17. Mai 2016

Arabischer Mythos

In Nahost ist wieder einmal Krieg, und wieder einmal werden Schuldige gesucht. Oder genauer: Die Schuldigen sind natürlich längst bekannt, weil es immer dieselben Schuldigen sind. Gesucht wird also eine Begründung, warum sie es auch diesmal sind.

Da kommt gelegen, daß das Sykes-Picot-Abkommen gerade 100 Jahre alt wird. So bietet sich die Chance für außenpolitisch inkompetente Journalisten, "den Westen" einmal wieder vorzuführen. Denn selbstverständlich habe dieser während des ersten Weltkriegs die heutigen Konflikte angezettelt.

Wie üblich prescht das Neue Süddeutschlant dabei besonders deutlich formulierend vor:
Warum der Nahe Osten ein Blutbrunnen ist - und bleibt
Und dann wird der Mythos nacherzählt, mit dem IS und arabische Nationalisten ihren Frust und ihre Aggressivität begründen.
Grotesker Unsinn.
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Selbstverständlich hatten Großbritannien und Frankreich nie vor, die vom osmanischen Reich zu erobernde Kriegsbeute komplett einem unabhängigen arabischen Staat zu überlassen. Das hatten "die Araber" auch nicht erwartet, weil mit ihnen keiner geredet hat. Mehrheitlich standen sie ohnehin treu zu ihrem osmanischen Kalifen und kämpften in seiner Armee auf Seiten der Mittelmächte.

Die Alliierten verhandelten nur mit einem arabischen Fürsten, dem Sherifen von Mekka. Und dem wurde ein Königreich versprochen - das er dann auch bekommen hat. Die genauen Grenzen blieben dagegen offen. Und dem Sherifen war natürlich klar, daß die Kolonialherren von Algerien, Tunesien und Ägypten keine allgemeine arabische Unabhängigkeit vorhatten.

Der Sherif bekam also im wesentlichen die Gebiete, bei deren seine Krieger wenigstens halbwegs mitgekämpft hatten - also im Hedschas rund um Mekka und Medina.
Schon bei der Eroberung Palästinas und Syriens waren die wenigen tausend arabischen Hilfskämpfer unwichtig gegenüber einigen hunderttausend britischen Soldaten. Und in Mesopotamien kämpften ohnehin nur die Briten.

Als sich im Frühjahr 1916 abzeichnete, daß von den Arabern nicht viel zu erwarten war - daß aber die Eroberung des ganzen Südens und Ostens des omanischen Reichs durch britische, französisch und auch russische Truppen bevorstand: Da war es logisch und im Geist der Zeit auch legitim, daß sich die drei Mächte über die Verteilung dieser Territorien einigten.

Ein "Verrat" an der arabischen Sache war das nie. Und auch keiner am Sherifen von Mekka. Denn dieser konnte seine Versprechen über einen großen arabischen Aufstand nicht ansatzweise einlösen und hatte überhaupt keine Basis für seine hochfliegenden Ambitionen. Daß seine Söhne später als Könige in Jordanien, Syrien und dem Irak eingesetzt wurden, war deutlich mehr als ihm jemals vertraglich zugestanden worden war.

Und ebenso wenig konnten sich die Araber beklagen, daß die Briten ein Jahr später in der Balfour-Deklaration den Juden eine Heimstatt in dem Gebiet versprachen, daß die britischen Truppen von den Osmanen erobert hatten.


Aber die SZ erhebt noch einen weiteren, in gewissen Kreisen üblichen, Vorwurf:
Also wurden ... Staaten gegründet, Grenzen quer durch eine Vielvölkerregion gezogen, ohne Rücksicht auf Siedlungsgebiete, Ethnien, Stämme und Religionsgruppen.
Das ist noch richtig. Sykes-Picot war erst einmal eine grobe Blaupause, um die wichtigsten regionalen Ansprüche abzustecken.

Aber völlig falsch ist die Schlußfolgerung:
Das Sykes-Picot-Abkommen ist ein Schlüssel zum Verständnis dafür, warum der Nahe Osten ein Blutbrunnen ist und bleibt. ... Heute brechen sich die durch Sykes-Picot ausgelösten Konflikte als Religionskriege oder als Kampf gegen den Terror Bahn.

Ein Blick auf die Karte zeigt nämlich: Die Grenzen von Sykes-Picot sind nie wirklich umgesetzt worden.
Die französische Haupteinflußzone (und die russische) sind nie realisiert worden, weil die Türken sich erfolgreich dagegen gewehrt haben. Das wichtigste Gebiet der ganzen Region - nämlich die Ölquellen um Mossul - gingen nach dem Krieg nicht an Frankreich, sondern an England. Die "internationale Zone" gab es nie, stattdessen ein viel größeres Mandatsgebiet Palästina, das später in einen jüdischen (Israel) und arabischen (Jordanien) Teil zerfiel. Von Sykes-Picot sind eigentlich nur einige Linien im Dreiländerecke Jordanien/Syrien/Irak geblieben. Aber eben dort sind menschenleere Wüstengebiete, die genaue Grenzziehung war damals so unwichtig wie heute.

Die Entstehung der modernen Staaten Libanon, Syrien und Irak hat fast nichts mit irgendwelchen angeblich von weltfremden europäischen Diplomaten gezogenen Grenzen zu tun. Sondern sie gehen im wesentlichen auf die alten osmanischen Provzinzen zurück:
Libanon (Beyrut), Syrien (Haleb, Dimashk, Sandschak-Zor) und Irak (Musul, Baghdad, Basra).
Und gerade Syrien und Irak/Mesopotamien sind uralte geographische Einheiten, an denen ist nichts künstlich erfunden.

Daß diese Staaten nicht den "Siedlungsgebieten, Ethnien, Stämmen und Religionsgruppen" entsprechen liegt auch nicht an Ignoranz oder Böswilligkeit der Europäer, sondern schlicht daran, daß die ganze Region sehr durchmischt besiedelt ist und eine ethnische oder religiöse Grenzziehung völlig unmöglich ist.

Generell: Die Konflikte in der Region, speziell der zentrale zwischen Shiiten und Sunniten, sind uralt. Es ist völlig abstrus, die wenigen Jahrzehnte europäischer Regierung (bei weitgehender Autonomie der einheimischen Herrscher) dafür verantwortlich zu machen, daß über Jahrhunderte gewachsene Konflikte auch nach dem Abzug der Europäer weitergingen.

Die Bärtigen vom "Islamischen Staat" haben nicht zufällig das "Ende von Sykes-Picot" ausgerufen ...
Nein, das war kein Zufall. Wie bei anderen Themen bedienen sich die Islamisten bei ihrer Propaganda sehr geschickt der Themen, die in westlichen Medien ankommen. Die Mythen von der "arabischen Demütigung durch den Westen", von der "jüdischen Landnahme", vom "palästinensischen Volk" und der "Last des kolonialen Erbes" sind bei den meisten Journalisten jederzeit abrufbar, die werden nicht mehr hinterfragt und dienen jederzeit als Basis, um eine komplizierte Realität in ein schlichtes dogmatisches Weltbild zu pressen.

R.A.

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