31. Oktober 2020

W. W. Jacobs, "Das Zollhaus" (1907)



"Das ist doch alles Unfug," sagte Jack Barnes. "Natürlich sind Leute in dem Haus gestorben. Das kommt in jedem Haus vor. Und was die Geräusche angeht - Wind im Kamin und Ratten hinter der Vertäfelung können einen schon die Nerven kosten. Gieß mir noch mal eine Tasse Tee ein, Meagle."

"Erst sind Lester und White dran," sagte Meagle, der in den "Drei Federn" die Tischrunde leitete. "Du hast schon zwei gehabt."

Lester und White ließen sich aufreizend lange Zeit, legten zwischen den Schlückchen Pausen ein, um das Aroma zu inhalieren und sorgfältig Alter und Geschlecht der "Neuankömmlinge" zu ermitteln, die in einger Zahl in der Flüssigkeit kreisten. Mr. Meagle goß ihnen randvoll ein, dann drehte er sich zu Barnes um, der ungeduldig wartete, und bat ihn, nach heißem Wasser zu klingeln.

"Wir werden mal versuchen, deine Nerven auch weiterhin zu schonen," bemerkte er. "Ich selbst glaube ja so halbwegs an übernatürliche Dinge."

"Das tut jeder, der bei Verstand ist," sagte Lester. "Eine meiner Tanten hat einmal einen Geist gesehen." ­

White nickte.

"Ich hatte einen Onkel, dem das auch passiert ist," sagte er.

"Sind immer irgendwelche anderen Leute, die so etwas sehen," sagte Barnes.

"Naja, halten wir fest: das Haus gibt es," sagte Meagle. "Ein großer Kasten, die Miete ist lächerlich niedrig, und es findet sich niemand, der darin wohnen will. In jeder Familie, die dort eingezogen ist, hat es mindestens einen Menschen das Leben gekostet - egal wie kurz sie dort gewohnt haben. Seit es leer steht, ist dort jeder Hausmeister ums Leben gekommen. Den letzten hat es vor fünfzehn Jahren erwischt."

"Eben," sagte Barnes. "Lang genug, um jede Menge Gerüchte entstehen zu lassen."

"Du hast gut reden," sagte White plötzlich, "aber ich wette ein Pfund, daß du dort nicht allein die Nacht verbringen würdest."

"Da halte ich mit," sagte Lester.

"Stimmt," sagte Barnes. "Ich glaube nicht an Gespenster oder andere Spukgestalten, aber ich geb zu, daß es mir nicht einfallen würde, dort zu übernachten."

"Und warum nicht?" wollte White wissen.

"Wind im Kamin..." sagte Meagle und griente.

"Ratten hinter der Vertäfelung..." kam es von Lester.

"Ach macht doch, was ihr wollt," sagte Barnes, der rot anlief.

"Ich schlage mal vor, wir gehen alle zusammen," sagte Meagle. "Nach dem Abendessen, daß wir so um elf da sind? Wir sind hier jetzt seit zehn Tagen auf Wandertour und haben nichts erlebt - außer daß Barnes entdeckt hat, daß man nach einem Sturz in den Straßengraben am nachhaltigsten stinkt. Wär' immerhin mal eine Abwechslung, und wenn wir den Fluch beenden, weil die alle die Nacht überlebt haben, gibt's vielleicht sogar ein nettes Taschengeld vom dankbaren Besitzer des Hauses."

"Wir sollten erst mal den Wirt fragen, was er zu sagen hat," sagte Lester. "Macht doch keinen Spaß, eine Nacht in einem ganz normalen leeren Haus zu verbringen. Spuken sollte es da schon."

Er läutete nach dem Wirt und beschwor ihn im Namen allen menschlichen Anstands, ihnen keine Bleibe zuzuweisen, in denen keine Geister oder Kobolde umgingen. Die Antwort war ganz nach ihrem Geschmack: nachdem der Wirt in allen Einzelheiten einen Kopfs beschrieben hatte, der in einer Mondnacht aus einem der Fenster gesehen hatte, bat er sie höflich aber sehr bestimmt, ihre Zeche zu bezahlen, bevor sie sich aufmachten.

"Wenn die jungen Herrschaften ihren Spaß haben wollen, soll mir das recht sein," meinte er. "Aber was ist mit meinem Geld, wenn ihr morgen früh alle tot seid? Es heißt nicht umsonst 'Das Zollhaus.'"

"Wer ist dort zuletzt gestorben?" fragte Barnes mit einem zynischen Unterton.

"Ein Landstreicher," war die Antwort. "Er hat um ein Viertelpfund gewettet, und am nächsten Morgen hing er tot am Treppengeländer."

"Selbstmord," sagte Barnes. "Geistig verwirrt."

Der Wirt nickte. "Zu dem Schluß ist das Gericht auch gekommen" sagte er bedächtig. "Aber als er das Haus betreten hat, war er noch vollkommen normal. Ich hab ihn flüchtig seit Jahren gekannt. Ich bin wahrlich nicht wohlhabend, aber ich würde in dem Haus keine Nacht verbringen, und wenn man mir hundert Pfund dafür bieten würde."

Er wiederholte diese Bemerkung, als sie ein paar Stunden später aufbrachen. Es war Sperrstunde; hinter ihnen wurden geräuschvoll die Riegel vorgeschoben, und während die letzten Gäste sich langsam auf den Heimweg machten, marschierten sie flott in die Richtung, die ihnen beschrieben worden war. Die meisten Häuser lagen schon in Dunkeln, und in den anderen, an denen sie vorbeikamen, wurden die Lichter gelöscht.

"Ist doch ungerecht, daß wir uns jetzt eine ganze Nacht um die Ohren schlagen müssen, damit Barnes überzeugt werden kann, daß es tatsächlich Gespenster gibt," sagte White.

"Ist doch für einen guten Zweck," sagte Meagle. "Ein löbliches Unterfangen, und irgendwas sagt mir, daß es von Erfolg gekrönt sein wird. Du hast die Kerzen doch dabei, Lester?"

"Ich hab zwei dabei," kam als Antwort. "Mehr wollte der Alte nicht herausrücken."

Die Nacht war bewölkt und der Mond schien nur dürftig. Der Weg zwischen den hohen Hecken war dunkel und an einer Stelle, so er durch einen Wald führte, war es so finster, daß sie zweimal über Schlaglöcher stolperten.

"Und für so etwas haben wir auf unser warmes Bett verzichtet!" sagte White. "War das richtig? - dieser herrliche Herrschaftssitz liegt jetzt rechts?"

"Ein bißchen weiter noch," sagte Meagle.

Sie marschierten schweigend eine Weile weiter; die Stille wurde nur von Whites Eloge an die Gemütlichkeit und die Wärme des Bettes unterbrochen, das weiter und weiter hinter ihnen lag. Unter Meagles Führung bogen sie schließlich in einen Weg zur Rechten ab, und nach einer Viertelmeile tauchte die Einfahrt zum Haus vor ihnen auf.


Die Fassade war unter Efeu und Ranken überwuchert und in der Zufahrt wucherte das Unkraut. Mit Meagle an der Spitze bahnten sie sich einen Weg, bis das Haus düster vor ihnen aufragte.

"Der Wirt hat gesagt, daß auf der Rückseite ein Fenster offensteht," sagte Lester, als sie vor der Haustür standen.

"Fenster?" sagte Meagle. "Blödsinn. Wenn schon, dann machen wir das ordentlich. Wo ist der Türklopfer?"

Er tastete im Dunkeln ddanch und versetzte der Tür ein donnerndes Rattattatt.

"Mach dich nicht lächerlich," sagte Barnes verärgert.

"Die dienstbaren Geister schlafen schon," verkündete Meagle, "aber ich werde die schon noch aufwecken, bevor ich hier fertig bin. Gehört sich nicht, uns hier im Dustern warten zu lassen."

Er schlug den Klopfer erneut auf die Tür, und der Lärm rollte dröhnend durch die Leere dahinter. Dann gab er einen Laut des Erstaunens von sich und stolperte vorwärts.

"Sie war die ganze Zeit offen," sagte er, mit leicht beschlagener Stimme. "Kommt schon."

"Glaub ich nicht," sagte Lester, der zögerte. "Hier spielt uns jemand einen Streich."

"Unfug," sagte Meagle scharf. "Gib mir mal eine Kerze. Danke. Hat einer Streichhölzer?"

Barnes holte eine Schachtel aus seiner Jackentasche und riß ein Streichholz an, und Meagle ging voran bis zum Treppenaufgang, die Kerze mit der Hand abschirmend. "Mach mal einer die Tür zu," sagte er. "Hier zieht's zu sehr."

"Die ist zu," sagte White, der sich umgeblickt hatte.

Meagle rieb sich das Kinn. "Wer von euch war das?" wollte er wissen. Er sah sie der Reihe nach an. "Wer ist zuletzt reingekommen?"

"Ich," sagte Lester, "aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich sie zugemacht habe. Naja, vielleicht doch..."

Meagle wollte etwas sagen, überlegte es sich aber besser und begann, das Haus zu erkunden, die Kerzenflamme immer noch sorgsam abgeschirmt. Die anderen hielten sich dicht hinter ihm. Schatten tanzten über die Wände und ballten sich in den Ecken. Am Ende des Flurs stießen sie auf eine zweite Treppe und stiegen vorsichtig in den ersten Stock hinauf.

"Vorsicht!" sagte Meagle, als sie den Treppenabsatz erreicht hatten.

Er hielt die Kerze nach vorn und beleuchtete eine Lücke, an der das Geländer weggebrochen war.

"Ich vermute mal, daß das die Stelle ist, an der sich der Landstreicher erhängt hat," sagte er nachdenklich.

"Du hast eine kranke Phantasie," sagte White, als sie weiterschlichen. "Hier ist's schon unheimlich genug, ohne daß du damit auch noch anfängst. Wir suchen uns jetzt eine gemütliche Ecke und genehmigen uns einen Schluck Whisky und eine Pfeife. Wie wär's hiermit?"

Er öffnete eine Tür am Ende des Flurs, hinter dem ein kleines Zimmer lag. Meagle ging mit der Kerze voran, ließ ein wenig Talg auf den Kaminsims tropfen und drückte die Kerze in die Lache. Die anderen setzten sich auf den Fußboden und sahen zu, als White eine kleine Whiskyflasche und einen Zinnbecher aus seiner Tasche hervorholte.

"Hmpf! Ich hab' das Wasser vergessen," brummte er.

"Ich hol' was," sagte Meagle.

Er riß heftig an der Dienstbotenklingel, und aus einer entlegenen Küche drang das Scheppern einer verrosteten Glocke. Er läutete noch einmal.

"Laß den Unsinn!" sagte Barnes scharf.

Meagle lachte. "Ich will dich nur überzeugen," sagte er mit freundlicher Stimme. "Ein Geist zumindest sollte im Dienstbotentrakt spuken."

Barnes hob die Hand und bedeutete ihnen, daß sie still sein sollten.

"Was ist los?" sagte Meagle, der den beiden anderen wissend zunickte. "Kommt da jemand?"

"Ich schlage vor, wir lassen das hier," sagte Barnes mit einemmal. "Ich glaube nicht an Spuk, aber zerrüttete Nerven stehen auf einem anderen Blatt. Ihr könnt das gerne für lächerlich halten, aber mir war gerade, als hätte ich wirklich gehört, wie unten eine Tür aufging und Schritte auf der Treppe."

Er wurde von dem Gelächter der anderen übertönt.

"Es wirkt!" sagte Meagle und feixte. "Wenn wir hier fertig sind, glaubt er felsenfest an Gespenster. Also, wer geht los und holt uns jetzt Wasser? Du, Barnes?"

"Nein," war die Antwort.

"Falls da noch etwas vorhanden ist, dürfte es nach all der Zeit wohl ungenießbar ein," sagte Lester. "Wir müssen halt darauf verzichten."

Meagle nickte, setzte sich ebenfalls auf den Boden und streckte die Hand nach dem Becher aus. Pfeifen wurden angezündet, und der aromatische, wohltuende Geruch von Tabaksrauch breitete sich im Zimmer aus. White holte ein Kartenspiel hervor; Geplauder und Gelächter erfüllten die Luft und verloren sich in den Tiefen des Flurs.

"In leeren Zimmern kommt es mir immer so vor, als ob ich eine tiefe Stimmlage hätte," sagte Meagle. "Morgen wer..."

Er zuckte zusammen und unterdrückte einen Ausruf, als das Licht plötzlich erlosch und ihm etwas auf den Kopf fiel. Die anderen sprangen auf. Dann lachte Meagle auf.

"Die Kerze," sagte er. "Ich hab sie nicht fest genug aufgedrückt."

Barnes riß ein Streichholz an, zündete die Kerze erneut an, drückte auf dem Kaminsims fest und nahm sein Blatt wieder auf.

"Was wollte ich noch sagen?" sagte Meagle. "Ach ja: morgen werde ich..."

"Hört mal her!" sagte White und legte ihm die Hand auf den Arm. "Ich könnte schwören, daß da jemand gelacht hat."

"Also bitte!" sagte Barnes. "Was haltet ihr davon, wenn wir uns auf den Rückweg machen? Mir reicht das hier jetzt. Ich bilde mir dauernd ein, daß ich etwas höre, daß sich draußen auf dem Flur etwas bewegt. Mir ist schon klar, daß ich mir das nur einbilde, aber es geht mir auf die Nerven."

"Du kannst gerne gehen, wenn du willst," sagte Meagle, "wir halten hier Wache und passen auf. Oder du kannst ja den Landstreicher bitten, dein Händchen zu halten, wenn du unten bist."

Barnes schüttelte sich und gab ein mißmutiges Brummen von sich. Er stand auf, ging zur angelehnten Tür, und lauschte.

"Wag dich nach draußen!" sagte Meagle und zwinkerte den beiden anderen zu. "Ich wette, du traust dich nicht, allein bis zur Haustür und wieder zurück zu kommen."

Barnes drehte sich um und beugte sich vor, um seine Pfeife an der Kerze anzuzünden.

"Meine Nerven flattern zwar, aber ich bin bei klarem Verstand," sagte er und blies eine helle Rauchwolke aus. "Meine Nerven wollen mir weismachen, daß sich da draußen auf dem Flur etwas bewegt; mein Verstand besteht darauf, daß das alles Unsinn ist. Wo sind meine Karten?"

Er setzt sich wieder hin, nahm sein Blatt auf, studierte es sorgfältig und legte ab.

"Du bist dran, White," sagte er nach kurzer Pause.

White regte sich nicht.

"Er ist eingeschlafen," sagte Meagle. "Wach auf, Alter. Wach auf und spiel dein Blatt."

Lester, der neben ihm saß, faßte den Schlafenden am Arm und schüttelte ihn, erst sacht und dann heftiger, aber White, der mit dem Rücken an die Wand dasaß, den Kopf auf die Brust gesunken, rührte sich nicht. Meagle schnauzte ihm ins Ohr ud drehte sich dann mit besorgtem Ausdruck zu den anderen um.

"Er schläft wie ein Toter," sagte er und verzog die Miene. "Naja, wir drei können uns ja auch so noch Gesellschaft leisten."

"Ja," sagte Lester und nickte. "Außer wenn...Mein Gott! Wenn er jetzt..."

He unterbrach sich und sah die anderen zitternd an.

"Wenn er was...?" wollte Meagle wissen.

"Nichts," stotterte Lester. "Wecken wir ihn. Versucht's noch mal. White! WHITE!"

"Zwecklos," sagte Meagle ernst. "Irgendetwas ist an diesem Schlaf nicht normal."

"Das meinte ich doch!" sagte Lester. "Und wenn er einfach so einschläft, kann uns das doch..."

Meagle schoß in die Höhe. "Unsinn!" sagte er grob. "Er ist nur erschöpft. Das ist alles. Trotzdem: wir lassen das hier. Hebt ihn hoch. Du nimmt seine Beine und Barnes leuchtet uns mit der Kerze. Ja? Wer ist da?"

Er schaute zur Tür herüber. "Ich dachte, es hätte jemand geklopft," sagte er und lachte verlegen. "Also, Lester, wir heben ihn jetzt hoch. Eins...zwei.... Lester! Lester!"

Er machte einen schnellen Schritt nach vorn, aber er kam zu spät. Lester war zu Boden gekippt, das Gesicht in den Armen verborgen, und das heftigste Rütteln weckte ihn nicht auf.

"Er - schläft - nur!" murmelte er. "Er schläft!"

Barnes, der die Kerze vom Kaminsims genommen hatte, betrachtete schweigend die Schläfer, während der Talg auf den Boden tropfte.

"Wir müssen hier raus," sagte Meagle. "Schnell!"

Barnes zögerte. "Wir können sie doch nicht hier so liegen lassen -" fing er an.

"Wir haben keine andere Wahl," sagte Meagle in scharfem Ton. "Wenn du auch noch einschläfst, geh ich allein - komm jetzt! Schnell!"

Er faßte den anderen beim Arm und versuchte, ihn zur Tür zu zerren. Barnes schüttelte seine Hand ab, setzt die Kerze wieder auf den Sims und versuchte wieder, die Schläfer zu wecken.

"Nutzlos," sagte er schließlich, drehte sich um und sah Meagle an. "Schlaf du nicht auch noch ein," sagte er besorgt.

Meagle schüttelte den Kopf, und sie standen ein paar Augenblicke, reglos und in betretenem Schweigen. "Wir könnten zumindest die Tür schließen," sagte Barnes schließlich.

Er ging durchs Zimmer und schloß sie vorsichtig. Hinter sich hörte er ein Scharren; er als sich umdrehte, sah er Meagle zusammengesunken im Kamin liegen.



Er erstarrte in der Bewegung und holte scharf Luft. Im Zimmer zeigte ihm die Kerze, die wild im Luftzug flackerte, die grotesken Umrisse der Schläfer. Draußen vor der Tür gaukelte ihm seine überreizte Phantasie eine beständige, unheimliche Unruhe vor. He versuchte, zu pfeifen, aber seine Lippen waren ausgetrocknet, und wie ein Automat beugte er sich zu Boden und begann die verstreuten Spielkarten einzusammeln.

Ein oder zwei Mal hielt er inne und lauschte mit gesenktem Kopf. Die Unruhe draußen schien heftiger zu werden; von der Treppe her war ein lautes Knarren zu hören.

"Wer ist da?" rief er laut.

Das Knarren hörte auf. Er ging zur Tür hinüber, riß sie auf, und betrat den Flur. Wie mit einem Schlag war seine Furcht verflogen.

"Zeigt euch!" rief er und lachte leise. "Alle von euch! Alle! Zeigt eure Gesichter - eure häßlichen Teufelsfratzen! Versteckt euch nicht!"

Er lachte wieder und ging weiter. Die reglose Gestalt im Kamin hob den Kopf wie eine Schildkröte aus ihrem Panzer auftaucht und lauschte entsetzt den Schrtten, die sich entfernten. Erst als sie nicht mehr hörbar waren, entspannten sich seine Züge.

"Grundgütiger, Lester, wir haben ihn in den Wahnsinn getrieben," flüsterte er erschreckt. "Wir müssen ihm nach!"

Er bekam keine Antwort. Meagle sprang auf.

"Hörst du mich?" rief er. "Hör auf mit dem Quatsch! Das ist jetzt ernst. White! Lester! Hört ihr mich?"

Er beugte sich vor und sah sie genau an, verärgert und verwirrt. "Also gut," sagte er mit zitternder Stimme. "Mir könnt ihr keine Angst machen."

Er drehte sich um und ging mit übertriebener Gleichgültigkeit zur Tür. Er trat auf den Flur, lehnte sie an und spähte durch den Türspalt, aber die Schläfer rührten sich nicht. He warf einen Blick auf die Finsternis hinter sich und beeilte sich, wieder ins Zimmer zu kommen.

Er betrachtete sie ein paar Augenblicke lang. Die Stille im Haus war entsetzlich; er konnte nicht einmal ihr Atmen vernehmen. Hastig nahm er die Kerze vom Kaminsims und hielt die Flamme unter Whites Finger. Als er fassungslos zurückprallte, wurden die Schritte auf dem Flur wieder hörbar.

Er lauschte, während die Hand, in der er die Kerze hielt, zitterte. Er hörte sie die vordere Treppe hinaufkommen, aber als er zur Tür ging, hörten sie auf. Er ging ein paar Schritte den Flur entlang, und sie hasteten die Treppe hinab und liefen dann im Laufschritt durch den Flur im Erdgeschoß. Er ging zur Haupttreppe zurück, und sie verstummten wieder.

Eine kurze Weile stand er über das Treppengeländer gebeugt, lauschte und versuchte in der Finsternis unter sich etwas auszumachen, dann tastete er sich langsam, Schritt für Schritt, nach unten und sah sich um, während er die Kerze hoch über dem Kopf hielt.

"Barnes!" rief er. "Wo bist du?"

Vor Furcht zitternd ging er über den Flur. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und stieß die Tüfren auf und schaute angstvoll in die leeren Zimmer. Dann, mit einemmal, hörte er die Schritte direkt vor sich.



Er folgte ihnen langsam, um die Kerzenflamme nicht auszulöschen, bis er in einen großen leeren Küchenraum mit nasen Wändden und gesprungenen Fliesen auf dem Boden gelangte. Vor ihm war gerade eine Tür, die zu einer Vorratskammer führte, ins Schloß gefallen. Er lief hinüber und riß sie auf, und ein kalter Luftzug blies die Kerze aus. Er stand vor Schrecken gelähmt.

"Barnes!" rief er wieder. "Hab keine Angst! Ich bin's - Meagle!"

Er bekam keine Antwort. Er spähte in die Finsternis, und die ganze Zeit über war ihm, als würde ihn etwas ganz aus der Nähe ansehen. Dann setzten über ihm wieder die Schritte ein.

Er fuhr zurück, und tastete sich durch die Küche und den engen Flur. Jetzt konnte er etwas mehr in der Dunkelheit erkennen, und als er schließlich wider zur die Treppe gelangt war, nahm er die Stufen und vermied jedes Geräusch. Er erreicht den Absatz gerade noch rechtzeitig, um eine Gestalt um eine Ecke biegen zu sehen. Er folgte dem Geräusch der Schritte vorsichtig, immer noch darauf bedacht, sich lautlos zu bewegen, und holte sie am Ende eines kurzen Seitenflurs ein.

"Barnes!" flüsterte er. "Barnes!"

Etwas regte sich in der Finsternis. Ein kleines rundes Fenster am Flurende ließ nur soviel Licht durch, um in den Schwärze die Umrisse einer bewegungslosen Gestalt erkennen zu lassen. Meagle blieb stehen und verharrte beinahe ebenso regungslos, als ein plötzlicher furchtbarer Zweifel von ihm Besitz ergriff. Den Blick fest auf die Gestalt vor sich gerichtet, machte er paar Schritte zurück, und stieß einen entsetzten Schrei aus, als sie auf ihn zukam.

"Barnes! Um Himmels willen! Bist du das?"

Seine Stimme hallte als Echo von den Wänden, aber die Gestalt vor ihm reagierte nicht. Für einen Augenblick versuchte er, einen Mut zusammenzunehmen und sich ihr zu stellen, dann drehte er sich um und floh mit einem ersticktgen Aufschrfei.

Die Flure waren wie ein Labyrinth, und er stolperte sie blind entlang auf der Suche nach der Treppe. Wenn er nur nach unten gelangen könnte und bis zur Haustür --

Sein Atem stockte ihm mit einem Schluchzen; die Schritte erklangen von neuem. Sie hasteten die leeren Flure auf und ab, hin und her, als ob sie auf der Suche nach ihm waren. Er stand wie gelähmt, und als sie sich näherten, versteckte er sich in einem der Zimmer und stand an die Tür gelehnt, während sie vorbeieilten. He hastete auf den Flur und lief rasch in die entgegengesetzte Richtung, und einen Augenblick später kamen sie hinter ihm her. Er fand der langen Hauptflur und lief ihn entlang, so schnell er konnte. Er wußte, daß die Treppe am anderen Ende lag, und er stolperte sie in blinder Eile hinab, die Schritte dicht hinter sich. Sie holten auf, und er preßte sich an die Seite, um sie vorbeizulassen, während er noch eine Stufe nach der anderen nahm. Dann gab die Erde unter ihm nach und er stürzte ins Bodenlose.

Lester erwachte am Morgen, als das Sonnenlicht ins Zimmer strömte und White vor ihm saß und verwundert eine böse Brandblase an seinem Finger betrachtete.

"Wo sind die anderen?" fragte Lester.

"Nicht mehr hier, nehme ich an," sagte White. "Wir müssen eingeschlafen sein."

Lester stand auf, dehnte seine steifen Gliedmaßen, klopfte sich den Staub ab und trat auf den Flur. White folgte ihm. Eine Gestalt, die am Ende des Flurs schlafend auf dem Boden gelegen hatte, setzte sich auf, als sie näherkamen und entpuppte sich als Barnes. "Siehst aus, als wenn ich hier eingeschlafen wäre," sagte er überrascht. "Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Wie bin ich hierhin gekommen?"

"Lauschiges Plätzchen für ein Schläfchen," sagte Lester ernst, und wies auf die Lücke im Treppengeländer. "Guck dir das an. Zwei Schritt weiter, und du wärst..."

Er trat an die Kante und schaute nach unten. Auf seinen überraschten Ausruf hin kamen die beiden anderen zu ihm, und zu dritt sahen sie den Toten unter sich liegen.



***

"The Toll-House" erschien zuerst im April 1907 in The Strand Magazine, jenem legendären englischen Magazin, das auch die Erstabdrucke von Conan Doyle Sherlock-Holmes-Erzählungen veröffentlichte. Die Illustrationen von Will Owen (1869-1957) sind diesem Abdruck entnommen.

W. W. Jacobs (die Initialen stehen für William Wyler), 1863 in London geboren und 1943, eine Woche vor seinem 80. Geburtstag in London gestorben, gehörte zu dem Kleinmeistern der englischen Unterhaltungsliteratur in den Jahren zwischen den "dekadenten" Yellow Nineties und dem ersten Weltkrieg. Ab 1894 veröffentlichte er zahlreiche Geschichten über Seefahrt, Matrosen, und ihre Mißgeschicke auf See und im Hafen, in aller Regel als breite Humoresken angelegt und in dem breitesten denkbaren Dialekt des Londoner East Ends gehalten ('It's all right, my puir feller,' ses the second mate; 'ye're in good hands--ye're saved') (*), die in gut einem Dutzend Bänden ab 1898 in Buchform erschienen. Ebenfalls in diesem Jahr wurde er beständiger Beiträger von The Strand, dem damals am besten zahlenden der zahlreichen Magazine, die das Unterhaltungsbedürfnis der Lesepublikums mit Kurzgeschichten und Romanen bedienten, was ihm für die nächsten Jahre finanzielle Sicherheit bot. Pro Jahre wurden dort 6 bis 10 seiner Texte abgedruckt. Heute sind diese Erzählungen völlig vergessen (ein Schicksal, das Jacobs mit Legionen von anderen literarischen Entertainern in allen Sprachen der letzten Jahrhunderte teilt). In Gedächtnis der Lesewelt ist er nur durch einen einzigen Text geblieben: der rabenschwarzen Horrorgeschichte "The Monkey's Paw" von 1902. In jedem seiner Erzählbände finden sich ein oder zwei solcher Ausflüge in das Gebiet dessen, das Charles Dickens in den Pickwick Papers bündig so formulierte: "I wants to make your flesh creep." Dazu gehören auch die Erzählungen "In the Library", "The Well", "The Three Sisters" und eben "The Toll-House". Die Verwandtschaft mit einer "Feerie" à la Jerome K. Jeromes "Drei Mann in einem Boot (vom Hunde ganz zu schweigen)" ist dem Text ja deutlich anzumerken.

(* Dialekt stellt für einen Sprachfergen, der einen erzählenden Text von einem Idiom ins andere schmuggelt, eine kaum zu überwindende Hürde da. Entweder entschließt sich der Übersetzer, dies mehr-oder-minder zu ignorieren und läßt die Protagonisten im Standardregister der Zielsprache parlieren: dann fehlt die entscheidende Einfärbung, die das Besondere des Originals ausmacht, das jeder Muttersprachler erkennt (wenn auch, wie im Fall des Scots oder des Plattdeutschen, womöglich nur halbwegs versteht). Greift er auf bestehende Dialekteinfärbungen zurück, so schiebt sich der entsprechende Erkennungswert störend zwischen Leser und Text; nur mit Ausnahmen kann das halbwegs gutgehen. Gustav Meyrink etwa hat für die gut acht Bände Dickens, die er zwischen 1905 und 1913 als Broterwerb ins Deutsche übertrug, das Wienerische als Ersatz für das Londoner Cockney benutzt. Erfindet der Übersetzer selbst ein Idiom mit verrutschten Metaphern, Verschleifungen und Einfärbung, so wirkt das in der Regel (und die Standardregeln der Zielsprache müssen in diesem Fall ja in einem fort gebrochen werden, um den Zweck zu erfüllen), als dermaßen hilfos und aufgesetzt, daß sich kein Leser freiwillig einen solchen Krampf antun wird. Meister Yoda würde in diesem Fall befinden: Keine Abhilfe da ist. Der Himmel bewahre mich davor, jemals in die Versuchung zu kommen, Romankapitel oder Theaterszenen von Lao She, 老舍 (1899-1966) zu übersetzen. Der Beijinger Dialekt, gerade auch in seiner Idiomatik, der dem Original seine unverkennbare Einfärbung verleiht, wäre im Deutschen nicht einmal ansatzweise abzubilden.

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Davon abgesehen ist es reizvoll, die Möglichkeiten, die die elektronische Archivierung und Bereitstellung alter Druckwerke bietet, auch zu nutzen. Die Jahrgänge des Strand Magazine sind mittlerweile bis in die 1920er Jahre einsehbar und können heruntergeladen und gelesen oder ausgedruckt werden - und das gilt für zahlreiche Magazine, Zeitschriften und ältere Bücher ebenfalls. In der Ausgabe von The Strand vom April 1907 findet sich etwa auch die fünfte von insgesamt zwölf Folgen des Vorabdrucks von E. Nesbits phantastischem Jugendroman "The Enchanted Castle" und W. E. Norris' (1847-1925) Detektivgeschichte "The "Thieves' Terror". In diesem Fall liegt der Reiz nicht sosehr in der Entdeckung eines unbekannten Beitrags zu den ziemlich zahlreichen "Rivalen des Sherlock Holmes" jener Jahre (wie etwa E. W. Hornungs Raffles Haw oder Ernest Bramahs Max Carrados), sondern darin, daß der Text von Sidney Paget illustriert wurde, der dem Original des Großen Detektivs mit Deerstalker und Meerschaumpfeife mit seinen 356 Illustrationen rund um Baker Street 228B für immer seinen Stempel aufdrückte - und dessen Bebilderung in diesem Fall 1:1 jenen Einblicken entsprechen.





U.E.

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