Die Geschichte der Menschheit ist voll von Gesellschaften, die die "WAHRHEIT" kannten. OK, eine solche "Wahrheit" ist dann manchmal von der Realität plattgemacht worden. Manchmal erst nach Jahrhunderten, manchmal schon nach fünfzehn Jahren. Das ändert aber nichts daran, dass ein sehr großer Teil der Menschen offensichtlich eine tief verwurzelte Sehnsucht nach der "Wahrheit" hat.
Solchen "Wahrheiten" nennt man "Staatsreligion" oder "Staatsideologie". Wobei es sich hier eher um eine künstliche Trennung handelt. In der Praxis ist zwischen einer "Religion" und einer "Ideologie" nur selten ein Unterschied auszumachen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg einen anderen Weg eingeschlagen. Wir wollten die "freiheitlich-demokratische Grundordnung mit sozialen Elementen und verfassungsmäßig geschützen Grundrechten der Bürger" etablieren. In der Bonner Republik hat das auch ein paar Jahrzehnte ganz gut geklappt. Jetzt scheint es so, daß sich die Sehnsucht nach autoritäten Mechanismen - nach der "Wahrheit" - wieder durchsetzt. Ich versuche zu erklären, warum ich das so sehe.
Halten wir zunächst einmal fest, was keine Einschränkung einer "freiheitlich-demokratische Grundordnung" ist: Demokratische Prozesse und damit die "Diktatur der Mehrheit" sind kein grundsätzliches Hindernis. Es ist völlig normal und von unseren Gründervätern so gewünscht, daß es so was wie ein "aktuelles politisches Klima" gibt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand wirtschaftlicher Wohlstand und die Wiedervereinigung sowie die Abwehr der kommunistischen Weltrevolution ganz oben auf der Agenda. Der selbst im historischen Maßstab überwältigende Erfolg der sozialen Marktwirtschaft führte dann zu einer bis ins Pathologische reichende übersättigten und naiven Folgegeneration. Vollkommen überfordert von dem durch die Eltern erarbeiteten Wohlstand und Frieden und ausgestattet mit einem Übermaß an Freizeit stellte die neue Generation sozialistische Umverteilung und den nachträglichen Endkampf gegen Hitler in das Zentrum allen Wollens. Das Trojanische Pferd für den verspäteten Sieg des Kommunismus sollte das gekaperte Thema "Umweltschutz" werden.
Und was soll ich sagen: auch, wenn manches davon mir absurd erscheint, so ist all das keine Einschränkung einer freien Gesellschaft. Knapp gesagt: die Tatsache, daß ich mit meinen politischen und gesellschaftlichen Zielen in der Minderheit bin und naive, menschenfeindliche Kommunisten die Lufthoheit über den Stammtischen und die Mehrheit an den Wahlurnen übernommen haben, ist kein Argument für das "Scheitern des Systems".
Ich stelle fest: eine freie Gesellschaft hat sehr wohl oft eine dominante, manchmal sogar extrem dominante Mehrheitsmeinung. Wo ist jetzt das Problem?
Jede dominante Mehrheitsmeinung hat eine Tendenz, sich zu verfestigen und gegen Veränderung zu immunisieren:
- Die Mehrheit übernimmt die Lufthoheit in der öffentlichen Debatte
Speziell in Deutschland gibt es diese Tendenz mit dem irreal großen öffentlich-rechtlichen Medienkomplex von inzwischen 8 Milliarden Euro jährlich. Dazu kommt die Verflechtung von Medien und Parteien, zum Beispiel in Form des SPD-Medienimperiums.
- Die Mehrheit übernimmt das Schulwesen
Es gibt nur extrem wenig Möglichkeiten in Deutschland, seine Kinder unabhängig vom aktuellen Framing zu erziehen. Schulunterricht durch die Eltern (nach dem englischen Vorbild auch "Home schooling" genannt) ist verboten. Privatschulen müssen sich an den "Kanon" halten und sind teuer. Im Endeffekt übt die Mehrheitsgesellschaft einen recht großen Konformitätsdruck auf die Kinder aus und zementiert so, dass auch die nächste Generation sich angepasst verhält.
- Die Mehrheit steuert die zivile Gesellschaft
Vereine, Kirchen und vergleichbare Organisationen sind auf lange Sicht auch nur ein Spiegelbild der Mehrheitsgesellschaft.
- Und schlußendlich: die Mehrheit übernimmt die Kontroll-Institutionen
Unser Gesellschaftssystem kennt verschiedene Institutionen, die unser langfristiges Zusammenleben gegen kurzfristige Stimmungsschwankungen immunisieren soll. Die Bundesgerichte, der Bundespräsident, früher auch mal die Bundesbank, das Selbstbestimmungsrecht der Bundesländer einschließlich dem Bundesrat als Gegengewicht zum Bundestag. Aber nichts davon ist zu 100 Prozent gegen eine feindliche Übernahme geschützt.
Irgendwann, wenn eine Ideologie nur lang genug durchhält - sagen wir so von 20 Jahren an aufwärts, ist der Marsch durch die Institutionen abgeschlossen und es gibt keinen Widerstand mehr.
Was stimmt an diesem Bild nicht?
I. Schon die Logik sagt, dass bei diesem Mechanismus etwas nicht stimmen kann. Denn die Ideologie, die das Land übernommen hat, muß ja selbst auch mal aus einer Position der Minderheit heraus gestartet sein. Wie konnte diese Minderheitenposition dominant werden, wenn die davor existierende Mehrheitsmeinung doch alle Trümpfe in der Hand hielt?
II. Ist überhaupt begründbar, dass eine Ideologie sich verewigen sollte? Das würde voraussetzen, dass irgendwann eine Ideologie entsteht, die das "Ende der Geschichte" bedeutet, die "Entdeckung der letzten Wahrheit" und von da an ist jeder Zweifel an dieser entdeckten Wahrheit nur noch schädlich und ein Sakrileg.
Im Ernst: ich brauche doch wohl nicht zu begründen, daß das nach religiösem Wahn und Faschismus stinkt. "Wahrheit" darf es im politischen Geschäft einer freien Gesellschaft nicht geben. Sondern nur "Meinungen".
Also sollte eine Gesellschaft sich wandeln können. Die Fähigkeit des inneren Wandels, der Neuausrichtung ist kein "Bonus" einer freien Gesellschaft. Sondern KONSTITUIERENDES ELEMENT. Geht die Fähigkeit oder der Wille zum inneren Wandel und zur Neuausrichtung verloren, dann hat man keine freie Gesellschaft mehr. Sondern eine Religion oder Ideologie.
Die Fähigkeit und der Wille zum inneren Wandel und zur Neuausrichtung: Das geht nur durch OPPOSITION zur dominanten Mehrheitsmeinung. Opposition ist also ein Existenzmerkmal einer freien Gesellschaft. Der offene Zweifel an der Gültigkeit der aktuellen Mehrheitsmeinung ist unverzichtbar für eine freie Gesellschaft. Das ist kein Gnadenakt, sondern konstituierendes Merkmal der Gesellschaft, die von unseren Gründern 1949 geplant wurde.
Ohne Frage kann eine solche Opposition auch absolut unsinnige Forderungen vertreten. Das Kennzeichen "abweichende Meinung" allein bedeutet nicht, dass die abweichende Meinung damit automatisch die bessere ist. Schon deswegen, weil es so ziemlich kein Thema gibt, auf das es nur genau zwei Antworten gäbe. Sondern es gibt so ziemlich immer ein Kontinuum an Wegen, die beschritten werden können. Manche davon sinnvoller als andere.
Aber jetzt kommt der wichtige Punkt. Bitte aufwachen und aufpassen. *Trommelwirbel*:
Nur, weil man aus der Menge der abweichenden Meinungsäußerungen ein paar herausgefiltert hat, die offensichtlich (!) schwachsinnig sind, hat man damit nicht bewiesen, daß Opposition und Minderheitenmeinungen per se dumm und überflüssig sind.
Ganz im Gegenteil. Ich habe hergeleitet, dass abweichende Meinungen konstituierendes Merkmal einer freien Gesellschaft sind. Deswegen zeichnet sich eine freie Gesellschaft durch folgende Merkmale aus:
I. Eine gewisse Milde und Toleranz gegen abweichende Meinungen. Es ist nur schwer vorherzusagen, welche Strömung in ein paar Jahren mal wichtiges Element ein gesellschaftlichen Konsens werden wird. Gerade weil die Mehrheitsmeinung in der stärkeren Position ist, sollte die aktuelle "Elite", die aktuelle "Herrscherschicht", Subkulturen erlauben - vielleicht sogar fördern - in denen neue Ideen und Ziele entstehen können.
II. Unveränderbare Schutzrechte für die jeweilige Minderheitenposition. Dazu gehört unter anderem:
II.a Die Möglichkeit der Teilnahme an der öffentlichen Debatte
II.b Die eigenen Ziele zumindest an die eigenen Kinder weitergeben zu dürfen
II.c Die Förderung der Offenheit und Fähigkeit von Schulkindern, sich mit unbequemen Argumenten auseinandersetzen zu können
Betrachten wir nun die Entwicklung in Deutschland in den letzten 60 Jahren.
In den sechziger Jahren existierte ohne Frage noch eine sehr konservative, männlich dominierte Gesellschaft. Starke gesellschaftliche Zwänge, eine starke Westbindung und die Betonung wirtschaftlichen Aufschwungs. Bemerkenswert ist aber, daß trotz (!) starker Traditionen und Zwänge schon in den späten 60er Jahren und mehr noch in den 70er Jahren Subkulturen wachsen konnten. Die junge Generation revoltierte und entwickelte massenhaft Gegenkonzepte.
In den 70er Jahren und spätestens in den 80ern gab es Millionen (!) Bürger, denen auch die Totalopposition zugestanden wurde: sei es bei den "Friedensdemos", die oftmals gar nicht so friedlich waren, den Protesten gegen die NATO, der beginnenden Umweltschutzbewegung, den radikalen Tierschützern, die Graffiti-Bewegung... ich könnte eine halbe Seite lang aufzählen, welche aus der Sicht der DAMALIGEN Mehrheitsgesellschaft radikalen und boshaften Subkulturen geduldet wurden. "Geduldet" bedeutet dabei: in Ausnahmefällen wurde zwar schon mal eine Strafe verhängt, zum Beispiel wenn die Sachbeschädigung oder Körperverletzung von Linken wirklich jedes Maß sprengte. Aber die Teilnehmer dieser Subkuluren wurden im großen und ganzen als MENSCHEN angesprochen. Ihre Ziele und Ideen waren ununterbrochen präsent: in der öffentlichen Diskussion, in Kunst und Kultur.
Selbst zu den übelsten Zeiten des RAF-Terrorismus ist der "Dialog" zu keinem Zeitpunkt abgebrochen. Selbst Mörder durften Interviews geben, es wurden Bücher veröffentlicht und so weiter. Es gab nichts, absolut keine Tat, die dazu geführt hätte, daß die Mehrtheitsgesellschaft den Dialog abgebrochen hätte. Selbst Vergewaltigung, Brandanschläge oder die Mißhandlung der eigenen Kinder hat nicht dazu geführt, daß irgendeine dieser Subkulturen aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt worden wäre.
Vollkommen selbstverständlich haben Abgeordnete auf der Demonstration neben Mitglieder linksradikaler Wehrsportgruppen ("Aktivisten") gestanden, die völlig offen den Tod von Menschen forderten. Vollkommen selbstverständlich haben Künstler Pamphlete mitunterschrieben, auf denen auch Linksradikale standen, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurden. Kontaktängste gab es nie, die Meinungsfreiheit wurden vollkommen selbstverständlich eingefordert - und gewährt.
Dann allerdings rutschte die Gesellschaft immer weiter nach links. Die Grünen wurden immer stärker und ihr Programm immer radikaler links. Die CDU reagierte darauf, indem die Mitte verlassen wurde und ehemals bürgerliche Positionen aufgegeben wurden. Heute ist die CDU so links, wie es ganz grob die Grünen in den 90ern und den Nuller Jahren waren.
Und in den letzten zwanzig Jahren geschah dann etwas aus Sicht einer freien Gesellschaft Schädliches: je stärker die Gesellschaft nach links wanderte, desto stärker geriet die freie Meinungsäußerung unter Druck. "Cancel culture" war nicht etwa eine böswillige Verleumdung, sondern wurde - man wagt es kaum zu schreiben - zu einer selbstverständlichen und in breitem Konsens agressiv eingeforderten Staatsdoktrin. "Cancel culture": was für ein beschönigender Begriff für die Abschaffung von Opposition und freier Meinungsäußerung.
In Deutschland gibt es nur noch eine sehr schwache Bereitschaft, Minderheitenmeinungen zu schützen. Statt dessen sind in Form des NetzDG, der staatlichen Finanzierung von Gruppen zur Überwachung von Meinungsäußerungen (die Kahane-Stiftung und Co.) und ganz aktuell mit dem neuen Verfassungsschutztatbestand der "verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" Werkzeuge geschaffen worden, um Minderheitenmeinungen zu kriminalisieren und aus der öffentlichen Wahrnehmung komplett zu entfernen. Das nächste Kapitel ist übrigens auch schon in Vorbereitung: das "Demokratiefördergesetz" soll zusätzliches Geld zur Verfügung stellen, wenn Medien oder Künstler sich dem aktiven "Kampf gegen Rechts" anschließen. Man beachte übrigens, daß auch verbal der Totalitarismus und die Cancel culture schon längst Standard ist: Links ist es mal grade noch erlaubt, sich gegen linke Terroristen abzugrenzen. Man beachte allerdings: erlaubt - keineswegs wird das eingefordert. Auf der "rechten" Seite, bei der inzwischen auch vollständig das bürgerliche Spektrum und der Liberalismus subsummiert wird - ist grundsätzlich ALLES zu "Canceln". Denn es heißt ja nicht "Kampf gegen Rechtsradikalismus". Sondern "Kampf gegen Rechts". Und das meinen sie auch so.
Spätestens beim "Demokratiefördergesetz" (beim Namen läßt Orwell grüßen) ist dann der Schritt in den Faschismus vollzogen. Und? Kann man noch etwas dagegen unternehmen? Offensichtlich nicht. Die Mehrheit der Wähler hat seit über 20 Jahren immer und immer wieder den Weg in den totalitären Staat bestätigt.
Und so schreibe ich diese Worte, so lange es noch nicht strafbar ist.
Frank2000
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