Das Fragezeichen im Titel bezieht sich, da sei vorausgeschickt, allein auf das Thema der Abrüstung der nordkoreanischen Atomwaffen, der Einhegung des Nulearwaffenprogramms, und, wenn wir Glück haben und es die Parzen, die den Schicksalfaden weben, gut meinen, auf den Verzicht der Drohkulisse gegenüber dem südlichen Nachbarn. Beim Thema des Endes der Einparteien- nein: Einpersonen-Diktatur, bei der strikten Ausrichtung an der drakonischen Tyrannei der Juche-Ideologie, könnte es umstandslos wegfallen. Daran wird sich, aller Voraussicht nach, in den nächsten Jahren, womöglich Jahrzehnten, nichts ändern. Aber was die friedliche (Auf)-Lösung der Konfrontation, der Drohkulisse, die ja nicht erst seit der Eskalation im letzten Jahr besteht, die seit Jahrzehnten unverändert anhält, so gibt es, wenn ich denn die Zeichen richtig lese, Grund zum Aufatmen. Natürlich ist dies, in sehr hohem Maße, Kaffeesatzleserei - das, was zu den Herrschaftszeiten Stalins und Chruschtschows als "Kremlastrologie" bekant war: der Versuch, aus dem wenigen, was man als halbwegs gesichert in Erfahrung bringen konnte, in Kombination mit sichtbaren Anzeichen wie etwa der Positionierung als wichtig eingeschätzter Funktionäre des Systems bei den jährlichen Waffenparaden auf dem Roten Platz, Aufschlüsse über Machtkämpfe an der Parteispitze, über die Verschärfung des Wettrüsten und ähnliche auszukultieren. Niemand weiß, welche Überlegungen, Strategien in der Führung in Pyöngyang den Ausschlag geben, welches Risiko man um der starren ideologischen Entschlossenheit halber einzugehen bereit ist. In den neunziger Jahren, nach dem Tod des "großen Führers" Kim Il-sung 1994, hat sich das Land von der durch die Kommando(miß)wirtschaft ausgelösten Hungersnot nicht in seinem strikten Isolationismus beirren lassen. (Die Schätzwerte über die Anzahl der Opfer dieser "schwerer Marsch", 고난의 행군, genannten Katastrophe zwischen 1994 und 1998 gehen weit auseinander: sie reichen von einer Viertelmillion bis 3,5 Millionen. Das United States Census Bureau hat in einem Untersuchungbericht 2011 die wahrscheinliche Anzahl der Todesopfer auf eine halbe Million taxiert.)
Dennoch: wenn den Zeichen, die dem Protokollanten an den heutigen Berichten über das Treffen der südkoreanischen Verhandlungsdelegation mit dem nordkoreanischen maximo líder Kim Jong-un ins Auge stechen, Gewicht zuzumessen ist, dann könnten wir heute Zeuge eines grundlegenden Wandels geworden sein. Die Berichterstattung in den deutschen Medien erweist sich, kaum überraschend, als wenig erhellend. Man hebt lieber auf Sandkastenstrategie im Konjunktiv und natürlich auf den Gesichtsverlust oder -gewinn des amerikanischen Präsidenten hin (etwa bei SPON unter der Headline Koreaner überrumpeln Weltmächte USA und China), anstatt sich auf die Farbe und die Drift der sichtbaren Kaffeeblätter zu kaprizieren. Deshalb sei hier stattdessen aus dem englischsprachigen Bericht des Business Insider zitiert, der sich wiederum auf Meldungen des "Blauen Hauses", des Büros des südkoreansichen Ministerpräsidenten, beruft: "Under pressure, Kim Jong Un agrees to talk to the US about denuclearizing, peace":
North Korean leader Kim Jong Un is ready to talk to the US about abandoning his country's nuclear arms and pursuing peace with South Korea, according to the South Korean president's office, the Blue House.
North Korea also said it would suspend provocations like nuclear and missile tests during negotiations, the Blue House said Tuesday.
"Chairman Kim said that even denuclearization could be among the agenda items for talks between North Korea and the US," a Blue House spokesman said, according to the South Korean news agency Yonhap. "What drew our attention, in particular, is that he made clear that achieving denuclearization is his father's dying wish and that it has not been changed at all.”
Under Kim, North Korea wrote the possession of nuclear weapons into its constitution, and it has bitterly opposed any efforts to rid the country of its weapons. The US has maintained that it will denuclearize North Korea whether by force or by diplomacy, making the subject of denuclearization the major roadblock toward peace on the Korean Peninsula since 1994.
Die Kehrtwendung von den bisherigen strikten und kompomißlosen Bestehen auf dem eigenen Atomwaffenarsenal ist die eine Sache; die andere ist, daß hier, zum ersten Mal seit dem Ende des Koreakrieges von fünfundsechzig Jahren (oder besser: seinem Einfrieren am 53. Breitengrad), sich beide Staaten in Form von Delegationen direkt gegenübersitzen, ohne die Zwischenschaltung "neutraler" Verhandlungspuffer, wie China oder den Vereinigten Staaten. Wichtiger aber erscheint die Begründung, die der "Vorsitzende des Kommittees für Staatsangelegenheiten" dafür vorgebracht hat, das Thema der atomaren Abrüstung von seiner Seite aufs Tablett zu legen. Seit den frühen 1980er Jahren, als sich die Verfestigung der vermeintlichen Diktatur der Bauern und Werktätigen, vertreten durch die Allmacht der Partei und ihrer Ideologie zu einer absoluten Dynastienherrschaft nach dem ältesten Muster politischer Großgebilde abzeichnete, hat die nordkoreanische Propaganda dies über die Bande des Vorbildcharakters der Handlungen des Großen Führers, des Staatschefs auf Ewigkeit (so ist es in der oben erwähnten Verfassung festgeschrieben) gespielt. Kim Jong-il, der zweite Herrscher der Dynastie, hat bei seinen angelegentlichen Staatsvisiten in Beijing und (zwei Mal) im Moskau immer pointiert darauf verzichtet, wieder jeder andere Staatschef per Flugzeug anzureisen und statt dessen auf einen Sonderzug zurückgegriffen. Die offiziöse Begründung, die bei jeder dieser Gelegenheiten betont wurde, war, daß Kim Il-sung nie in seinem Leben ein Flugzeug benutzt habe und diese Beschränkung als Vorgabe diene. Bei der Staffelübergabe vom Vater auf den Sohn, entgegen den Propagandadirektiven aller sich nominell als "sozialistisch" oder "kummunistisch" gerierenden Diktaturen, ist dieses dynastische Vorbildschema noch vertieft worden: Kim pêre et fils wurden von der Propaganda zur Wiederkehr oder zum Echo des mythischen ersten Gründers des ersten koreanischen Königreichs Gojoseon im Jahr 2333 v.Chr., Dangun, und seines ihm nachfolgenden Sohn erklärt. Anfang der neunziger Jahre haben Archäologen angeblich die Grabstätte beider Kulturheroen ausgegraben und die alten Legenden rundum bestätigt (das an Ort und Stelle darüber errichtete Mausoleum von Tangun soll 1994 eröffnet worden sei; sicher ist zumindest, daß die offiziellen Berichte darüber 1994 erschienen sind.), wie es die weise Eingebung des "Großen Führers" vorhergesehen hatte. (In der Bizarrerie der Auswüchse des Personenkults zeigen sich bei Kim dem Ersten durchaus Parallelen zu denen seines europäischen - oder balkanischen - Pedants und letztem verbliebenem Verbündeten, Enver Hodscha. Nach dem Tod Kims berichtete die offiziöse Staatspropaganda von Vogelschwärmen, die seine überall über Land verteilten Statuen in Huldigung umkreisten; aus Hodschas Fußspuren bei der Besichtigung von Baustellen, die den Aufbruch Albaniens in ein glorioses Industriezeitalter markierten, wuchsen über Nacht, wie von dem einzigen Radio- und dem einzigen Fernsehsender beflissentlich reportiert, unzählige Rosenbüsche.) Im Fall der nordkoreanischen Nuklearwaffen ist ein Rekurs auf das Heilswirken des Staatsgründers natürlich ausgeschlossen, da die erste Testzündung erst am 9. Oktober 2006 erfolgte. Aber wenn, jetzt auch wieder im Sinn "politischer Mythologie", nun in Anspruch genommen wird, daß dessen Kappung und Einhegung der letzte, heiligste Wunsch seines Stammvaters gewesen sei, dann hat das womöglich doch etwas mehr Gewicht als die Nasführung und Finte, wie sie etwa bei Spiegel Online für möglich gehalten wird. Wir werden das in jedem Fall erst in ein paar Jahren mit Sicherheit wissen.
Ulrich Elkmann
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