11. Oktober 2020

Louise Glück: Sechs Gedichte

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Teleskop

Es gibt einen Augenblick, wenn du den Blick abwendest
in dem du nicht mehr weiß, wo du bist
denn du hast, so scheint es, woanders
gelebt: im Schweigen des Nachthimmels.

Du bist nicht länger auf dieser Welt.
Du bist anderswo,
da, wo Menschenleben nichts mehr bedeuten.

Du bist kein Lebewesen mehr, in einem Körper.
Du existierst wie die Sterne,
bist Teil ihres Schweigens, ihrer Unermesslichkeit.

Jetzt bist du wieder Teil der Welt,
in der Nacht, auf einem kalten Hügel
und baust das Teleskop ab.

Hinterher wird dir klar,
daß nicht dieses Bild falsch ist,
sondern daß der Bezug falsch ist.

Du siehst wieder, welche Distanz
zwischen allen Dingen der Welt liegt.

(aus: Averno, 2006)

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Der Abendstern

Heute nacht, zum ersten Mal
seit vielen Jahren, erschien mir erneut
eine Vision von der Herrlichkeit der Erde:

am Abendhimmel
schien der erste Stern
heller zu scheinen
während die Erde dunkelte

bis er nicht heller werden konnte.
Und dieses Licht, das das Licht des Todes war,
verlieh der Erde wieder

die Gabe zu trösten. Sonst gab es keine Sterne,
außer diesem, dessen Namen ich kannte,

wie ich ihr Unrecht getan hatte, in einem anderen Leben: Venus Stern des frühen Abends,

dir widme ich diese Vision denn du hast auf diese Leere

genug Licht geworfen daß meine Gedanken aufs Neue sichtbar wurden.

(Poetry Magazine, Juni 2006)

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Nächtlicher Vogelzug

Dies ist der Moment, wenn du sie wiedersiehst:
Die roten Beeren der Ebereschen
und am dunklen Himmel
die nächtlichen Züge der Vögel.

Es schmerzt mich,
daß die Toten sie nicht sehen -
diese Dinge, auf die wir uns verlassen,
sie verschwinden.

Was bleibt der Seele zu tun, um Trost zu finden?
Ich sage mir, daß sie vielleicht
diese Freuden nicht länger brauchen;
vielleicht reicht es aus, nicht mehr zu sein.
So schwer dies auch vorstellbar scheint.

(aus: Averno, 2006)

***

Die Weisen aus dem Morgenland

Hin zum Ende der Welt, durch den nackten
Anfang des Winters: da reisen sie erneut.
Wie viele Winter lang haben wir das schon gesehen
Wie das gleiche Zeichen erschien, wenn sie vorbeikamen?
Städte sind entstanden an ihrem Weg, haben ihr Gold
Auf die Wüste geprägt - und dennoch
Unseren Frieden bewahrt, denn dies
Sind die Weisen, gekommen, um zur gewohnten Zeit
Sicherzugehen, daß sich nichts ändert: die Dächer, der Stall,
der im Dunkel leuchtet: mehr verlangen sie nicht.

***

Oktober (Abschnitt I)

Ist wieder Winter, herrscht wieder Kälte
ist Frank nicht gerade auf dem Eis gestürzt,
wurde er nicht gesund, wurde die Frühjahrsaat nicht ausgebracht

fand nicht die Nacht ein Ende,
hat das schmelzende Eis
die Regenrinnen geflutet,

wurde mein Körper
nicht gerettet, war in Sicherheit

hat sich die Narbe nicht gebildet,
unsichtbar, über der Wunde

Schrecken und Kälte kamen sie nicht an ihr Ende, wurde der Garten nicht umgegraben und bepflanzt

Ich erinnere mich, wie sich die Erde anfühlte, rot und fest,
in starren Furchen, wurden die Samen nicht gepflanzt,
sind die Reben nicht an der Südmauer gewachsen

ich kann deine Stimme nicht hören
im Pfeifen des Winds über dem nackten Boden

jetzt ist es mir gleich
wie er sich anhört

als ich verstummte, als es erst sinnlos schien
diesen Klang zu beschreiben

der Klang ändert nichts an dem, wie es ist -

endet die Nacht nicht, war die Erde nicht
sicher, als sie bepflanzt wurde

haben wir nicht die Saat ausgebracht
brauchte die Erde uns nicht,

die Reben, wurden sie gelesen?

(aus: October, 2004)

***

Ein Sommergarten

I

Vor ein paar Wochen fand ich ein Bild meiner Mutter
Sie saß in der Sonne, das Gesicht gerötet wie vor Erfolg oder Triumph.
Die Sonne schien. Die Hunde
schliefen zu ihren Füßen, wo die Zeit auch schlief,
ruhig und bewegungslos wie auf allen Photographien.

Ich wischte den Staub vom Gesicht meiner Mutter,
Alles lag unter Staub, mir schien es wie der Schleier
der Nostalgie, der alle Funde der Kindheit beschützt.
Im Hintergrund Parkbänke, Bäume, Gebüsch.

Die Sonne sank am Himmel herab, die Schatten wurden länger und dunkler.
Je mehr Staub ich fortwischte, desto mehr wuchsen die Schatten.
Der Sommer brach an. Die Kinder
beugten sich über die Rosenhecke, ihre Schatten
wurden eins mit den Schatten der Rosen.

Mir fiel ein Wort ein, es bezeichnete
diese Verschiebung , den Wandel, dieses Erlöschen
das jetzt so deutlich war -

es erschien, und verschwand ebensoschnell.
Blindheit oder Dunkelheit, Gefahr, Verwirrung?

Der Sommer brach an, dann der Herbst. Die Blätter färbten sich,
die Kinder helle Farbtupfen vor Bronze und Ockergelb.

2

Als ich mich davon ein wenig erholt hatte,
legte ich das Bild dahin zurück, wo ich es gefunden hatte,
zwischen die Seiten eines alten Taschenbuchs
das viele Eintragungen an den Seitenrändern
trug, manchmal als Sätze, öfters
als Fragen und Ausrufezeichen
die "Zustimmung" oder "was heißt das" bedeuteten

Die Tinte war verblichen. Hier und da war mir unklar
welche Gedanken die Leserin bewegt hatten
aber ich spürte durch die verwischten Flecke
hindurch ein Drängen, als ob Tränen getropft wären.

Ich hielt das Buch noch ein wenig.
Es war Der Tod in Venedig (in Übersetzung);
Ich merkte mir die Seite für den Fall,
daß Freud recht hat und nichts Zufall ist.

So wurde das kleine Foto
wieder vergraben, wie die Vergangenheit in der Zukunft begraben ist.
Am Seitenrand standen zwei Worte,
durch einen Pfeil verbunden: "Sterilität" und, unten auf der Seite: "Auslöschung" -

"Ihm aber war, als ob der bleich und liebliche
Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke..."

3

Wie still der Garten ist; kein Luftzug bewegt die Kornelkirschen. Der Sommer ist angebrochen.

Wie still ist es
jetzt, wo das Leben triumphiert. Die rissigen

Säulen der Platanen stützen
die reglosen Regale des Blätterdachs,

der Rasen darunter
strotzend und leuchtend.

Und mitten am Himmel,
der schamlose Gott.

Die Dinge sind, sagt er. SIe sind, sie ändern sich nicht;
Die Ruhe ändert sich nicht.

Wie still sie ist: die Bühne,
und das Publikum; jeder Atemzug
scheint wie eine Störung.

Er muß jetzt ganz nahe sein,
kein Schatten liegt auf dem Gras.

Wie still es ist, wie ruhig,
wie ein Nachmittag in Pompeji.

4

Beatrice nahm die Kinder mit zum Park von Cedarhurst.
Die Sonne schien. Flugzeuge flogen
über ihnen dahin, friedlich, der Krieg war vorbei.

Es war die Welt ihrer Phantasie:
Richtig und falsch waren ohne Bedeutung.

Frisch poliert und glänzend -
das war die Welt. Noch lag kein Staub
auf der Oberfläche der Dinge.

Die Flugzeuge zogen über ihnen hin und her,
auf dem Weg nach Rom und Paris - dorthin
mußten sie den Park überfliegen. Alles
mußte wieder fort, nichts konnte verweilen -

Die Kinder hielten sich an der Hand, beugten sich vor,
um an den Rosen zu riechen.
Fünf und sieben Jahre waren sie alt.

Unendlich, unendlich - so
nahmen sie die Zeit wahr.

Sie saß auf einer Bank, halb hinter Eichen versteckt.
Von fern näherte sich die Angst sich verschwand wieder;
vom Bahnhof her kam ihr Klang herüber.

Der Himmel war rosa und gelb, älter, weil der Tag vorbei war.

Es war windstill. Der Sommmertag
warf eichenförmige Schatten auf das grüne Gras.

(Poetry Magazine, Januar 2012)

***

Als vor neun Jahren, 2011, der Nobelpreis für Literatur an den schwedischen Lyriker Toma Tranströmer vergeben wurde, bemerkte der Gründer dieses Netztagebuchs, Zettel, in einem kleinen Beitrag dazu, daß er keines seiner Gedichte kenne und auch nicht vorhabe, sie zu lsen, da er kein Schwedisch verstünde und es bei der Übertragung von Lyrik stets zu einem fatalen Verlust des Nuancen, der Assonanzen, Anklänge komme, die im Original und für einen Muttersprachler (oder guten Kenner der Sprache) darin anklingen. In gewisser Weise bilden mit Übertragungen fremdsprachiger Lyrik, die ich an dieser Stelle in den letzten Jahren eingestellt habe, den Versuch eines Gegenarguments: ich halte dafür, daß es sehr wohl möglich ist, Gedichte - ob nun in klassischer, streng metrischer und reimgebundener Form, oder im Idion der modernen Lyrik gehalten, in einer anderen sprached zumindest halbwegs nachzubilden, um dem Leser einen gar nicht arg verfälschten Eindruck dieser Zeilen zu vermitteln.

Hinzu kommt, daß es sich bei der speziellen Form - oder Nicht-Form, wenn man so will - die seit etwa 120 Jahren die "moderne Lyrik" prägt, um ein formales Idiom handelt, daß der Übertragung entgegenkommt. Der Verzicht auf den Reim, auf das strenge Metrum ändert die Wirkung, die von solchen Gedichten ausgeht, ändert die Weise, wie der Leser sie aufnimmt. Das Wesen solcher lyrik, das, was sie von der Prosa unterscheidet, die Aufladung wandert in die einzelnen Zeilen ab, nicht so sehr in das Geflecht einer Reihe aufeinander bezogener Zeilen wie man es ganz stark im klassischen Sonett sehen kann, dessen drei oder vier Strophen nachgerade wie ein thematischer Syllogismus zueinder stehen. Im modernen Gedicht kommt der Zeile eine verdichtete Aufladung zu, auch und gerade deshalb, weil es sich, wie mißlaunige Kritiker oft angemerkt haben, "im Grunde nur um eine Art kleingehackte Prosa" handelt. Genau dies aber, so zumindest mein Empfinden, läßt sich leichter in andere Sprachen wiedergeben. (In der Praxis wirkt dies freilich weniger, als es rein von der Überlegung und dem eigenen Sprachgefühl her scheint.) Für den deutschen Sprachraum hat das nicht zuletzt Hans Magnus Enzensberger mit seinem Vorwort zu seiner Anthologie "Museum der Modernen Poesie" von 1960 unterstrichen, in der es sich mit der "Sprache der modernen Lyrik" befaßt und auf diese Sprachen und Länder übergreifende Klammer hingewiesen hat.

Allerdings ist hinzuzufügen, daß dieses "Nichtwirken" auch im Fall von Muttersprachlern durchaus nicht seltgen der Fall ist. Im späten autobiographischen Prosatext "Ein Brief aus der Wüste" berichtet der japanische Schriftsteller Yasushi Inoue von der Erinnerung an einen Klassenkameraden, den starke Selbstzweifel an seinem "Japanersein" überfielen, weil ihm die im Unterricht gelesenen Haiku nichts sagten und nur als wirr aneinandergefügte Satzfetzen ohne Logik und tiefere Bedeutung erschienen. (Gerade diese bündige Form des drei Verszeilen mit dem Silbenmaß 5-7-5 kann als Urform der modernen Lyrik angesehen werden.) Die Ratlosigkeit des Autors, wie man eine Blickweise, eine Rezeption vermitteln könne, die den Wert, den lyrischen Inhalt solcher Zeilen aufschlüsselt, dürfte nicht auf den japanischen Sprachraum beschränkt sein.

Als der Nobelpreis für Literatur in den vergangenen Woche an die amerikanische Lyrikerin Louise Glück vergeben wurde, fand sich neben der geläufigen Bemerkung "Ich habe den namen noch nie gehört" in den sozialen Medien am häufigsten der daran anknüpfende Befund "eine merkwürdige Wahl!" Dazu ist hinzuzufügen, daß, wenn die höchste Auszeichung, die es für Autoren gibt, an Lyriker (aber auch Dramatiker) verliehen wird, es sich in der Regel nicht nur um die Ehrung für ein Lebenswerk handelt, sondern vor allem auch um einen Lesehinweis: einen Fingerzeig auf ein Oeuvre, das oft selbst in der Sprache, in der es verfaßt wurde, zwar nicht unbekannt, aber doch sehr wenig gelesen wird (was im Fall von Lyrik nun wirklich keine Überraschung darstellt), das außerhalb oft völlig unbekannt sein dürfte, das aber die Entdeckung und Kenntisnahme lohnt. Man sieht das, wenn man einmal die Liste der Preisträger überfliegt, die für ihr Werk als Lyriker damit in dem letzten Jahrzehnten ausgezeichnet worden sind:

- 2011 der vorgenannte Tomas Tranströmer (dessen Lyrik in Schweden als Paradebeispiel eine hermetisch verdichteten Ausdrucksweise gilt)
- 1996 die polische Lyrikerin Wyslawa Szymborska
- 1992 Seamus Heaney
- 1991 Derek Walcott
- 1987 Joseph Brodsky
- 1979 Odysseas Elytis
- 1966 Nelly Sachs
- 1963 Giorgios Seferis
- 1951 Pär Lagerkvist

Bei diesen Autoren handelte es sich zumeist nicht um Dichter, die schon vor der Auszeichung als lebende Klassiker, als allgemein anerkannte Vertreter ihrer Nationalliteraturen (und vor allem: auch in anderen Sprachen) bekannt waren, wie es etwa in dem halben Jahrhundert davor bei T.S. Eliot oder William Butler Yeats der Fall gewesen war, denen der Preis vorrangig für ihre Gedichte, nicht Kritik oder Prosa zuerkannt worden war.

Auf der anderen Seite ist aber die Kenntnismahme eines Werks, so schadhaft auch immer übertragen, im Fall der Lyrik einfacher zu bewerkstelligen als im Fall vom Romanciers. Es braucht keine Immersion in fremde Leben und dramatische Situationen über die Langstrecke von Hunderten von Seiten, sondern allein die Breitschaft, sich auf kurze Texte von zumeist weniger als einer Druckseite einzulassen und abzuschmecken, ob diese Textzeilen eine Frisson auslösen, ob sie ansprechen.

Die von mir ausgewählten Gedichte finden sich im Original allesamt in öffentlich zugänglichen Netzseiten; der Gedichtband "Averno", dem mehrere Texte entnommen sind, ist in seiner Gesamtheit verfügbar; ebenso die Beiträge, die in dem Lyrik-Magazin Poetry publiziert worden sind.

U.E.

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