Zum Auftakt sei eingeräumt, daß der Titel dieses Blogposts eine kleine Irreführung darstellt: an den US-amerikanischen Kinderbuchillustrator und- autor William Pène du Bois, der heute vor 100 Jahren, am 9. Mai 1916 in Nutley, New Jersey, geboren wurde, kann in Deutschland eigentlich nicht recht erinnert werden, weil er und sein Schaffen bei uns nie bekannt geworden sind. Auch in seiner Heimat sind seine Bücher, zum allergrößten Teil, von dem heimgesucht worden, was Hans Magnus Enzensberger die "Furie des Verschwindens" genannt hat (und die sich der Endunterzeichnete immer wie die Begegnung mit der titelgebenden Gestalt von Lewis Carrolls epischem Großgedicht The Hunting of the Snark von 1876 ausgemalt hat:
'But oh, beamish nephew, beware of the day,
If your Snark be a Boojum! For then
You will softly and suddenly vanish away,
And never be met with again!'
- was Günter Fleming in seiner 2013 erschienenen Übertragung der "Agonie in acht Gesängen" so ins Deutsche geschmuggelt hat: "Doch, strahlischer Neffe, mög's niemals gescheh'n / Daß das Schnark sich als Bulam erweist, / Denn sonst wirst du sanft und im Nu untergeh'n, / Wie am Morgen ein nächtlicher Geist.")
Von den gut zwei Dutzend eigenen Büchern und der doppelten Anzahl derer, die er mit seinen Illustrationen versehen hat, ist das Gros sanft in die ewigen Jagdgründe der Großbibliotheken eingegangen; geblieben sind kurze Einträge in Nachschlagewerken zur Jugendliteratur, die eine oder andere Reproduktion in Sekundärwerken und gelegentlich die Chance, den einen oder anderen Titel zu einem erschwinglichen Preis über einen der Aggregatoren für antiquarische Titel, seien es Amazon, ZVAB oder ViaLibri, aufzutun (wobei gerade Bücher für junge Leser für Sammler oftmals teurer zu stehen kommen als "gewöhnliche" Titel: das intendierte Publikum neigt in aller Regel nicht dazu, selbst geliebten Schmökern pfleglichen Umgang angedeihen zu lassen; und Erwachsene, die sie als Sammler erwerben und sie wie einen Augapfel hüten, tun dies für gewöhnlich erst, wenn die Titel nach dem Ablauf von Jahrzehnten in den Rang entweder von Sammlerstücken und/oder nostalgischen Jugenderinnerungen aufgestiegen sind.)
Die Ausnahme bildet der 1947 erschienene Roman The Twenty-One Balloons - ein kleiner Klassiker in seinem Genre und der einzige Titel, der nicht nur bis heute im Angebot der Verlage geführt wird, sondern auch übersetzt worden ist - u.a. ins Französische (Les vingt et un ballons) und nicht weniger als drei Mal, 1960, 1967 und 1986, ins Japanische (unter dem Titel 講談社). "In seinem Genre" meint in diesem Fall nicht die nervenaufreibende Abenteuererzählung, die junge Leser dazu treibt, sich über elterliche Lektüreverbote von nächtlicher Lektüre bei völlig unzureichender Geheimbeleuchtung mit todesverachtender Entschlossenheit hinwegzusetzen (die letzten Bücher, denen das hierzulande widerfahren ist, dürften von einem Zauberlehrling mit einer Stirnnarbe handeln), sondern das genaue Gegenteil: das, was im Englischen, mit Bezug auf die Schilderungen aus entlegenen Welten, als Club Story oder Drawing Room Tale geläufig ist: Der Protagonist schildert seine mehr oder weniger wahrscheinlichen Erlebnisse seiner kleinen Zuhörerschaft in einem gediegenen Herrenklub oder Pub der höheren Gebührenklasse; die Frage nach dem glücklichen Ausgang des Abenteuers steht nie als störende Ablenkung im Weg, Pfeifen- (oder, besser: Zigarren)rauch steigt unter die Decke, und am singenden Ton der Gasbeleuchtung wird klar, daß in dieser aus der Zeit gefallenen Monade die Uhren immer das Jahr 1895 anzeigen werden. Den Fällen des Meisterdetektivs aus der Baker Street Nr. 221 B ist dieses Ambiente noch zu seinen Lebzeiten zugewachsen; dem Zeitreisenden in H.G.Wells' "Zeitmaschine" dient es als größtmöglicher Kontrast zur fernen und fernsten Zukunft unseres Planeten, und viele, viele Werke aus dem heute als "Steampunk" bekannten Subgenre des Spekulativen Literatur, besonders ihrer frühen Autoren wie James Blaylock oder Brian Stableford atmen diese Sepiafärbung ihres narrativen Mikrokosmos.
Genau solch ein Club, der Western American Explorers`Club in San Francisco ist es, in dem Professor William Waterman Sherman von seinen Erlebnissen berichtet, nachdem er die Einladung des Präsidenten ins Weiße Haus ausgeschlagen hat, nachdem ihn ein Postdampfer inmitten der Trümmer von zwanzig Ballons aus den Fluten des Atlantiks aufgefischt hat, wenige Wochen nach seinem Aufbruch in einem selbst konstruierten Riesenballon von der amerikanischen Westküste. Professor Watermans Hauptanliegen war es, sich dem Alltagstrott zu entziehen, "to get away from it all":
For years I had cherished the idea of this trip. As you know, I was a teacher of arithmetic for forty years. Forty years of being surrounded by a classroom of healthy prankish students. Forty years of spitballs. Forty years of glue on my seat, Sal Hepatica in my inkwell, and other devilish tricks. Long about the thirty-sixth year, I started yearning to be alone. I amused myself with thinking of many ways of doing this, trips in small boats, Polar expeditions; I joined this Explorers' Club, for after all it seemed to me that the ambition of explorers was to go where no one had gone before. One day I started thinking of a balloon in which I could float around out of everybody's reach. This was the main idea behind my trip: to be where no one would bother me for perhaps one full year; away from all such boring things in the lives of teachers as daily schedules, having to be in different classrooms at exact times week after week.
Seit Jahren hatte ich den Gedanken an diese Reise gehegt. Ich war, wie Sie wissen, vierzig Jahre lang Lehrer für Mathematik. Vierzig Jahre Studenten, die nichts als groben Unfug im Kopf haben: vierzig Jahre vollgelüllte Papierkugeln, vierzig Jahre Kleister auf dem Stuhl, Abführmittel im Tintenfaß andere Teufeleien. Ab Mitte Dreißig fing ich an, vom Alleinsein zu träumen. Ich malte mir allerlei Möglichkeiten aus: Fahrten in kleinen Booten, Expeditionen ins ewige Eis. Ich trat diesem Club bei; schließlich schien es mir, daß das Ziel von Entdeckern darin liegt, dahin zu gelangen, wo noch niemand vor ihnen war. Dann, eines Tages, kam mir die Idee eines Ballons, mit dem ich alles hinter mir lassen könnte. Das war die Absicht meiner Unternehmung: irgendwohin, vielleicht für ein ganzes Jahr, wo mir all diese langweiligen Lehrer-Angelegenheiten wie Stundenpläne und dergleichen erspart bleiben würden.
Zwar ist der Ballon wohldurchdacht und durchaus - zumindest innerhalb seiner erzählerischen Vorgaben - in der Lage, ein ganzes Jahr lang das Luftmeer zu befahren, doch schlägt er in den Unbillen eines Taifuns leck und unser unheldischer Held strandet, kurz bevor er den Haien als Frühstück (eine Vokabel, die das Romanpersonal nie entschuldigen würde, solange die Wendung Hors d'œuvre zur Verfügung steht) dienen kann, in den Weiten des Stillen Ozeans auf der Insel Krakatau, am 20. August 1883 - eine Woche, bevor einer der größten vulkanischen Eruptionen der bekannten Geschichte den Namen dieser Insel dauerhaft im Gedächtnis der Nachwelt fixieren wird. Dort entdeckt Professor Sherman eine - streng geheime! - Kolonie exzentrischer amerikanischer Milliardäre, deren Reichtum sich auf die unerschöpflichen Diamantvorkommen gründen, die in den Tiefen des Vulkanschlots gefördert werden können. Natürlich muss dies ein Geheimnis blieben, denn die Flutung des Weltmarktes mit kristallinem Kohlenstoff würde die Preise stante pede zum Kollabieren bringen. So wäre der gute Professor ein Exilant auf Lebenszeit gewesen, wenn nicht ... seine Expertise als Luftschiffer das schlußendliche Überleben der Insulaner sichergestellt hätte. (Im Vorwort erwähnt Du Bois übrigens seine Überraschung und sein peinliches Berührtsein, als ihn sein Lektor auf die Parallele zu F. Scott Fitzgeralds Erzählung "The Diamond as Big as the Ritz" von 1922 hinwies. Allerdings dient der Diamant in Fitzgeralds Fall nur zur Anfachung von Gehässigkeit und Mordlust, nicht zur Entfaltung eines "culinary capitalism".) Hier findet sich übrigens eine Auswahl der an die Bilder von Edward Ardizzone erinnernden Illustrationen des Buchs.
Die satirische Einfärbung der krakatauroidalen Nicht-ganz-ideal-Gesellschaft gehört mit ins Genre solcher Bücher; anders als bei vielen solcher oft leicht bis schwer enervierenden Passagen in Romanen dieses Strickmusters - ob nun in Godfrey Swevens Limanora, or The Island of Progress (1903) , Alexander Mozskowskis Die Inseln der Weisheit (1922) oder Gerhard Hauptmanns Die Insel der Großen Mutter (1924) oder Laurids Bruuns Fortsetzungen seines ersten Van-Zanten-Romans von 1911 - tragen diese Abschnitte keine Gefahr mentalen Sodbrennens in sich. Als Muster dienen hier die langen technischen Passagen, die in den ungekürzten Fassungen der Jules Verne'schen Voyages extraordinaires Lesern, die sich eine Freude an Oldtimern, Dampfmaschinen, dem gußeisernen Charme alter Treibhäuser und dem Ozongeruch vorsintflutlicher Verstärkerröhren bewahrt haben, bis heute eine private Oase abseits aller technologischen Aktualität bieten. Man möchte zwar nicht unbedingt kommunikationstechnisch dem Stand von vor 30 (geschweige denn 100) Jahren ausgeliefert sein (verkehrstechnisch dürfte die Kluft freilich weniger gravierend ausfallend; und haushaltstechnisch noch einmal geringer), aber technologische Nostalgie war immer, entre nous soit dit, ein Gravamen, keine läßliche Sünde, die mit wenigen Stunden Facebooknutzung abzubüßen wäre.
My balloon house was furnished with the lightest of everything. The usual mattress is too heavy and is only used at night anyway. I designed a mattress made of the same material as my balloon and filled with gas. With a sheet over it, it stayed on the Boor and was most soft and comfortable. When I pulled the sheet off, it floated up to the ceiling and was thus stored out of my way in the daytime. I had chairs and a table made of balsa wood and bamboo. I had a library of paper-bound books printed in small type. My foods and liquids were chosen with the idea of saving weight. I carried a strong shark-fishing rod with the hope of catching a few fish to increase my food supply.
Mein Ballonhaus war mit dem Leichtesten - in jedr Hinsicht -ausgestattet. Die normalen Matrazen sind zu schwer und werden ohnehin nur nachts genutzt. Ich entwarf eine Matratze aus demselben Stoff wie mein Ballon und mit Gasfüllung. Mit einem Laken beschwert, blieb es am Boden und war höchst komfortabel und weich. Wenn ich das Laken abzog, schwebte es an die Decke und blieb mir tagsüber aus dem Weg. Ein Tisch und Stühle waren aus Balsaholz und Bambus gefertigt. An Büchern wählte ich Taschenbücher mit kleiner Schrift. Speisen und Getränke waren in Hinblick auf Gewichtsersparung ausgewählt. Und ich nahm eine Haifischangel mit, um meinen Speiseplan ergänzen zu können.
Ein älterer, leicht verschrobener Herr, der in "einem Haus" unter einem Ballon den Unbillen der widrigen Welt entflieht in exotische Weltgegenden... Woher kenne ich das noch? Ah ja: daher.
In der Welt der Wirklichkeit ist, leider, gigantischen Aerostaten, imstande, ganze Häuser, gleich in welcher Leichtbauweise, durchs Reich der Wolken zu transportieren, deutlich weniger Fortüne beschert gewesen wie in den luftigen, immer irgendwie nach Rococo anmutenden Schwebephantasien, ob sie nun am Ende von Jean Paul "Campanerthal" oder den Luftflotten, mit denen 100 Jahre später Alfred Robida in den 1880er und -90er Jahren seine Panoramen des XX. Jahrhunderts belebte. Ein Künstler wie der Belgier Panamarenko hat schon gewußt, warum er seine Visionen von tuchbespannten Flugmaschinen immer im Reich des Entwurfs belassen hat.
I looked to the work of another French balloonist named Nadar. Nadar built himself a big balloon which he christened Geant and attached to this a real little basket house. It had a door, windows, a staircase which led up to its little roof. The roof of the house was bordered by a woven balustrade, furnished with wicker furniture, and was an ideal observation platform. The inside of the house was appropriately and comfortably
furnished. This was a basket weaver's masterpiece. It was light, strong, and comfortable. I designed my basket house in much the same manner with but few changes. I didn't use the roof of my woven house as an observation platform but rather as a sort of open-air attic in which to store food. For observation, there was a small porch all the way around my house with light uprights and balustrade made of bamboo. This porch was quite like the deck of a ship. Nadar's balloon wasn't built, as mine was, with the idea of taking very long trips or staying in the air many months.
Ich nahm mir (sagt der gute Professor) den Franzosen Nadar als Vorbild. Nadar hatte sich einen großen Ballon gebaut, den er Géant taufte und an dem er ein richtigen kleines Haus aus Weidengeflecht anbrachte. Es hatte eine Tür, Fenster, eine Treppe, die auf das kleine Dach führte. Das Dach war von einer geflochtenen Balustrade umgeben, mit Korbstühlen ausgestattet: eine ideale Aussichtsplattform. Das Innere war angemessen und gemütlich möbliert - ein Meisterwerk der Korbflechterkunst. Leicht, fest und komfortabel. Ich übernahm das Meiste, mit nur kleinen Veränderungen. Das Dach diente nicht zur Aussicht, sondern als eine Art Freiluftstauraum für Lebensmittel. Dafür lief eine kleine Veranda rund ums Haus, mit Stützen und Geländern aus Bambus - es war fast wie ein Schiffsdeck. Nadars Ballon war nicht, anders als meiner, dafür gedacht, sehr lange Flüge zu unternehmen oder monatelang in der Luft zu blieben.
Der Géant, 1863 das größte je gebaute Luftfahrzeug - die Idee dazu gab Jules Verne im gleichen Jahr die Anregung zu seinem ersten Roman Cinq sémaines en ballon - hatte ein höchst unrühmliches Schicksal. Am 19. Oktober 1863 havarierte der Ballon auf seiner zweiten Fahrt (Ballöner sprechen, wegen des aerostatischen Gleichgewichts ihrer Vehikel, nie von "fliegen", sondern vom "fahren") auf dem Flug von Paris nach Hannover.
Das 45 Meter hohe Luftfahrzeug hatte eine zweistöckige Gondel. Gefüllt mit 6 000 Kubikmetern Gas sollte die Fahrt bis Hannover führen. Fast hätten es Konstrukteur Nadar und seine acht Passagiere auch geschafft. Doch an der Alpe bei Rethem nahm die kühne Lufttour einen Tag später ein unglückliches Ende: Am 19. Oktober 1863, gegen 10 Uhr, strandete ,Géant“ in der Nähe des Güstenstegel, heute Hof Heyer, im Frankenfelder Bruch.
Luftschiffer Nadar und seine Freunde hatten eigentlich nach dem Überqueren der Weser bei Nienburg zu Boden gehen wollen. Dabei klemmte ein Austritt-Ventil und der Ballon stieg nach einer kurzen Erdberührung wieder in die Höhe. Der ,,Géant“ wurde vom Wind knapp über dem Boden in Richtung Rethemer Moor getrieben, die Gondel streckenweise durch die Torfkuhlen geschleift.
Dabei waren vier Passagiere aus ihren wie Zimmer, teilweise mit Betten, ausgestatteten ,,Kabinen“ herausgesprungen und hatten sich verletzt. Die übrigen fünf Mitfahrer mussten am Ende noch ein unfreiwilliges Bad in der Alpe nehmen, bevor der „Riese“ schließlich in den Baumwipfeln des Frankenfelder Bruches hängen blieb.
Fast alle Mitfahrer hatten sich beim Unfall mehr oder weniger verletzt. Besonders übel hatte es die Ehefrau des Konstrukteurs erwischt: Madame Nadar war unter die umstürzende Gondel geraten und dabei eingeklemmt worden.
(Heidekreis-Zeitung, 18.10.2013, "Als der Riese vor 150 Jahren bei Rethem strandete")
Bei den literarischen Visionen einer solchen, letztlich rein ludischen Insel-Spielwelt, die vom Erfindungsreichtum, von der Lust an alten Almanachen und Stahlstichen, lebt, ohne primär auf Satire oder Dramatik zu setzen - eine literarische Sandbank, die am Ende in den Fluten versinkt, ohne eine moralische Lektion auf Stadtgröße (wie Ys oder Rungholt) oder in kontinentalen Dimensionen (wie Atlantis) im Gepäck zu haben, bleibt vielleicht noch der Verweis auf die höchst gelehrte Abhandlung von Prof. Harald Stümpke, "Bau und Leben der Rhinogradentia" von 1962. Deren Habitat fiel zwar bedauerlicherweise den Nukleartests des Kalten Kriegs zum Opfer statt der blinden Naturgewalt. Aber als erste Annäherung an das "Menschen, Göttern gleich" (um den deutschen Titel eines russischen SF-Romans von Sergej Snegow zu bemühen) mag das immerhin herhalten.
(Titelbild der Erstausgabe 1947; als Bild über Wikimedia per Creative Commons License freigegeben; Die Katastrophe des Ballons „Le Géant“. Die über den Erdboden rasende Gondel bei „Nieubourg“ (Hannover). - Nach überlieferter Auskunft durch Monsieur Nadar. Stich auf einem Ausschnitt einer französisch-sprachigen Zeitung/Zeitschrift, signiert Henri de M und „PETIT“, um 1863)
Ulrich Elkmann
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