10. Dezember 2018

Wahrheit. Häresie. Glashaus. Geisterfahrt. Eine kurze Meta-Reflexion

Wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen. Aber wie kann man denjenigen, der seine Situation aufgrund der Größe des Gebäudes oder der Eigenschaften des Baumaterials nicht erkennt, von der Schadensneigung seiner handartilleristischen Ambitionen überzeugen? Dem unbefangenen Betrachter stellt sich das Glashaus vielleicht sogar als Echokammer dar, seinen Bewohnern häufig nicht. Wie die Bibel schon lehrt, ist es leichter, den Splitter im Auge des anderen als den Balken im eigenen Sehorgan wahrzunehmen.
­
Gleichwohl werden die meisten Menschen, wenn ihre gesamte Umwelt einer bestimmten Ansicht widerspricht, irgendwann zu dem Schluss gelangen, dass nicht der Rest der Menschheit, sondern sie selbst falsch liegen. Das hat zum Teil mit Herdenverhalten, zum Teil mit intuitiver Stochastik zu tun: Wenn einem auf der Autobahn tausend Fahrzeuge entgegenkommen, ist es wahrscheinlicher, dass man selbst der Geisterfahrer ist, als dass es die übrigen Verkehrsteilnehmer wären. Aber je mehr sich die Zahl derer, die sich in die eine, und jener, die sich in die andere Richtung fortbewegen, angleicht, wird sich dieses Bild relativieren. Und was passiert, wenn das Verhältnis irgendwann einmal kippt? Die Verkehrszeichen mögen zwar immer noch an ihrem Ort stehen, aber was tun wir, wenn die Mehrheit sie ignoriert?

Die herrschende Meinung ist angeblich die Meinung der Herrschenden. Doch in unserer Zeit ist bereits strittig, wer die Lufthoheit über den Diskurs ausübt. Man zeiht gern die anderen dieser Hegemonie, weil Konformität mit dem, was die meisten für richtig halten, suspekt ist und nach unreflektierter Nachdackelei riecht. Querdenker sind schon deshalb angesehen, da sie es wagen, sich ihres Verstandes ohne fremde Anleitung zu bedienen. Und wenn man sich selbst nicht zum intellektuellen Außenseiter stilisieren kann, weil man zu offensichtlich einer verbreiteten Ideologie folgt, beschuldigt man die Abweichler der Fake-News-Ventilation. Dann darf es keine unterschiedlichen Auffassungen mehr geben, sondern nur noch Wahrheit oder Lüge. Der selbsternannte Querdenker ist immer Giordano Bruno, die unleugbar dem Mainstream Huldigenden sind immer die seinerzeitige katholische Kirche. Aber so recht passt diese Gleichsetzung nicht: Denn der Vatikan war und ist wenigstens ehrlich genug, von Dogma und Häresie und nicht von Wahrheit und Lüge zu sprechen.

Das dichotomische Denken à la "Das stimmt. Das stimmt nicht" ist reichlich naiv, kommt es doch in unserer heutigen Mediengesellschaft nicht auf die Wahrheit, sondern auf die Wirklichkeit (im Hegel'schen Sinne: also auf das, was Wirkung zeitigt) an. Auch könnte man ad nauseam darüber diskutieren, was die Wahrheit denn eigentlich ist: Ein Link zu einer Sammlung von Zahlenmaterial wird sie selten ergründen, weil diese Quelle meistens der Kontextualisierung, der Einordnung bedarf. Wahrheit ist letztlich das Beweisbare, aber die Beweiswürdigung enthält immer auch eine subjektive Komponente (und ist somit nicht schon deshalb falsch, weil man genauso zutreffend auch zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis kommen könnte).

Wer diese Ausführungen als aporetischen Nihilismus oder nonchalanten Erkenntnis-Liberalismus ("Anything goes") zurückzuweisen trachtet, möge daran erinnert sein, dass es selbstverständlich bessere und schlechtere Begründungen für eine Ansicht gibt. Aber welches nun die bessere oder die schlechtere Begründung ist, lässt sich (wenn überhaupt) nur selten objektiv nachvollziehbar kanonisieren. Jeder kann sich seinen eigenen Reim auf diese Bewertung machen. In der öffentlichen Debatte kommt es dann aber wieder auf die Mehrheitsverhältnisse an, die nicht immer rein numerisch zu verstehen sein müssen, aber können. Lässt sich die Erkenntnis aristokratisch oder demokratisch (als Dogma) legitmieren oder ist sie aufgrund gleichsam naturwissenschaftlicher, der menschlichen Interpretation enthobenen Gesetze das, was sie ist?

Noricus

© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken.