8. Dezember 2018

Die vertane Chance. Die gewahrte Chance. Gedanken zur Wahl des CDU-Parteivorsitzenden

Und ernüchtert seh ich den grauen Tag.
Wo ist der November geblieben?
Wo ist das Volk, das einst unten lag,
Von Sehnsucht nach oben getrieben?
Stille. Vorbei. Es war nicht viel.
Ein Spiel. Ein Spiel.
So lautet die letzte Strophe von Kurt Tucholskys wunderbarem Gedicht "Dantons Tod". Und so ließe sich wohl auch (in poetischer Sprache) das Gefühl beschreiben, das viele Konservative gestern Abend ergriff, als sie die Nachricht von Annegret Kramp-Karrenbauers Sieg bei der Wahl zum CDU-Vorsitzenden vernahmen. Kollege Llarian hat diese Enttäuschung in unserem Blog in umschweifslos klare Worte gefasst. Unter dem Eindruck der Ereignisse hätte ich (fast) jeden Satz in Llarians Text unterschrieben. Heute bin ich anderer Auffassung. Vielleicht war es, auch und gerade aus konservativer Sicht, ein großer Segen, dass Friedrich Merz gestern nicht zum Präsidenten seiner Partei erkoren wurde.
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Diese vorderhand als extrem steil erscheinende These bedarf natürlich einer nicht nur einsilbigen Begründung. Zu deren Zwecke muss etwas ausgeholt werden.

Das Votum über den CDU-Vorsitz fand in einer für die Partei durchaus als nicht unschwierig zu bezeichnenden Situation statt. Die letzte Bundestagswahl erwies sich für die Christdemokraten als Desaster, und im kommenden Jahr stehen vier Urnengänge an, die für die CDU ein nicht ganz unerhebliches politisches Risiko mit sich bringen. Bei der Europawahl am 26. Mai könnten nichtmittige Gruppierungen erheblichen Auftrieb erhalten. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg (1. September) sowie in Thüringen (27. Oktober) wird die AfD aller Voraussicht nach sehr gut abschneiden und sich vielleicht sogar zur stärksten Kraft mausern.

In dieser Gemengelage hat die CDU im Wesentlichen zwei Handlungsoptionen: Sie kann entweder den sogenannten Kurs der Mitte, also ihre Anbiederung an das grüne Spießbürgertum, fortsetzen oder sich auf (unter der Herrschaft Merkels sträflich vernachlässigte) konservative Positionen zurückbesinnen. Die Wahl Kramp-Karrenbauers zur CDU-Vorsitzenden wird - wohl zutreffend - als Entscheidung zugunsten der erstgenannten Möglichkeit aufgefasst. Nur waren die Weichen für dieses Plazet zum Weiter-so schon längst gestellt.

Um dem System Merkel wirklich und wirksam ein Ende zu bereiten, wäre eine revolutionäre Entmachtung der Kanzlerin erforderlich gewesen. Der Kairos für diesen Umsturz wäre wohl irgendwo zwischen der Kölner Silvesternacht und dem unmittelbaren Nachgang zum Scheitern der Sondierungsverhandlungen über die Jamaika-Koalition gelegen. Man hat diesen günstigen Zeitraum aus zwei Gründen verstreichen lassen: Merkel hat in der CDU nach wie vor viele Anhänger. Und man stellte sich die (rhetorische) Frage, wer es denn an ihrer Stelle machen sollte. Deshalb wurde die längst überfällige Ablösung der Grande Dame der Christdemokraten auf unbestimmte Zeit vertagt.

Dies ermöglichte es der Regierungschefin allerdings, vielleicht ein letztes Mal ihre dem kümmerlichen Typus des gemeinen Aktivistenpolitikers weit überlegene machttaktische Brillanz aufblitzen zu lassen. Denn mit ihrem Entschluss, nicht mehr für den CDU-Vorsitz zu kandidieren, aber die Kanzlerschaft beizubehalten, hat sie ihren Nachfolger im Parteipräsidium letztlich in die Rolle einer Geisel gezwängt.

Anders und auf den konkreten Fall umgemünzt formuliert: Einen CDU-Vorsitzenden Merz hätte die richtlinienkompetente Merkel zweifellos geschnitten, auflaufen lassen und blockiert, wo es nur gegangen wäre. Die konservative Hoffnungsprojektion, die der Kandidat Merz letztendlich war, wäre auf diese Weise an der Wirklichkeit zerborsten und hätte bei denjenigen, welche die AfD nicht aus Überzeugung, sondern aus Verzweiflung wählen, zu einer weiteren Entfremdung von der CDU geführt. Dies kann einem Nichtlinken nicht gleichgültig sein: Denn solange die CSU vor einem bundesweiten Antreten zurückschreckt, kann der notwendige - um es in den Worten des von mir geschätzten Roman Herzog zu sagen - Ruck, der durch dieses Land gehen muss, nur von der CDU (und in Bayern selbstverständlich von der dazu ohnehin bereiten CSU) initiiert werden.

Mit der Wahl Annegret Kramp-Karrenbauers wurde die konservative Kohle nicht verheizt, sondern nur in den Keller gestellt. Wenn es bei den vier Wahlen im nächsten Jahr nicht so läuft wie gewünscht, tut man sich unter den gegebenen Umständen in der CDU schwer, einen angeblich viel zu rechten Sündenbock für diese Schlappe verantwortlich zu machen; denn die Führungspositionen hat man ja anderweitig vergeben. (Man komme mir nicht mit dem neuen Generalsekretär Paul Ziemiak. Dass dessen Einbindung in Wirklichkeit eine Anbindung ist - man will eine Kühnert'sche Meuterei im Keim ersticken -, dürfte allzu offensichtlich sein. Von Ziemiak geht jetzt wohl keine Gefahr mehr aus.) An Merz und Spahn wird es jedenfalls nicht liegen, wenn die CDU anno 2019 vom Souverän ordentlich abgewatscht wird.

Dass in der CDU noch genügend Potenzial für eine konservative Revolution vorhanden ist, zeigt das Resultat der Wahl zur Parteivorsitzenden: Wenn es zwischen einem Bewerber, der vor circa eineinhalb Jahrzehnten von der großen politischen Bühne abgetreten ist, und einer Kandidatin, die zuvor bestens vernetzte Generalsekretärin und Heldin aus jüngerer Zeit (Erstbremserin des Schulzzuges) war und zu deren Gunsten in den Medien massiv Propaganda betrieben wurde, etwa halbe-halbe ausgeht, dann kann man den Sessel der CDU-Präsidentin schlechterdings nur als Schleudersitz bezeichnen.

Möglicherweise ist in einem Jahr Jens Spahn, nachdem er mit Hilfe der ostdeutschen Verbände und der CSU eine infolge der diversen Wahlpleiten strauchelnde Kramp-Karrenbauer abserviert hat, Vorsitzender seiner Partei, und Neuwahlen zum Bundestag stehen an. Für die Zukunft dieses Landes gäbe es schlechtere Aussichten. Und Friedrich Merz kann sich dann mit einem Lächeln auf den Lippen überlegen, wie er seinen Ruhestand gestalten soll.

Noricus

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