Nachdem vorgestern an dieser Stelle auf den 120. Geburtstag von John Collier verwiesen wurde und gestern auf den 150. von Salomo Friedländer alias "Mynona," soll heute der Hinweis auf den 200. Todestag Napoleon Bonapartes erfolgen, der am 5. Mai 1821 im Longwood House auf seiner Verbannungsinsel St. Helena an der einsamsten Stelle des Südatlantiks starb. (Genauer: an der zweiteinsamsten Stelle: die am weitesten von jedem anderen Flecken Land entfernte Insel ist Tristan da Cunha.) Solche kalendarisch-nomerologischen Häufungen haben keinen tieferen Sinn, wie Astrologen vermuten könnten: sie sind statistisch einfach unvermeidbar, wenn in der Welt genügend genau datierte Ereignisse wie in diesem Fall Geburtstag und Todesdatum registriert worden sind.
Ich gehe davon aus, daß die Person und die Taten des "kleinen Korsen," des "Weltgeists zu Pferde," auch heute noch hinreichend geläufig sind, um sie hier nicht weiter erörtern zu müssen. Und wenn nicht: die Bibliotheken sind gefüllt mit Arbeiten, Biographien, Spezialwerken zu jedem Aspekt seines Lebens. Sogar die in den letzten Jahrzehnten aufgekommene Frage, ob Napoleon wirklich einem Magenkrebs erlegen ist oder doch mit Arsen vergiftet wurde (oder durch das Schweinfurter Grün, das zur Einfärbung der Tapeten im Longwood House verwendet wurde und Arsen als Gas abgab) dürfte gemäß der Diagnose der Autopsie bestätigt worden sein.
Nur drei kleine Aspekte seien hier kurz angemerkt: zum einen, daß es selbst historisch Beschlagene immer wieder erstaunt, sich ins Gedächtnis zu rufen, daß Napoleon zum Zeitpunkt seines Todes erst 51 Jahre alt war: die Epoche seiner Herrschaft, der Eroberung von halb Europa, dem endlosen Krieg gegen England, das Scheitern des Rußlandfeldzugs, die Niederlagen bei der Völkerschlacht bei Leipzig, bei Paris, die Rückkehr aus dem Exil in Elba und das Ende der "Hundert Tage" vor Waterloo: das alles "fühlt" sich viel länger an, eher nach einigen Jahrzehnten als nach den gut 15 Jahren, die zwischen der ägyptischen Expedition und dem Exil auf St. Helena tatsächlich liegen.
Der zweite, damit zusammenhängende Punkt ist die Frage, wie "präsent" die Erscheinung des selbstgekrönten Kaisers der Franzosen tatsächlich heute im kollektiven Gedächtnis noch ist. Schon beim Gedächtnis an die Stationen der 100. Jahrestage des Ersten Weltkriegs zwischen 2014 und 2018, vom Attentat in Sarajewo bis zum Eisenbahnwaggon im Wald von Compiegne, konnte man deutlich spüren, wie fern und schattenhaft die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" mittlerweile geworden ist, wie sehr sie ihre Prägekraft als "Erinnerungsort" für die politische Kultur, für das Selbstverständnis der jeweiligen Nationen, eingebüßt hat. Umso mehr dürfte das für die Zeit Napoleons, Nelsons, Wellingtons und Blücher gelten. Es könnte durchaus sein, daß heutige Schüler, die einen Pflichtbesuch im Invalidendom zu absolvieren haben (den gegenwärtigen Stillstand durch "das Virus" einmal abgererechnet), nicht mehr ansatzweise erfassen, was sich damit verbindet, wie der Widerstand gegen die französischen Eroberungen ganz Europa mobilisierte, von Spanien über Italien, die deutschen Monarchien, England und das Zarenreich. Die Denk- und Grabmäler daran, angefangen vom Völkerschlachtdenkmal bis hin zu den Befehlshabern der Freikorps, bringen schon lange keine Saite mehr zum Schwingen - ganz anders als man es etwa in Theodor Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" noch deutlich nachfühlen kann. Man kennt diesen Effekt aus zahllosen Kindheitserinnerungen der letzten 100 Jahre, auch schon aus dem 19. Jahrhundert: da sind Kanonen, Truppenbanner, Musketen versammelt - aber es erzeugt nur Unverständnis und Überdruß. Vielleicht ist das unvermeidlich. Ein größerer Kontrast zu der Auffassung der Geschichte der eigenen Nation, wie sie überall in Europa im 19. Jahrhundert in der Schule vermittelt wurde, ist nicht denkbar.
Damit verbunden ist die den Heutigen wohl noch unverständlichere Begeisterung so vieler Zeitgenossen für die Erscheinung Napoleon, zu dessen glühenden Bewunderern ja nicht nur Stendhal, Lord Byron und Goethe zählten. Die Berauschtheit an den Eroberungen und Schlachten, auch wenn es mit der Besetzung der eigenen Nation einherging, hat etwas zutiefst Janusköpfiges und Widersprüchliches - was den Zeitgenossen natürlich bewußt war. Vor allem unterscheidet es das von der heutigen Sicht auf ähnliche Kriegszüge: die heutige Optik kennt nur noch die strenge Scheidung von Schwarz und Weiß, von Verdammung und Verteidigung (frelich nur, wenn die Invasionstruppen einen nachgerade satanischen Zug des Bösen annehmen - sei es des Faschismus oder des Kolonialismus): als Verteidigung der eignen Nation ist dies mittlerweile tabu und aus dem Portfolio des Erlaubten gelöscht. Deutlich wurde diese gegenwärtige Haltung zuerst im Jugoslawienkrieg, der vor mittlerweile auch 30 Jahren seinen Anfang nahm und wo der westliche Zeitgeist kategorisch jedes Eingriefn zur Beendigung des Sterbens ablehnte. Daß dies so geblieben ist, hat sich erst vor wenigen Monaten beim Konflikt um Armenien und Aserbaidschan erneut bestätigt. Vor 150, vor 200 Jahren lag es anders: die Zeitgenossen sahen in den Soldaten, die zu Hundertausenden auf dem Rußlandfeldzug starben - erfroren, erschossen, in der Beresina ertrunken - tragische Opfer eines Cäsarenwahns, nicht mörderische Verbrecher.
Und daran schließt der letzte Aspekt an, der auch eben jenen Zeitgenossen nie klar wurde: Was war das Ziel der neuen Ordnung, die Napoleons Feldzüge errichteten? Was sollte ihn selbst überdauern? Es scheint uns Heutigen unverständlich, daß diese Frage ausgeblendet zu sein scheint, solange Napoleon als Feldherr erfolgreich war. Erst nach dem Rückzug aus Rußland, nach der Niederlage bei Leipzig wird die Zeit nach dem Ende seiner Herrschaft ins Auge gefaßt. Dabei hätte - so scheint es uns zumindest so - jedem nüchternen Betrachter klar sein müssen, daß die Verwaltungen, die neuen Herrschaften (wie etwa im Königreich Westfalen mit seinem Bruder Jerôme - "morgen wieder luschtig!" - besetzt) so wenig Bestand haben würde wie die Eroberungen Alexanders des Großen. Parallelen der Napoleon-Begeisterung zu des Vergötterung des Mazedonenherrschers durch dessen antike Zeitgenossen sind unübersehbar. Während man das Ziel der anfänglichen Schlachten Alexanders, die latente Bedrohung durch das Perserreich ein für allemal zu beenden, noch als rationales Kalkül sehen kann, entfällt das bei der Eroberung von Tyrus und Ägypten und schon gar bei Alexanders Russlandfeldzug, der versuchten Eroberung Indiens. Hier wandelt sich das Geschehen in eine Kriegsführung, eine Eroberung um des Kriegsführens willen: ein Selbstläufer, der von "Sieg und Ruhm" motiviert ist und von sonst nichts mehr, der immer gigantomanere Züge annimmt und dessen Scheitern vorprogrammiert ist. Golo Mann beschreibt in seinen Erinnerungen einen Besuch im von amerikanischen Truppen besetzten Paris im Herbst 1944, als ein GI im Invalidendom die Fremdenführerin, die die Schlachten Napoleons patriotisch begeistert ausmalte, fragte: "In what way was he different from this guy Hitler?" Natürlich gibt es glasklare Gegensätze: der Code Napoleon installierte keine mörderische Tyrannis, ganz im Gegenteil. Aber den Aspekt des Selbstlaufenden, nur aus sich selbst Befeuerten scheint hier richtig gespürt worden zu sein.
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Und die Raumfahrt? Natürlich hatte Bonaparte nichts mit ihr oder mit Visionen zum "Aufbruch ins All" zu tun. (Auch wenn die englische Übersetzung von Pierre Barbets SF-Roman "Les grognards d'Èridan" (1970) den Titel "The Napoleons of Eridanus" trägt.) Am Futuristischsten muten hier noch die Pläne für eine Invasion Englands durch eine Ballonflotte an, die als Projekt vorgeschlagen - und prompt verworfen - wurde, und Théophile Gautiers Roman "Le capitaine Fracasse" von 1863, dessen Held eine Rettungsaktion von St. Helena mit dem Prototyp eines frühen U-Boots plant. (Der Gouverneur der Insel verweigerte übrigens den Umzug aus dem einsam - und ungesund - gelegenen Long House in die Hauptsiedlung Jamestown mit dem Argument, dort bestehe größerer Erfolg für einen solchen Befreiungsversuch.)
Es ist nur so, daß es der erwähnte chronologische Zufall wollte, daß genau 140 Jahre nach dem Tod Napoleons, heute vor 60 Jahren - von Cape Canaveral der erste amerikanische Astronaut, Alan Shepard, mit der Mercury-Raumkapsel Freedom 7 zu einem kurzen Parabelflug startete und der zweite Mensch im Weltraum wurde - knapp drei Wochen nach dem Flug von Jurij Gagarin. Die Dauer dieser kurz Stippvisite wird zumeist mit einer Viertelstunde angegeben. "In Wirklichkeit" war der Aufenthalt im All sogar noch kürzer: von der Trennung von der Atlas-Redstone-Rakete bis zum Wiedereintritt in die Atmosphäre vergingen nicht einmal 5 Minuten. Die Terminierung hatte nichts mit einer Terminsetzung zu tun - wie etwa im Fall des ersten Starts des Space Shuttle, der bewußt auf den 20. Jahrestag von Gagarins Flug festgesetzt wurde. Aber er liefert ein hübsches Echo - auch wenn der Sinn solcher chronologischen Reime naturgemäß unlesbar bleibt.
U.E.
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