Allein der eine Satz „In Auschwitz ist nicht das Judentum gestorben, sondern das Christentum" (1946 im Bericht „Die Nacht") könnte Elie Wiesel unsterblich machen. Man möchte mehr von ihm wissen und lesen. 1986 bekam er den Friedensnobelpreis und 2016 ist sein Todesjahr.
Siebter von links in der zweiten Reihe von unten (links vom Pfosten): Wiesel im KZ Buchenwald, 16. April 1945, 5 Tage nach der Befreiung.
1982 veröffentlichte Wiesel fünf Porträts jüdischer Propheten: Josua, Elias, Saul, Jeremias und Jona. Ich wähle das erste und kriegerischste vom Eroberer: „Josua oder die Tragik des Siegers". Warum? Weil ich zeigen will, wie er mit dem biblischen Bericht, den er so nimmt, wie er da steht, ringen muss, um zu seinem Ziel zu kommen: Manchmal könne ein Krieg unvermeidlich sein und gerechtfertigt als Verteidigungskrieg. Aber hier war es anders: „Josua irritiert uns."
„Warum enden alle Schlachten Josuas in Massenexekutionen und Gemetzel? Man liest Josuas Heldentaten, bewundert sie, ist aber doch beschämt. Wieder und wieder fragt man: warum, warum? Warum vernichtete er alle Bewohner Jerichos? Warum erschlug er alle Bürger von Ai? (...)Vielleicht wollte Gott Israel diesen Krieg führen lassen, damit es ein für allemal den Geschmack am Krieg verlor." Andere Kulturen hätten von Frieden und Brüderlichkeit geredet, aber dann Zerstörungen im großen Stil gefrönt. Bei Israel umgekehrt. Daher: „Sein Buch über den Krieg ist ein Buch gegen den Krieg".
Das wirkt etwas künstlich. Wiesel ahnt nicht, dass die Lösung ganz woanders liegt. Mein Religionslehrer am Gymnasium nahm auch den Text, wie er dasteht, und legte ihn unsinnig im damaligen Stil von „Und die Bibel hat doch recht" aus, so dass ich empört war. Sieben Tage sei das Heer Josuas um Jericho gezogen mit lauten Posaunen, um die Geräusche des Unterminierens zu unterdrücken, dadurch hätte die Mauer dann zum Einsturz gebracht werden können. Für mich als Schüler war das Wunder also nicht Poesie, sondern Bluff.
Als Student, der die jüdische Bibel liebte, wollte ich später wissen, was da wirklich war. Ich erfuhr von den Archäologen, dass die Stadt Jericho in den in Frage kommenden Jahrhunderten bereits eine Ruine war, höchstens einige Hütten von Hirten gab es auf dem alten Schutthügel aus mehreren Eroberungen. So bildete ich mir den Reim: Der wichtige Sperrriegel zwischen Nord und Süd war also bereits zerstört, aha, deshalb redet der Text auch beinah wie von einer siebentägigen Dankprozession für das Wunder, dass Jericho wunderbarerweise kein Hindernis mehr war. Bei der nächsten Stadt, die Josua erobert haben soll, Ai, war es noch einfacher: Ai heißt übersetzt „Ruine". Sind die schlimmen Geschichten also alle erfunden?
„Keine Posaunen vor Jericho"
Eines Tages stieß ich auch auf den Spott des großen Hermann Samuel Reimarus, den Lessing anonym herausgab: „Wenn Josua solche übernatürliche Mittel der Eroberung des Landes zu seinem Dienst hatte; wenn er die Mauern der Festungen umschreien und umblasen konnte; wenn er sogar Sonne und Mond zur Vollendung seines Sieges konnte stillstehen heißen: was brauchte er denn Kundschafter nach Jericho zu schicken? Warum sollte er eine Hure, und deren Verräterei des Vaterlandes mit in die Ausführung seines Vorhabens einflechten?" (Apologie I,IV,1§3) Es muss auch in der Bibel alles natürlich zugehen.
2001 kam die Bombe von den Profis Israel Finkelstein und Neil Asher Silberman: „The Bible Unearthed. Archaeology's New Vision of Ancient Israel and the Origin of Its Sacred Texts"; 2004 in deutsch "Keine Posaunen vor Jericho". Die Archäologen hatten das ganze Kernland Israels erforscht und keine einzige zur fraglichen Zeit verbrannte Stadt gefunden, sondern nur die Spuren von unbefestigten Dörfen an Rodungsstellen im Bergland (250 winzige Dörfer auf Bergspitzen am Wüstenrand). Das Josuabuch muss also eine reine Erfindung sein. Umso schlimmer? Ein älterer agnostischer Kibbuznik sagte mir: Der Spaten der Ausgräber überzeugt mich natürlich, ja, es war ganz anders, die Eroberung ist eine Fiktion; aber meine Frau kann es nicht glauben, sie hält das Buch für eine Lüge.
Die Antwort kann nur die Lösung der Frage geben, die auch Wiesel einmal stellt, die er aber bei den Bibelwissenschaftlern damals noch nicht fand oder las:
„Wer hat es geschrieben?"
Wer hat die stille jahrhundertelange Volkwerdung mit Einwanderern, Verarmten und Einheiratungen zum großen Feldzug umgemodelt? Was hatte er im Sinn, der Geschichte diesen Sinn zu geben? Das Buch Josua muss viel später geschrieben sein. Welche Situation kann es hervorgebracht haben?
Der Altmeister Norbert Lohfink in Frankfurt vermutet als die frühestmögliche Zeit, als König Hiskija (728-699) Jerusalem gegen die assyrischen Eroberer aufrüstete: Nicht nur die Wasserquelle durch den Fels in die Stadt leiten und die Mauern verstärken, auch psychologische Hilfe für das Abenteuer der Verteidigung geben. Man kann dazu 2 Könige 18-19 lesen. Mich führt die Art der Darstellung des Helden Josua auf die Idee, an das 48jährige Exil in Babel zu denken (586-538). Da mussten zwei Generationen Jugendliche heranwachsen angesichts einer großartigen Militärmacht mit fremden Sterngöttern. Franz Werfel hat den verführerischen Glanz dieser Fremdmacht historisch zutreffend beschrieben (Jeremias. Höret die Stimme, 24. Kapitel). Mussten die jüdischen Politiker, Priester, Leviten und Schreiber der Jugend nicht einen packenden Gegen-Roman schreiben, einen noch besseren Feldherrn Josua besingen? Man konnte die Jugend doch nicht nur mit Gebeten an der jüdischen Identität festhalten. Das ist eine Vermutung für die Entstehungsgeschichte und weitere Textgenese. Redaktoren hätten diesen Roman dann in die Gesamtvorgeschichte eingefügt, um die Zeit zwischen Mose und David zu füllen. Denn es gab eine Lücke zu den Stammessagen der Richterzeit.
Es wäre diese frühe Heldengeschichte in Wirklichkeit eine Überlebensliteratur in der Zeit des Exils ohne Heimatland und Tempel und zu vergleichen mit der noch älteren Auszugsgeschichte aus Ägypten, dem Gründungsmythos eines Volkes, das keinen König will außer Gott und das einen Ausweg gegen die Tyrannen sucht. Auch da schweigen die historischen Zeugnisse völlig. Und kein Pharao kann im Meer umgekommen sein, denn alle Mumien sind noch heute vorhanden im Museum von Kairo. Aber auch die bei den Juden geborene Freiheitssehnsucht ist heute noch vorhanden.
Elie Wiesel, Von Gott gepackt. Prophetische Gestalten. Aus dem Amerikanischen von Ursula Schottelius. Herder, Freiburg/Br./Basel/Wien 1989, ISBN 3-451-18121-5.
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