23. März 2018

Der Zeitgeist wandelt das Judas-Bild

Die 30 Silberstücke (600 Euro) können es nicht gewesen sein. Was trieb einen der zwölf engsten Vertrauten Jesu an, den Meister zu verraten? Vielleicht war es gar kein Verrat, sondern der gescheiterte Plan einer taktischen Hilfe zum öffentlichen Erfolg des wundertätigen Messias: Jesus sollte vom Kreuz heruntersteigen und seine Macht beweisen? Seit Jahrzehnten versuchen Schriftsteller, sich in Judas zu versetzen und den Verleumdeten in einen Vertreter des heutigen Gutmenschen-Menschenschlags zu verwandeln. Jetzt scheint es geglückt, und es ist an der Zeit, diesem Erfolg des Zeitgeistes zu widersprechen. ­

Die Jünger haben nach der Hinrichtung Jesu dem Verurteilungsgrund auf der Kreuzesinschrift „König der Juden“ mit anderen Titeln widersprochen. Jesus war für sie nicht ein falscher Messias, sondern der „Menschensohn“ aus Daniel 7,13: kein politischer, sondern der den Glauben reformierende Gottesknecht aus Jesaja 53.

Jesus selbst hatte nach Meinung vieler Experten sich selber noch gar nicht mit dem Bringer des Gottesreiches identifiziert. Erst die göttliche Revision des Todesurteils habe zu den drei Titeln Gottesknecht, Menschensohn und Gottessohn geführt.

Konnte Jesus vielleicht doch verwechselt werden mit einem politischen Gegenkönig zu Roms Statthalter? Kaum. Er wirkte als Therapeut und innerjüdischer Kritiker. Er suchte wie ein Arzt nach einem Heilmittel für den katastrophalen Zustand einer Scheidung zwischen ‚Sündern‘ und ‚Gerechten‘ und ergriff als Medikament das Verlegen des Hauptakzents der Gesetze vom Äußerlichen auf die Herzen, auf das Innere und die Ethik der Nächstenliebe.

Warum wurde Jesus von den Hohenpriestern und vom Hohen Rat aber abgelehnt und konnte mit dem Vorwand, er plane eine messianische Rebellion, dem römischen Statthalter zur Hinrichtung ausgeliefert werden?

Es gibt kein Protokoll des Prozesses und keine Zeugen. Nur vier Passionserzählungen. Eine davon oder eine Urfassung muss sehr früh entstanden sein. Christen haben sie verfasst. Der Verrat von innen her, der des Judas, spielt eine Hauptrolle. Die Feigheit der übrigen Apostel wird nicht verschwiegen.

Ein durch zu viel Glauben Gescheiterter?

Dem Text der Passionsberichte wird heute von Romanschreibern widersprochen.

Eine eher schriftstellerische als exegetische Deutung benutzt zur Erklärung des juristischen „Unfalls“ der Tötung Jesu die schillernde Gestalt des Judas. In der heute modischen Sicht, ausgehend von Walter Jens („Der Fall Judas“) und Ben Beckers Vorstellung („Ich, Judas“) in Kirchen, Theatern und im Film, besonders unterstützt auch durch Amos Oz, dessen Rede vom 25. Mai 2017 in Berlin gerade als Essay und als sein zweites Buch über Judas erscheint, war Judas der subjektiv gläubigste unter den zwölf Aposteln: Er habe den zögernden Jesus durch seine taktische Anzeige in Wirklichkeit zu einem großen Gotteswunder und Erfolg zwingen wollen und habe dann, nach dem Ausbleiben des Eingreifens Gottes, zur Strafe sich selbst gerichtet, erhängt. Diese Umdeutung fand Gefallen, wohl auch, weil sie das Böse zu einem subjektiv Guten umbiegt: Es war gar kein Verrat, sondern der Fehler eines Fanatikers, ein gescheitertes gutgemeintes Tun. „In Wirklichkeit war er ein großer Gläubiger: Er glaubte an die universale Liebe, die Einheit aller künftigen Menschen“ (Amos Oz, Jesus und Judas, Vorabdruck in: DIE ZEIT, 22. 2.2018, S. 56).

Wird das dem Ernst der Sache aber gerecht?

Man muss zunächst klären, worin ein vorgespiegelter Verrat überhaupt bestanden haben müsste, weil es die 30 Silberstücke nicht gewesen sein können und auch nicht die Kenntnis des Übernachtungsorts beim Fest. Jesus war eine bekannte Persönlichkeit, die auch beim großen Pilgerandrang im Tempelhof leicht zu finden war.

Bei Matthäus kann man einen Hinweis auf die Notwendigkeit eines Verräters als Zeugen herauslesen. Er schreibt: „Die Hohenpriester und der ganze Hohe Rat bemühten sich um falsche Zeugenaussagen gegen Jesus, um ihn zum Tod verurteilen zu können. Sie erreichten aber nichts“ (Mt 26, 59-60). Auch der vierte Passionsbericht bestätigt diese Vermutung. Jesus verteidigt sich vor dem Hohenpriester: „Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im geheimen gesprochen.“ Und vor Pilatus: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert wäre.“ (Joh 18,20.36)

Der Verrat hätte darin bestanden, dass Judas den Hohenpriestern dafür bürgen konnte, dass Jesus im inneren Kreis ganz anders über seine politischen Pläne spreche als öffentlich.

Judas wusste aber, dass dem nicht so war. Warum war dieser erwählte Apostel dazu bereit, zu lügen? Am wahrscheinlichsten sind es die Eifersucht und der Neid auf die drei Lieblingsjünger Jesu gewesen. Darauf weisen nicht nur die allgemeine Lebenserfahrung hin, sondern direkt die Berichte über den Streit der Jünger bis zum Abendmahlstisch, wer im Kreis am meisten gelte. Auch die Lektüre der Geschichte des alten Israel in der Bibel und vor allem das Studium der Innenseite der Kirchengeschichte legt diesen Verrats-Grund Eifersucht nahe.

Ein durch Eifersucht Gescheiterter?

Den Moraltheologen ist zu den Sünden gegen die zehn Gebote vom Sinai noch eine elfte Extra-Sünde bekannt: Die „invidia clericalis“, der klerikale Neid, in dem ein Priester dem anderen seine Begabung und Erfolge nicht gönnt. Damit deuteten auch die Journalisten in den letzten Jahren des Papstes Benedikt XVI. die Turbulenzen im Vatikan. Aber nicht nur Journalisten. Auch Kardinal Carlo M. Martini von Mailand geißelte vor Priestern diese spezielle Versuchung Beamteter in der Kirche:

"Die in der Kirche am stärksten verbreitete Sünde ist der Neid. Wir denken: warum hat ein anderer das bekommen, was mir zusteht? Es gibt Priester, die vom Neid, der invidia clericalis, zerfressen werden und denken: weshalb ist ausgerechnet diese Person zum Prälaten oder zum Bischof ernannt worden und nicht ich? Es gibt ganze Diözesen, die von anonymen Briefen zerstört worden sind, die manchmal sogar in Rom geschrieben worden waren. Auch Eitelkeit ist häufig anzutreffen; das erweist sich schon an der Art, wie kirchliche Würdenträger sich kleiden. Auch an der römischen Kurie will jeder mehr sein. Man bringt bestimmte Dinge nicht zur Sprache, weil man weiß, dass sie der Kariere schaden könnten. Leider gibt es Priester, die sich zum Ziel setzen, Bischof zu werden, und es gelingt ihnen. Es gibt Bischöfe, die nicht sprechen, weil sie wissen, dass sie sonst nicht befördert werden. Einige melden sich nicht zu Wort, um ihre Kandidatur als Kardinal nicht zu blockieren. Wir lieben mehr den Applaus als die Pfiffe. Wir müssen Gott um das Geschenk der Freiheit bitten."
(Am 05. 06. 2008 in der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ publiziert)

Matthäus sagt über den Richter Pilatus: „Er wusste, dass man Jesus nur aus Neid an ihn ausgeliefert hatte“ (Mt 27,18). Der Neid des Tempels und der politischen Führung hatte einen verwandten Grund: den Ärger über das in Jesus sprechende Gewissen; es bedurfte zu einem Fehlurteil noch des Neides des Judas, um zu dem Ziel zu gelangen, den lästigen Propheten aus Nazareth mundtot zu machen.

Warum die Richter scheiterten

Die Christen verkannten bisher die Tatsache: Nicht das jüdische Volk hat Jesus getötet, sondern eine kleine Gruppe der Hohenpriester und des Hohen Rats fühlte sich durch ihn etwa so herausgefordert wie die Regierung Athens durch Sokrates. Die Auslöschung Jesu wäre diesen wenigen Feinden nicht geglückt, wenn es nicht, so sehen es die Passionsberichte, den Verrat vom Innenkreis her gegeben hätte. Die Kirche erinnert bei jeder Eucharistiefeier an diese Schwäche in ihrem Inneren und jeder Christ bekennt in der Liturgie der Karwoche: Meine Sünden haben Jesus getötet. Auf dieser Ebene ist auch der Sinn der Bitte „und führe uns nicht in Versuchung“ zu finden.

Der Osterglaube bedeutet die dem Unglück entsprechende Einsicht: eine Aufhebung des Tempel- und Hohe-Rat-Fehlurteils im Urteil Gottes. Einfache Menschen wie die galiläischen Fischer mussten sich dafür gegen die höchsten Autoritäten stellen. Ihr Gewissen und ihr Wissen, wer Jesus war, entschieden, auf wessen Seite das Recht Gottes gewahrt sei.

Für heutige Christen bedeutet das: Es war ein Jude, der mit seinem Leben und seinen Worten definierte, was Gott will. Diese Beschränkung auf die Erfahrung und das Wissen eines Menschen, bei dem für Christen im Menschenwort zugleich das Gotteswort da war, ist in unserer Zeit der Relativierung jeder Wahrheit zu einer bloß subjektiven eine philosophisch adäquate Antwort. Denn sie entspricht der Einsicht, dass ein transzendenter Gott ein schweigendes Geheimnis bleiben müsste, wenn ihm niemand Worte verleiht. Aufgeklärt-gläubige Christen brauchen nicht in einen Verzicht auf die Wahrheit und Weisheit der Bibel zu flüchten. Und Jesus, der scheinbar Juden und Christen trennt, würde wieder als Brücke zwischen beiden kenntlich.

Ludwig Weimer

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