31. Dezember 2018

Der Jahresrückblick mit Mesut und Claas

Der Silvestertag bietet traditionellerweise die Gelegenheit, einen Jahresrückblick anzustellen. Die enzyklopädischen Retrospektiven überlasse ich den Freunden von den Qualitätsmedien. Im Folgenden möchte ich vielmehr zwei in den vergangenen 365 Tagen an die Oberfläche getretene Ereignisse herausgreifen, die meines Erachtens symptomatisch für das Debattenklima in diesem Lande waren und sind und denen deshalb exemplarische, über den bloßen Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt.

Der erste zu besprechende Themenkomplex ist die Erklärung Mesut Özils zu dem vielkritisierten Fototermin mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und die Reaktion der deutschen Presselandschaft darauf.
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Özils Stellungnahme (Teil 1, Teil 2 und Teil 3) wurde in den Medien zunächst durchaus kontrovers diskutiert, wenngleich – soweit für mich ersichtlich – bestimmte Inkonsistenzen in der Argumentation des beim FC Arsenal beschäftigten Ballkünstlers nicht die gebührende Erwähnung fanden. Özil rechtfertigte sein Posieren mit dem starken Mann am Bosporus damit, dass es ihm bei der umstrittenen Fotosession nicht um Politik oder Wahlen ging, sondern er seinen Respekt vor dem höchsten Amt des Landes, aus dem seine Familie stammt, bezeugen wollte. Nicht wer Präsident ist, sondern dass es der Präsident ist, sei für seine Entscheidung maßgeblich gewesen.

Die Frage, wie Özils behauptete Sensibilität für nationale Symbolik mit seiner hartnäckigen Verweigerung des matcheinleitenden Mitsingens der Bundeshymne zueinanderpasst, hätte sich nicht nur aufgedrängt, sondern auch zu einer weitergehenden Diskussion über das immer wieder halbgar aus der Pfanne des öffentlichen Diskurses genommene Reizthema führen können, zu welchen Werten und deutschen Eigentümlichkeiten sich Menschen mit Migrations- oder kulturell allochthonem Hintergrund bekennen müssen, damit sie als integriert gelten. Reicht, wie so oft vorgetragen, eine Beherzigung dessen, was in den Artikeln 1 bis 20 des Grundgesetztes steht, oder gibt es doch ein bisschen mehr, was eine – wenn auch extrem pluralistische – Gesellschaft im Innersten zusammenhält?

Und wie sollte man Özils Beschwerde verstehen, dass man ihn, den in Deutschland Geborenen und Beschulten, einen Deutschtürken nenne, während Lukas Podolski und Miroslav Klose niemals als Deutschpolen bezeichnet würden (der Cicero fragte sich anlässlich der EM 2012 immerhin, ob Klose „nun ein deutscher Pole oder ein polnischer Deutscher“ sei), wo doch Özil als Schlüssel für das Verständnis seiner Teilnahme an dem Termin mit Erdoğan den Respekt vor den Wurzeln seiner Vorfahren („the roots of my ancestors“) benennt. Auch hier hätte sich eine weiterführende Debatte angeboten, und zwar über den wunden Punkt, wie sehr sich Migranten beziehungsweise deren Kinder und Enkel selbst aus der Mehrheitsgesellschaft ausschließen, wenn sie sich zur Erklärung von Besonderheiten in ihrem Auftreten auf ihre Familienhistorie berufen. Anders formuliert: Stempelt sich ein Deutscher, der mit Rücksicht auf die Einwanderungsgeschichte seiner Altvorderen einem ausländischen Staatsoberhaupt seine Aufwartung macht, nicht selbst zum Kompositumdeutschen?

Die hiesige Presse ist leider viel zu schnell über das von Özil hingehaltene Rassismus-Stöckchen gesprungen. Abgesehen davon, dass ein privilegiert lebender Spitzenverdiener mit jahrelanger Stammplatzgarantie in der Nationalmannschaft kaum als Musterbeispiel für die Benachteiligung aufgrund einer bestimmten Herkunft dienen kann, müssen sich die heimischen Medien auch das Folgende vorhalten lassen: Wer gewisse Themen links (oder hier wohl besser: rechts) liegen lässt, weil die betreffende Fragestellung von der eigenen Leserschaft schon als Anschlag auf deren Dogmengebäude aufgefasst werden könnte, braucht sich nicht zu wundern, wenn die entsprechenden Diskussionen in den so geflissentlich verachteten Schwatzbuden des World Wide Web geführt werden. Der Verlust journalistischer Autorität ist zu einem guten Teil hausgemacht: Wer über eine Sache nicht mehr redet, kann über sie auch keine Diskurshoheit gewinnen.

Beim zweiten Thema, über das ich hier schreiben möchte, kann ich mich zur Erleichterung meiner geschätzten Leserschaft etwas kürzer fassen, weil ich mich dazu vor wenigen Tagen bereits ein- und ausgelassen habe. Es geht um die Fakenews-Köpenickiade, wie ich den Skandal um die Fälschungen des vielfach ausgezeichneten Reporters Claas Relotius mittlerweile zu benamsen geruhe, oder vielmehr um dessen bisheriges Nachspiel in den deutschen Medien.

Um hier Endgültiges zu sagen, ist es noch zu früh. Allerdings vermisse ich schon jetzt eines: nämlich den Blick auf das Systemische. Die Fakenews-Köpenickiade hat mit beklemmender Deutlichkeit gezeigt, dass auch die Multiplikatorenklasse in einer Echokammer lebt, mag diese auch größer sein als die immer wieder perhorreszierten Facebook-Gruppen und so namhafte Mitbewohner umfassen wie das Gros der hierzulande publizierenden Qualitätsjournalisten. Bezeichnend für diese Fehlwahrnehmung ist, dass eine Kennzeichnungspflicht für das Phantom der Debattenbeeinflussung durch sogenannte Social Bots ernsthaft gefordert beziehungsweise erwogen wird, wo doch das Maß aller Dinge in Sachen Manipulation der öffentlichen Meinung noch immer der Mensch (und zwar der von einem zahlenmäßig relevanten Publikum rezipierte Mensch) ist.


 Noricus

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