzung, "Mumins wundersame Inselabenteuer" unterschlägt diesen Anklang. Auch "Herbst im Mumintal," ist gegenüber dem "Sent i november," dem Spät in November" mit seiner tristen Spätherbststimmung wesentlich idylischer gefärbt).

Die Parallelen von "Pappan och havet" und "To the Lighthouse" fallen deutlicher ins Auge, wenn man Erzählanordnung und Schauplatz beider Bücher einmal nebeneinander setzt.

III.
Die "Inselabenteuer" beginnen damit, daß der Muminvater, Inbegriff bürgerlicher Selbstsicherheit (und mit gar nicht so heimlicher Sehnsucht nach "wilden Abenteuern") sich in dem findet, was man zur Zeit des Erscheinens des Buchs zuerst als "Midlife-Krisis" benannte: sein Leben, sein Dasein erscheint ihm sinnlos, überflüssig. Es beschließt, mit dem Rest des Familie auf eine einsam vor der Küste gelegene Schäreninsel zu ziehen, um den erloschenen Leuchtturm wieder in Gang zu setzen und Leuchturmwärter seinem Leben einen Zweck zu geben. Das Unterfangen scheitert in jeder Hinsicht - jedenfalls in den beabsichtigten. Papa scheitert an der Technik des Leuchtturms ("Ein Leuchtturm ohne Bedienungsanleitung war aber auch eine einmalige Schlamperei!") ebenso wie an den weiteren Projekten, denen er sich widmet - die "wissenschaftliche Erforschung" des Meers, das die Insel umspült und der Natur der Insel selbst, die wie ein eigenständliches Lebeswesen zu sein scheint, auf der nachts Stimmen ertönen und die niedrigen windgepeitschten Bäume zu wandern beginnen. Mumin isoliert sich von seiner Familie. Die mysteriösen Seepferdchen - tatsächliche sprechende pferdeähnliche Wesen, die aus den Fluten auftauchen und in ihm vage vorpubertäre Saiten zum Klingen bringen - verspotten ihn nur. Die Muminmutter entdeckt ihre kreative Ader und wächst über ihre angestammten Aufgaben der Haushaltsführung hinaus. Nur die kleine Mü, die von der Familie mittlerweile adoptiert worden ist, wird in ihrer Rolle als zynischer griechischer Theaterchor und unbekümmert in den Tag hineinlebender Irrgeist von diesem inneren Gezeitenwechsel nicht berührt. Die Ausgesetzheit am Rande der Welt ("jenseits der Insel befand sich nichts") verstärkt nur die schwelende Krisis, statt die Familie zusammenzuschwießen. Daß der abweisende Fischer, den die Einsamkeit in Menschenfeindlichkeit (oder Muminfeindlichkeit) getrieben hat, am Ende, durch den freundlichen Umgang der Trollfamilie bekehrt, wieder sein Amt als Leuchtturmwärter übernimmt, bringt die Geschichte zwatr zu einem versöhnlichen Schluß, kann aber die melancholische Grundstimmung der vorhergehenden 200 Seiten nicht vergessen machen.

IV.
"To the Lighthouse," der fünfte Roman von Virginia Woolf, erschien im Mai 1927 im hauseigenen Verlag der Autorin und des Bloomsbury Circle, der Hogarth Press, in einer Auflage von 3000 Exemplaren. Die Vokabel "hauseigen" darf in diesem Fall wortwörtlich genommen werden. Virginias Ehemann Leonard hatte die Buchdruckerpresse 1916 aus der Konkursmasse eines Kunstdruckers erstanden, der infolge des Ausbleibens von Aufträgen nach dem Ausbruch des "Großen Kriegs" insolvent geworden war, um bibliophile Ausgaben und Holz- und Linolschnitte von Virginias Schwester Vanessa Bell drucken zu können. Die mit einem Lastwagen angelieferte Presse verstellte jahrelang das Speisezimmer der Woolfs, und Haushalts- und Gartengehilfen wurden dann eingestellt, wenn sie in der Lage waren, bei der Bedienung der Druckerpresse zur Hand zu gehen.

"To the Lighthouse" schildert in zwei großen Abschnitten zwei Sommerferienaufenthalte der großbürgerlichen Familie Ramsay auf der Hebrideninsel Skye in den Jahren 1910 und 1920. Zentraler Punkt beider Aufenthalte ist der geplante Besuch bei einem weit draußen in der Bucht gelegenen Leuchtturm. Beim ersten Mal verhindert das widrige Wetter den Ausflug; in den unterschiedlichen Haltungen gegenüber Sohn James, für den dies der Höhepunkt der Sommerferien dargestellt hätte, werden die unter der wohlanständigen Oberfläche brodelnden Spannungen in der Familienidylle sichtbar. Frau Ramsay will ihren zehnjährigen Sohn vor Enttäuschugen bewahren und vertröstet ihn; Vater Ramsay erklärt ihm brüsk seine Skepsis. Herr Ramsay ist überhaupt irritiert durch die Anwesenheit anderer Gäste, innerlich plagen ihn Selbstzweifel und Todesängste. Ein Ergebnis seiner Unverblümtheit ist, daß Lily Briscoe, eine junge, angehende Malerin, sich außerstande sieht, ihre Zweifel am eigenen Talent zu überwinden und das Haus, das die Gesellschaft für die Ferienwochen angemietet hat, zu malen. Das apodiktische Urteil eines weiteren Familienfreundes, Charles Tansley, "Frauen könnten sowieso werden schreiben noch malen," tut ein übriges.

"Sie hatte Brüssel besucht, sie war in Paris gewesen - aber nur für eine Stippvisite, um eine kranke Tante zu besuchen. Sie hatte Dresden besucht; dort gab es noch viele Bilder, die sie nie gesehen hatte. Aber vielleicht, dachte Lily Briscoe, war es ja besser, sich nicht alle diese Bilder anzusehen: sie hinterließen nur Enttäuschung über die Werke, die man selber schuf." (Kap. 13)


Die Mittelpassage des Romans, mit 20 Seiten nur knapp ein Zehntel des Textes umfassend, ist in der Geschichte der englischen Literatur wegen ihrer Form zurecht berühmt: sie beginnt wie ein Tableau vivant (oder a-vivant): eine geisterhafte Beschwörung der nächtlichen Stille und Reglosigkeit nach dem mißglückten Dinner, die Schläfer wie tot unter ihren Bettdecken, und dann, im Telegrammstil, eine Aufzählung der äußeren Ereignisse, die folgen: der Weltkrieg bricht aus, Tochter Prue stirbt im Kindbett, Sohn Andrew fällt auf den Schlachtfeldern Flanderns, Frau Ramsay erliegt einem Herzinfarkt - um dann wieder im nächtliche Reglosigkeit auszumünden.

Im zweiten Hauptteil, "The Lighthouse," wird dann, zwei Jahre nach Kriegsende, der Besuch auf dem Leuchtturm nachgeholt: Mr. Ramsay nötigt seine unwilligen überlebenden Kinder, Tochter Cam und Sohn James, zur Bootsfahrt. Es herrscht eisiges Schweigen zwischen ihnen. Der Sohn des Fischers Macalister, der während der Überfahrt angelt und den ersten gefangenen Fisch lebend zerschneidet, um ihn als weiteren Köder zu verwenden, steht als Symbol für die sinnlose Grausamkeit der Welt, in der nur das bloße Überleben zählt. Trotzdem blitzt verhaltener Optimismus auf. Statt des ewigen Tadels erhält James ein Lob von seinem Vater für seine Steuerkünste. Und an Land, vor dem Haus, gelingt es Lily Briscoe, die das Boot auf dem Meer verschwinden sieht, endlich, ihr Bild des Hauses fertigzustellen.

"Er wird sein Ziel erreicht haben," sagte Lily Briscoe laut und fühlte sich plötzlich absolut erschöpft. Der Leuchtturm war kaum noch zu sehen; er verlor sich im blauen Dunst, und die Anstrengung, ihn auszumachen und der Aufwand, an seine Landung dort drüben nur zu denken, die ihr ein und dasselbe zu sein schienen, hatte ihrem Körper und ihrem Geist das Äußerste abverlangt. Jetzt fühlte sie sich erleichtert. Was immer es auch gewesen war, daß sie ihm hatte geben wollen, als er heute morgen von ihr Abschied nahm, das hatte sie ihm gegeben.

"Er ist gelandet," dachte sie. "Es ist vorbei." Dann stand unverhofft, leicht außer Atem, der alte Mr. Carmichael neben ihr; wie ein antiker heidnischer Götze sah er aus, mit Strohhalmen im Haar und einem Dreizack in der Hand (es handelte sich nur um einen französischen Roman). Er stand neben ihr an der Rasenkante, sein feister Bauch schwankte ein wenig, und er sagte, während er die Augen mit der Hand beschirmte: "Jetzt müßten sie gelandet sein," und sie fühlte, daß sie sich nicht geirrt hatte. Sie brauchten keine Worte. Sie hatte dasselbe gedacht und er hatte ihr geantwortet, ohne daß sie etwas sagen mußte. Er stand da, breitete die Hände über all die Schwächen und Leiden der Menschheit aus; sie hatte den Eindruck, daß er voller Mitgefühl und Nachsicht, ihr ganzes zukünftiges Schicksal erwog. Eine bekrönende Geste, dachte sie, als er die Hand wieder sinken ließ - als ob er aus großer Höhe einen aus Blüten gewundenen Kranz fallen ließe, der flatternd zur Erde sank.

Sie wandte sich schnell wieder ihrer Leinwand zu - als ob sie von ihr gerufen würde. Das war es: ihr Bild. Ja, mit all dem Grün und dem Blau, mit den auf und ab und quer verlaufenden Strichen, ihr Versuch, irgendetwas zu schaffen. Es würde auf einem Dachboden verstauben, dachte sie, es würde zerstört werden. Aber machte das etwas? fragte sie sich und nahm den Pinsel wieder zur Hand. Sie sah die Stufen an: sie waren leer; sie sah die Leinwand an, die sie nur verschwommen wahrnahm. Mit einemmal, mit plötzlicher Entschlossenheit, als ob sich ihr Blick geklärt hätte, zog sie eine Line: dort, in der Bildmitte. Es war fertig; es war geschafft. Ja, dachte sie, während sie völlig erschöpft den Pinsel weglegte, ich habe meine Vision gehabt. (Kap. 14; die Schlußpassage des Romans)


V.



Beide Bücher, sowohl das von Virginia Woolf wie das von Tove Janssson, sind autobiographisch unterfüttert - sowohl in der allgemeinen Anlage wie en détail. Hinter der Figur des Mr. Ramsay verbirgt sich ein Porträt von Virginia Woolfs Vater, Leslie Stephen, dem Gründer und ersten Hauptbeiträger des "Dictionary of National Biography;" ihr Neffe, Quentin Bell, der Sohn ihrer Schwester Vanessa, schrieb, daß er bei der Gestalt der Mrs. Ramsay den Eindruck gehabt habe, seine Großmutter sei von den Toten auferstanden. Vater Stephens begann in Virginias Geburtsjahr, 1882, für die Sommerferien der Familie Talland House in dem Küstendörfchen St. Ives in Cornwall anzumieten; für Virginia waren diese Aufenthalte, die bis 1894 dauerten, wie eine Erinnerung an ein Paradies der Kindheit. Bei dem Leuchturm, den sie in ihrem Roman weit in den Norden auf die Hebriden verlegt, handelt es sich um den Leuchtturm von Godrevy, fast in der Nähe von Land's End an der Südwestspitze Englands gelegen, der von Talland House aus gut sichtbar war. Die Stones, eine untermeerische Klippe, hatte seit Jahrhunderten zu häufigen Schiffbrüchen geführt; nach dem Verlust des Dampfer SS Nile im November 1854 mit 40 Ertrunkenen kam es zum Bau des Leuchtturms, der im August 1859 seinen Betrieb aufnahm. In dem Besuchsregister, das bis zur Automatisierung im Sommer 1939 geführt wurde, findet sich unter dem Datum von 12. September 1892 die Unterschrift der damals zehnjährigen Virginia Stephens, ihres Vaters, ihres Bruders Thoby und der präraffaelistischen Malers William Holman Hunt, der mit der Familie Stephens befreundet war, sowie Hunts Sohn Hilary. Bei einem zweiten Besuch zwei Jahre später, am 17. September 1894, hat Vater Stephen alle Namen in das Gästebuch eingetragen.



VI.
Auch für den Leuchtturm des Muminvaters läßt sich ein Vorbild in dem ausmachen, was Leute, die von der Natur der Literatur nichts verstehen, das "wirkliche Leben" nennen. Es handelt sich um den Leuchtturm von Söderskär (Schwedisch: Söderskär fyr), gut 23 Kilometer südöstlich des Hafens von Helsinki vor dem nördlichen Ufer des Finnischen Meerbusens gelegen. Mit 32 Metern Höhe ist er um gut sechs Meter höher als sein englisches Pendant; gebaut wurde er 1862, 1957 automatisiert wie fast alle Leuchtfeuer in jenen Jahren und 1989 außer Dienst gestellt. Auf der Karte, die den "Inselabenteuern" vorgesetzt ist, hat Tove Jansson die Koordinaten "am äußersten Rand der Welt" angegeben: die Position 60° 7' 12'' nördlicher Breite und 25° 45' 50'' östlicher Länge befindet sich gut 41 Kilometer westlich von Helsinki und 11 Kilometer vor der finnischen Küste. "In Wirklichkeit" befindet sich an diese Stelle nur offenes Wasser mit einer Tiefe von gut 12 Metern; aber die Position liegt nur gut 5 Kilometer von der winzigen Schäreninsel Klovharun entfernt, auf der Tove Jansson und ihre Lebensgefährtin, die finnische Künstlerin Tuulikki Pietilä, im Jahr 1964 eine Blockhütte erreichten ließen und wo sie bis 1992 die Sommermonate zubrachten.



VII.
Wie schon erwähnt, kann ich nicht "beweisen," daß es sich bei Tove Janssons Buch um eine Reaktion, ein Remake der Woolfschen "Fahrt zum Leuchtturm" handelt- und schon gar nicht, daß in der Schilderung des "pedanischen Wissenschaftlichkeit" des Muminvaters ein Echo von Leslie Stephens viktorianischem Wissensideal zu vernehmen ist, daß Mumin die Zweifel von Ramsay Jr. geerbt hat und sich Lily Briscoes Traum, ihr Feriendomizil zu malen, und ihre wahre Bestimmung zu erreichen, im gemalten Mumintal wiederholt. In den Briefen Tove Janssons, die ihre Biographin Boel Westin und Helen Svensson 2014 im schwedischen Original im Verlag Schildts & Söderströms in Helsinki herausgaben und die 2019 in englischer Übersetzung bei Sort of Books erschienen sind, findet sich der Name Virginia Woolfs nicht im Register. Tove Jansson las und schrieb hervorragend Englisch; die von ihrem Bruder Lars gezeichnete Comicstrip-Umsetzung, für die sie die Texte schrieb, erschien zuerst auf Englisch in der Londoner Zeitung Evening News, ab dem September 1954. Auch die Verlagsverhandlungen dafür führte Tove Jansson selbst in England. Für die ersten 21 Episoden bis zum Februar 1960 verfaßte Tove die Texte des Comics; danach übernahm Lars auch dieses Ressort bis zum Ende der Serie 1975. Zudem erschien "To the Lighthouse" 1953 auf Schwedisch als "Mot fyren" in der Übertragung von Ingalisa Munck und Sonja Bergvall. Nur will es mir nicht ganz ausgeschlossen scheinen, daß es hier eine geheime Verbindung gibt, so undeutlich, wie Lily Briscoe die eigene Staffelei wahrnimmt.



U.E.

© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.