30. Mai 2020

„Hier ist der Kompass verloren gegangen“

In der Pfingstausgabe heißt es auf der ersten Seite der FAZ, die Kirchen hätten bei der Pandemie versagt, weil sie in der Öffentlichkeit kaum mehr präsent seien, es bestünde in Deutschland die „Furcht, dass das Christentum im Land allmählich an seiner mangelnden Sichtbarkeit zugrunde geht“. Nicht wegen der einfachen Gläubigen. „An der Spitze sind beide Kirchen gefangen in überholten Strukturen. Sie handeln lahm.“ (Reinhard Bingener, Geist und Kirche, 30. Mai 2020)

DIE ZEIT schrieb auf ihrer Titelseite, die Kirchen hätten gelernt, sich mit der Deutung von Katastrophen zurückzuhalten. Der Glaube sei vernünftig geworden, gerade in Deutschland. „Aber war das genug?“ Thüringens ehemalige Ministerpräsidentin rügte das Versagen der Kirchen, die einer der größten Arbeitsgeber im Land sind, beim Schutz von Alten und Kranken. Das Gefühl sei: Das Schweigen der Kirchen ist merkwürdig, die Kirchen sind nicht systemrelevant: „Vielleicht weil sie in Deutschland so eng mit der Politik verbandelt sind. Vielleicht weil auch die Bischöfe sich heute als Konsenssucher verstehen und in einer Empörungsgesellschaft am ehesten durch Unauffälligkeit überleben.“ (Evelyn Finger, Frommes Schweigen, 28. Mai 2020.)

Stimmt das für alle? Schauen wir ein wenig weiter herum. ­

Martin Grichting, römisch-katholischer Geistlicher und Generalvikar des Bistums Chur, schiebt die Schuld auf die Mehrheit der Bürger. Die Covid-19-Massnahmen seien ohne gründliches Hinterfragen hingenommen worden, tadelt er.
Sein Beitrag erschien in der "Neue Zürcher Zeitung". Als Kirchenrechtler sagt er, es erstaune, dass es in europäischen Ländern so wenig Opposition gegen die drastischen Corona-Maßnahmen der Regierungen gibt. Hier sei der Kompass verloren gegangen. Und orakelt: Vielleicht sollte man angesichts des bescheidenen westlichen Freiheitsdurstes ein Wort Tocquevilles bedenken: «Die Freiheit ist eine Tochter des Christentums. Der Despotismus kann auf Religion verzichten, die Freiheit nicht.» (kath.net, 12.5.2020.)

Diese Kritik eines Kirchenführers erscheint mir sehr heikel. Wen meint er? Alle Bürger oder die Kirchgänger-Bürger? Christen müssten sich zuerst doch allererst selber kritisieren.

Am 24. Mai 2020 sollte in Deutschland in allen Gottesdiensten der Aufruf der Katholischen, Evangelischen und Orthodoxen Kirchen „Beistand, Trost und Hoffnung“ verlesen werden. Darin steht: „Wie alle unverschuldete Not kennt auch diese Krise keine Gerechtigkeit. Sie trifft die einen nur ganz am Rande, die anderen, oft genug die Schwachen, aber mit aller Härte. (…) Krankheit ist keine Strafe Gottes. (…) Krankheiten gehören zu unserer menschlichen Natur. (…) Auch wir Christen haben keine einfachen Antworten. (…) Gott leidet mit uns.“ (Kirchliches Amtsblatt Paderborn 163, 57-58)

Nicht nur die Wahrheit kann wehtun, sondern auch der Ton.

Ich vergleiche einmal, was die jüdische Psychoanalytikerin Erika Freeman, 92 Jahre alt, in einem Interview zur Krise sagte. Wie sie ihre Patienten in NY tröste? „Was jetzt passiert, ist eine universale Situation. Es ist das erste Mal, dass die ganze Welt im selben Boot sitzt – was eine gute Sache ist.“ Es sei kein Krieg, nur ein schwieriger, aber temporärer Zustand. „Jetzt tut aber nicht eine Nation der anderen etwas an. Es gibt in dieser Krise keinen Feind außer der Krankheit.“ (Zeit-Magazin 14.5.2020, S.16)

Das Virus hat ein Wunschbild zerstört, die Kontrolle über die Welt. Die Opfer sind die Wirtschaft, die Armen, die Kultur und die Unterhaltung Schaffenden, die Eltern und die Alten, der Urlaub. Gegen die Angst kann man nicht kämpfen, also kämpfen Protestler um politische Rechte. Es kämpfen aber zwei Grundrechte miteinander: Gesundheit und Freiheit. Eines ist neu gegenüber den Pestzeiten: Kaum einer klagt mehr den Schöpfer der Welt an. Warum? Die meisten verstehen sich als ein säkulares Ergebnis der Evolution.

Diesmal sind nicht einmal die Juden schuld, jedenfalls hier in Westeuropa, wie damals, als es die Mäuse oder Ratten waren. Oder gar ein Teufel, der uns als Werkzeug Gottes in Versuchung führen darf. Und die apokalyptisch-politischen Verschwörungstheorien sind wohl so echt wie die UFO-Sichtungen.

Die fundamentalistischen östlichen und westlichen Frommen, die glauben, die Hostie oder das Küssen einer Ikone stecke nicht an, sind Angeklagte. Die Not der gehorsamen Bischöfe und Pfarrer aber ist, dass sich auch durch wieder gefüllte Kirchenbänke der Abstand von der Verheißung Jesu für die Welt mittels des Sauerteigs der Christen nicht verringern wird. Vor allem hier ist der Kompass verloren gegangen. Die Freiheit wird nur dann eine muntere Tochter des Christentums, wenn man wie die echten Christen frei wird für ein Sichzusammentun zu einer großen Familie. „Ein Christ ist kein Christ“ lautet ein altes Axiom. Der Glaube ist leider nicht so ansteckend wie das Virus. Durch die lange Zeit der staatlichen Garantie haben die Kirchen, selbst getrennt und in sich gespalten, hierzulande die Kraft verloren, ein Volk Gottes für die Gesellschaft zu sein.

Die Deutschen blickten 75 Jahre zurück auf das Kriegsende. Viele beklagen das Versagen des Papstes unter Hitler. Unsere Kirchen nutzen die Kirchensteuer, die sie auch dem Konkordat Hitlers verdanken. Die Mahnung Ratzingers beim Papstbesuch in Freiburg wurde abgeschmettert. Akademische Genealogien des postchristlichen und des nachmetaphysischen Denkens sind Feigenblätter für die Wahrheit, dass die Kirche nackt ist, ohne Herrlichkeit.

Kardinal Rainer Maria Woelki deutete die Corona-Krise 2020 auf die Forderung an die Christen hin, die großen Lücken in der sozialen Gerechtigkeit, die Staatsgesetze nicht füllen können, durch ihre Gewissens-Verpflichtung auf die Nächstenliebe im Sinn des Subsidiaritätsprinzips auszugleichen. In seiner Aufforderung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Mai 2020, also auch zu Pfingsten, verband er diese Mahnung an die christliche Verantwortung mit der Glaubens-Praxis: „Das christliche Leben, das in der Eucharistie seine Quelle hat, muss sich jetzt zeigen im christlichen Handeln. Das gilt auch für uns Bischöfe, für die Kirche als Institution. Wir werden in nächster Zeit mit offenen Herzen prüfen müssen, wie wir in den zahllosen Notlagen helfen können. Es sind apokalyptische Zeiten. (…) Plötzlich ist das alles unerwartet real.“ (R.M. Woelki, Corona ist für Christen Stunde der Bewährung, FAZ Nr. 123, 28. Mai 2020, 8)

Aus Italien bekam ich jetzt einen beherzigenswerten Brief des pensionierten Pfarrers Aldo Antonelli vom 27. April 2020 in die Hände, der jene Bischöfe dort anklagte, sie hätten in falscher Weise auf die ob der Pandemie verbotenen Versammlungen in Gotteshäusern reagiert. Sie klagten die Regierung an, die Religionsfreiheit zu verweigern. Der alte Pfarrer fragt diese Bischöfe, warum bei liturgischen Versammlungen eine Ausnahme hätte gemacht werden können: Das wäre doch eine Verteidigung eines Aberglaubens an Riten gewesen, wenn man meint, der Leib Christi könne doch nicht das Corona-Virus übertragen. Das sei ein Abfall vom authentischen Glauben. Dann wörtlich: „Verzeihen Sie mir, wenn ich es wage, den Eindruck zu erwecken, dass das Evangelium, das Sie in den Kirchen lesen, sich von dem unterscheidet, welches Sie allgemein auf die Gläubigen hin und im Besonderen für die Politiker praktizieren. In dieser Zeit der leeren Kirchen hätten Sie die Christen daran erinnern können, dass ihre Aufgabe nicht darin besteht, Kirchen zu füllen, sondern der Welt eine Seele zu geben. Das habe ich meinen Gemeindemitgliedern immer wieder empfohlen: Ihr geht in die Kirche, um Hefe in der Welt zu sein; ihr seid nicht in der Welt, um in die Kirche zu gehen.“

Ludwig Weimer

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