9. Mai 2020

Warum ich gehe


Auch ich verabschiede mich von Forum und Blog. Der Grund ist der Verlust des Kerns, welcher diesen virtuellen Ort für sehr lange Zeit ausmachte: Ein Wagschale zwischen Liberalismus und Konservatismus, zwischen denen immer abgewogen werden muss. Beide Positionen sind hier zwar noch immer vertreten. Es gibt auch genug Teilnehmer, die sowohl liberale als auch konservative  Positionen vertreten. Jedoch viele, besonders unter den aktivsten Teilnehmern, nicht mehr abwägend, sondern mit absolutistischer Selbstgewissheit – je nach Thema und emotionaler Prädisposition zu diesem – mal in die eine und mal in die andere Extreme ausschlagend ohne Spielraum für abwägende Zwischenpositionen.

Anstatt von der vernünftigen Standardannahme einer Position zwischen den Extrempositionen als Startpunkt ausgehend eine abwägende und differenzierte Analyse vorzunehmen, schwanken die aktivsten und lautesten Teilnehmer zwischen Panikmache und Weltuntergangsstimmung auf der einen Seite und Ignoranz für Gefahrenpotential und Risiko auf der anderen Seite, je nachdem bei welchem Thema die Amygdala wie angesprochen wird. Dabei geht das Ingorieren des Risikopotentials häufig mit einer Weltuntergangsstimmung anderer Art einher. Schließt man sich nicht den Panikmachern an, dann hat man halt panische Angst vor den Panikmachern. Hat man nicht Angst for der angeblichen oder tatsächlichen Gefahr (oder a-priori ernst zu nehmenden Gefahrenpotentials, auch wenn es starke Unsicherheiten gibt), hat man stattdessen Angst vor den Gegen- oder auch nur Vorsichtsmaßnahmen, welche die "Panikmacher" fordern oder gar umsetzen. Nachgeradezu panische Angst, möchte man sagen.

Nochmals: Das sehe ich nicht nur hier. Das sehe ich überall. Ich sehe hier auch noch überdurchschnittlich den Geist des liberal-konservativen Abwägens. Doch zunehmend sehe ich willkürliche Absolutismen. Und kurz gefasst: Den Vorwurf Autoritarismus das Wort zu reden und nicht freiheitlich (genug) gesinnt zu sein, kann ich mir auch bei links-progressiven Blogs und Foren abholen, in dem ich mich für verstärkte Einwanderungskontrolle ausspreche.

Zu abstrakt? Hier ein paar konkrete Beispiele:

Ein "entwürdigendes Spucktuch" verpflichtend im ÖPNV? Eine unterträgliche Grundrechtseinschränkung. Freiheit first, Beweise für ein Gefahrenpotential reichen nicht, es muss felsenfest belegt werden, dass eine Apokalypse sonst unvermeidlich ist, sonst handelt es sich um eine unterträgliche Freiheitseinschränkung. Darüber hinaus wird schon die Existenz eines Gefahrenpotentials geleugnet. Nicht genug Beweise für die Aufrechterhaltung der größten Grundrechtseinschränkung seit dem zweiten Weltkrieg.

Geschlossene Grenzen/Einwanderungskontrolle? Ja gerne, nix mit Freiheit zur globalen Freizügigkeit. Plötzlich überall ein Risiko, zumindest gefühlt. Da braucht es keine Beweise, die man aber an allen Enden zu sehen glaubt. Untergang der deutschen Wirtschaft, der Gesellschaft, der Kultur, Verlust der öffentlichen Sicherheit, alles ganz Gefährlich mit eindeutigen Beweisen belegt. Wird kommen. Ganz sicher. Und im übrigen sollten diejenigen das Risiko tragen, die es uns eingehen lassen und haben die Beweispflicht, dass es harmlos ist. Es geht schließlich um unsere Kinder und deren Zukunft!

Und was sind schon die paar Toten im Mittelmehr gegen die Chance durch einen harten Kurs abzuschrecken. Man hatte keine Beweise, das es funktioniert,  aber man wollte es glauben (Spoiler: Funktioniert nicht, die Flüchtlingszahlen korrelieren nicht mit der Härte des Abschreckungskurses, sondern mit der Situation aus den Ländern, aus denen geflohen wird).

Kannabis verbieten? Ja klar, ist gefährlich. Als Einstiegsdroge. Gibt es zwar keinen Beweis dafür, aber die Beweispflicht liegt bei denen, die es freigeben wollen. Ist schließlich ein Risiko, das vorher ausgeschlossen werden muss. Und die Freigabe wird ganz sicher zu mehr Kriminalität führen, auf keinen Fall zu weniger. Und überhaupt, was ist mit den Kindern, deren Konsum wird steigen. Gibt es zwar keine Beweis dafür, aber die Beweispflicht liegt bei denjenigen, die das Risiko eingehen wollen, nicht wahr?

Klimawandel? Alles erstunken und erlogen, irrationale Panikmache. Belege für eine signifikante menschengemachte Komponente werden ignoriert und weggeredet. Stattdessen sollten wir Angst haben vor diesen hinterlistigen Panikmachern und damit sind nicht nur die Politaktivisten gemeint,  die auf der Welle reiten, sondern auch die Klimawissenschaftler. Bekanntlich alles ein korrupter Haufen!

Energiewende? Ganz schlimm, das Ende des Wirtschaftsstandortes Deutschland! Glasklar bewiesen: Siehe Abwanderung der Stahlindustrie. (Nein wirklich, mal ganz ohne Polemik: Das ist tatsächlich eine reale Folge! Sowohl von Llarian sauber theoretisch begründet als auch durch Statistiken und realem Arbeitsplatzverlust belegt. Das non sequitur: Die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gehe verloren. Es ist zwar ein Indiz, dass hier ein Gefahrenpotential liegt, aber ein Beweis für ein unvermeidbare Folge ist es nicht.) Das die Wirtschaft (bis zu Corona) brummte, egal. Wird kommen, ganz sicher. Die Dicke wird singen, in spätestens 15-30 Jahren (interessanter Weise genau die Weltuntergangs-Konstante, die man bei den Klimaaktivisten zurecht kritisiert).

Und komme mir jetzt niemand damit, das Kriterium, bei wem die Beweislast liege, sei, wer den Staatseingriff fordere. Das ist ein bunter Mix. Anti-Corona-Maßnahmen sind staatliche Eingriffe in die Freiheit, genau so wie geschlossene Grenzen, Einwadnerungskontrolle und Canabis-Verbot. Die Selbstgeweisheit, die eigene Angst oder Furchtlosigkeit in Bezug auf eine Gefahr oder Gegenmaßnahme, sei ein Ausfluss liberaler Prinzipien lasse ich nicht gelten. Die Karte zieht man immer dann, wenn es gerade passt. Das tun auch die Grünen! Aber ich sehe diese Phänomen hier genau so. Das wäre in Ordnung - im Rahmen einer liberal-konservativen Abwägung und Kompromissfindung. Die Werte der Freiheit vs. Schutz und Bewahrung des Bestehenden abwägen im Rahmen eine gesitteten Diskussion mit agree-to-disagree-Menatlität, wie sie bei einem Diskussion um Abwägung zwischen Zwei im Konflikt stehenden Werten unabdingbar ist. Nicht ein willkürliches Wechseln zwischen den beiden Extrempolen je nach Thema und emotionaler Reaktion auf dieses (natürlich immer mit absolut sicheren Beweisen für die eigene Position bei gleichzeitigem absoluten Fehlen jedes Indizes, die Gegenseite könnte auch einen Punkt haben).



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