Der Silvestertag bietet traditionellerweise die Gelegenheit, einen Jahresrückblick anzustellen. Die enzyklopädischen Retrospektiven überlasse ich den
Freunden von den Qualitätsmedien. Im Folgenden möchte ich vielmehr zwei in den vergangenen
365 Tagen an die Oberfläche getretene Ereignisse herausgreifen, die meines
Erachtens symptomatisch für das Debattenklima in diesem Lande waren und sind
und denen deshalb exemplarische, über den bloßen Einzelfall hinausgehende
Bedeutung zukommt.
Der erste zu besprechende Themenkomplex ist die Erklärung Mesut Özils
zu dem vielkritisierten Fototermin mit dem
türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und die Reaktion der deutschen
Presselandschaft darauf.
Özils Stellungnahme (Teil 1,
Teil 2 und Teil 3) wurde in den Medien zunächst durchaus kontrovers diskutiert,
wenngleich – soweit für mich ersichtlich – bestimmte Inkonsistenzen in der
Argumentation des beim FC Arsenal beschäftigten Ballkünstlers nicht die
gebührende Erwähnung fanden. Özil rechtfertigte sein Posieren mit dem starken
Mann am Bosporus damit, dass es ihm bei der umstrittenen Fotosession nicht um
Politik oder Wahlen ging, sondern er seinen Respekt vor dem höchsten Amt des
Landes, aus dem seine Familie stammt, bezeugen wollte. Nicht wer Präsident ist,
sondern dass es der Präsident ist, sei für seine Entscheidung maßgeblich
gewesen.
Die Frage, wie Özils
behauptete Sensibilität für nationale Symbolik mit seiner hartnäckigen
Verweigerung des matcheinleitenden Mitsingens der Bundeshymne zueinanderpasst,
hätte sich nicht nur aufgedrängt, sondern auch zu einer weitergehenden
Diskussion über das immer wieder halbgar aus der Pfanne des öffentlichen
Diskurses genommene Reizthema führen können, zu welchen Werten und deutschen
Eigentümlichkeiten sich Menschen mit Migrations- oder kulturell allochthonem
Hintergrund bekennen müssen, damit sie als integriert gelten. Reicht, wie so
oft vorgetragen, eine Beherzigung dessen, was in den Artikeln 1 bis 20 des
Grundgesetztes steht, oder gibt es doch ein bisschen mehr, was eine – wenn auch
extrem pluralistische – Gesellschaft im Innersten zusammenhält?
Und wie sollte man Özils
Beschwerde verstehen, dass man ihn, den in Deutschland Geborenen und Beschulten,
einen Deutschtürken nenne, während Lukas Podolski und Miroslav Klose niemals
als Deutschpolen bezeichnet würden (der Cicero fragte sich anlässlich der EM
2012 immerhin, ob Klose „nun ein deutscher Pole oder ein polnischer
Deutscher“ sei), wo doch Özil als
Schlüssel für das Verständnis seiner Teilnahme an dem Termin mit Erdoğan den
Respekt vor den Wurzeln seiner Vorfahren („the roots of my ancestors“) benennt.
Auch hier hätte sich eine weiterführende Debatte angeboten, und zwar über den
wunden Punkt, wie sehr sich Migranten beziehungsweise deren Kinder und Enkel
selbst aus der Mehrheitsgesellschaft ausschließen, wenn sie sich zur Erklärung
von Besonderheiten in ihrem Auftreten auf ihre Familienhistorie berufen. Anders
formuliert: Stempelt sich ein Deutscher, der mit Rücksicht auf die
Einwanderungsgeschichte seiner Altvorderen einem ausländischen Staatsoberhaupt
seine Aufwartung macht, nicht selbst zum Kompositumdeutschen?
Die hiesige Presse ist leider
viel zu schnell über das von Özil hingehaltene Rassismus-Stöckchen gesprungen. Abgesehen
davon, dass ein privilegiert lebender Spitzenverdiener mit jahrelanger
Stammplatzgarantie in der Nationalmannschaft kaum als Musterbeispiel für die
Benachteiligung aufgrund einer bestimmten Herkunft dienen kann, müssen sich die
heimischen Medien auch das Folgende vorhalten lassen: Wer gewisse Themen links
(oder hier wohl besser: rechts) liegen lässt, weil die betreffende
Fragestellung von der eigenen Leserschaft schon als Anschlag auf deren
Dogmengebäude aufgefasst werden könnte, braucht sich nicht zu wundern, wenn die
entsprechenden Diskussionen in den so geflissentlich verachteten Schwatzbuden
des World Wide Web geführt werden. Der Verlust journalistischer Autorität ist
zu einem guten Teil hausgemacht: Wer über eine Sache nicht mehr redet, kann
über sie auch keine Diskurshoheit gewinnen.
Beim zweiten Thema, über das
ich hier schreiben möchte, kann ich mich zur Erleichterung meiner geschätzten Leserschaft
etwas kürzer fassen, weil ich mich dazu vor wenigen Tagen bereits ein- und ausgelassen
habe. Es geht um die Fakenews-Köpenickiade, wie ich den Skandal um die
Fälschungen des vielfach ausgezeichneten Reporters Claas Relotius mittlerweile
zu benamsen geruhe, oder vielmehr um dessen bisheriges Nachspiel in den deutschen Medien.
Um hier Endgültiges zu sagen,
ist es noch zu früh. Allerdings vermisse ich schon jetzt eines: nämlich den
Blick auf das Systemische. Die Fakenews-Köpenickiade hat mit beklemmender
Deutlichkeit gezeigt, dass auch die Multiplikatorenklasse in einer Echokammer
lebt, mag diese auch größer sein als die immer wieder perhorreszierten Facebook-Gruppen
und so namhafte Mitbewohner umfassen wie das Gros der hierzulande
publizierenden Qualitätsjournalisten. Bezeichnend für diese Fehlwahrnehmung
ist, dass eine Kennzeichnungspflicht für das Phantom der Debattenbeeinflussung
durch sogenannte Social Bots ernsthaft gefordert beziehungsweise erwogen wird, wo
doch das Maß aller Dinge in Sachen Manipulation der öffentlichen Meinung noch
immer der Mensch (und zwar der von einem zahlenmäßig relevanten Publikum
rezipierte Mensch) ist.
Noricus
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