18. Dezember 2016

Freiheit ist Salami. Eine Widerrede gegen Zensursulas Epigonen

"Die Reu ist kurz, der Wahn ist lang", ließe sich in Umkehrung eines bekannten Schiller-Verses (aus dem Lied von der Glocke) die Reaktion der politisch-medialen Eliten auf das Ergebnis des Brexit-Referendums und die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten (respektive die Kür der entsprechenden Wahlmänner) zusammenfassen. Wenig nachhaltige Momente der Unsicherheit, in denen sich der eine oder andere Angehörige des Establishments fragte, ob man in den letzten Jahren am Publikum vorbeiregiert beziehungsweise -publiziert hatte, wichen sofort wieder der Gewissheit, dass man selbst nichts falsch gemacht hatte. Die Schuld wurde den alten, weißen Männern zugeschoben, die angeblich mit der schönen, neuen, diversifizierten Welt nicht zurechtkamen und ihre eigene historische Marginalisierung verzögern wollten.
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Als weitere Erklärung für die Erfolge der Rechtspopulisten mussten sogenannte Fakenews herhalten, wobei insbesondere Facebook vorgeworfen wird, einen Tümpel für derartige Enten zu bilden. Wenig überraschend ließ die deutsche Politszene sofort ihrem Indizierungs- und Bestrafungsreflex freien Lauf. Belege dafür, dass dem Problem der virtuellen Echokammern statistische Signifkanz oder gesellschaftliche Relevanz zukäme, fehlen zwar. Vieles spricht sogar dafür, dass das Internet Meinungskokons aufgebrochen hat. Und auch Trumps Urnentriumph lässt sich schlüssig erklären, ohne dass man auf die zu seinen Gunsten geführten Desinformationskampagnen zurückgreifen müsste.

Doch wenn Politiker zu einem Feldzug angesetzt haben, lassen sie sich von derartigen Bedenken nicht aufhalten. Ganz unkreativ wird - wie fast immer in solchen Fällen - Sanktionierung und Regulierung gefordert. Die zugrunde liegende Unterstellung, das Internet sei ein rechtsfreier Raum, ist ein alter Hut. Wer mit der juristischen Praxis zu tun hat, weiß, dass wegen strafbarer Kommentare in sozialen Netzwerken Staatsanwaltschaften ermitteln und Gerichte verurteilen. Wie bei Delikten im realen Leben auch wird nicht jeder Gesetzesverstoß auch tatsächlich verfolgt, dies ganz einfach deshalb, weil so manche Übertretung unentdeckt bleibt.

Schaut man durch den Rauch der Nebelkerzen der Verbotsforderungen, wird offenbar, worum es wieder einmal geht: Das Internet soll an die Leine der staatlichen Überwachung genommen werden. Was mit der Verbannung von schwammig definierter Hatespeech und Fakenews beginnt, kann mit der Unterdrückung von unliebsamen Meinungen und nicht hilfreichen Argumenten enden.

Diese Befürchtung ist nicht paranoid: Als Merkel vom Internet als "Neuland" sprach, war sie damit im Hinblick auf die deutsche Politszene vollkommen aufrichtig. Denn hierzulande verstehen die Staatslenker das junge Medium weder in informatischer noch in kulturell-kommunikativer Hinsicht (oder, was noch schlimmer wäre, sie verstehen es und wollen dennoch darauf Einfluss nehmen): Die Gutenberg-Revolution schuf die technischen Voraussetzungen dafür, dass zu Papier gebrachte Gedanken einer größeren Zahl von Menschen zugänglich wurden. Die Berners-Lee-Revolution bewirkte das Nämliche mutatis mutandis für den Kreis der Produzenten.

Im Web 2.0, dem Mitmach-Internet, kann jeder seine 2[.0] Cent in die Waagschale werfen. Blogs und Watchdogs haben das Potenzial, das "Quis-custodiet-ipsos-custodes"-Problem zu lösen: In einem liberalen Gemeinwesen ist es denkunmöglich, dass der Staat die Medien kontrolliert. Ein Staat, der die Pressefreiheit nicht gewährleistet, hört allein dadurch auf, ein Grundrechtsstaat zu sein. Aber die Medien sind nun einmal auch die vierte Gewalt und verfügen dementsprechend über Macht. Das Web 2.0 erlaubt es jedem einzelnen Bürger, Missstände in der Berichterstattung der etablierten Zeitungen und Sender aufzuzeigen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Gegenöffentlichkeit.

Dass es die Politik mit dieser Gegenöffentlichkeit nicht allzu gut meint, wird schon dadurch offenbar, dass die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend alimentierte Antonio-Amadeu-Stiftung einen nunmehr nicht mehr allgemein zugänglichen Index für völlig undifferenziert (und in mehreren Fällen auch durchaus bösartig und postfaktisch) als digitale Hass-Quellen gebrandmarkte Publikationen betrieb. Erst wird diffamiert, dann verboten - dies ist die gängige Masche.

Bei der CDU übernimmt der Bundestagsfraktionsvorsitzende Volker Kauder die Rolle des Zuchtmeisters. In seinem Beitrag für die WELT (h/t Arprin) ist von unumgänglichen Gesetzesverschärfungen und Bußgeldern die Rede. Die Überschrift des Artikels "Wenn das Netz weiter lügt, ist mit Freiheit Schluss" stammt vermutlich nicht von Kauder selbst, steht aber nun doch schon fast einen Monat lang unwidersprochen im Netz, sodass man davon ausgehen muss, dass der Unionspolitiker diesen gouvernantenhaften, jedem Liberalen die Gänsehaut aufziehenden Satz als Quintessenz seiner Ausführungen billigt.

Kann sich noch jemand an Zensursula erinnern? Von der Leyens unausgegorene, aber mit Aggressivität vorgetragene Sperrpläne lösten seinerzeit Proteste bei den vereinigten Nerds dieses Landes aus. Der Zorn war so groß, dass die Netzaffinen die Niedersächsin nicht einmal mehr als Bundespräsidentin sehen wollten. Und was ist heute? Wo wird gefordert, dass Schwesig und Maas ihre Finger vom Internet nehmen oder von ihren Ämtern zurücktreten sollen? Der Piratenpartei gereicht es zur ewigen Schande, dass sie sich dazu entschieden hat, nicht bei ihrer Kernkompetenz zu bleiben und auf ein Vollprogramm zu verzichten, sondern eine linke Partei wie so viele andere zu werden. Eine Piratenpartei der geborenen und naturalisierten Digitalen wäre noch nie so wertvoll gewesen wie heute.

Vielleicht ist der Verfasser dieser Zeilen zu alarmistisch. Aber mit der Freiheit verhält es sich wie mit der Salami: Wenn man immer wieder eine Scheibe davon abschneidet, bleibt am Ende nichts von ihr übrig.
Noricus

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