7. Mai 2016

Wirklichkeit und Sprache, Wort und Tat

Dichter hören das Gras wachsen, sagt man. Was ist heute unsere Wirklichkeit? Und wer bringt sie so mutig zur Sprache wie die Früheren?

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1937, in Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“ sagte sich der Held des Romans, ein Lehrer, angesichts der rassistischen Schüler: „Nein, ich werde euch von nun ab nur mehr erzählen, dass es keine Menschen gibt, außer euch, ich will es euch so lange erzählen, bis euch die Neger rösten! Ihr wollt es ja nicht anders!“ Und versteckte sein Gewissen – vorerst –, weil er seinen Pensionsanspruch nicht verlieren wollte.

Die Wirklichkeit war ihm wahrnehmbar, er wollte sie aber nicht in eine Kommunikations-Sprache überführen. Das verschuldete letztlich einen Mord beim Zeltlager der Klasse.

Einmal bringt der Lehrer seine nächtlichen Gedanken in das Bild eines Kostüm-Tanzes der Gefühle: „Ein vornehmer Ball. Exklusive Kreise. Gesellschaft! Im Mondlicht drehten sich die Paare. Die Feigheit mit der Tugend, die Lüge mit der Gerechtigkeit, die Erbärmlichkeit mit der Kraft, die Tücke mit dem Mut. Nur die Vernunft tanzte nicht mit. Sie hatte sich besoffen, hatte nun einen Moralischen und schluchzte in einer Tour: »Ich bin blöd, ich bin blöd!« - Sie spie alles voll.“

Das Gewissen wird hier als Vernunft identifiziert. Die Ratio, verstanden als Liebe zur Wahrheit, wird als Maßstab theoretisch anerkannt, aber in der Praxis durch die normale ‚Lebenserfahrung‘ im Blick auf die Notwendigkeit der Pensionsberechtigung und die NAZI-Herrschaft abgelehnt.

Die Wirklichkeit der Gesellschaft offenbart etwas Krankes. Blättert man den Roman zur ersten Seite zurück, werden dort die Sätze sprechender: „Nein, zufrieden bin ich eigentlich nicht. Doch das ist ja schließlich niemand.“ „Ohne wirtschaftliche Sorgen alt und blöd werden.“

Im doppelten Abstand, im Rückblick auf diesen Roman aus der Zeit unserer Eltern und im Wiederlesen nach vielen Jahren, sieht man mehr und ist man tiefer berührt. Warum? Wohl, weil ich mit mehr eigener Erfahrung lese. Und weil Horváth nicht in einer Wissenschaftssprache und mit Begriffen die Krankheit seiner Zeit analysiert, sondern erzählt. Es ist keine historische Geschichte, sondern eine Verdichtung von Erfahrungen und Einsichten mit der Spannung eines Kriminalromans. Und sie passiert nur im Kopf des Schriftstellers. Aber sie ist eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Realitäten, Tatsachen.

Der Lehrer nimmt den Leser mit in das Zeltlager, wo er die ‚Wächter‘ überwachen muss, damit nichts passiert, und es passiert doch – aus seiner Schuld, einer kleinen Feigheit des Pädagogen. Erzählungen sind wie das „Komm und sieh!“ Sie nehmen die Phantasie mit zur Teilhabe am Geschehen. Kennt jemand eine vergleichbare Gewissenserforschung als kurze Erzählung (140 Taschenbuchseiten) zu unserer heutigen Lage? Sie sollte das gleiche Verstehen der falschen Werte und der Schwächen des Menschen aufweisen und ebenso aufklärend sein.

Ich wundere mich z.B., wie blind viele Fortschrittler, auch Leute in den Kirchen, die sogenannte „Lebenswirklichkeit“ als Maßstab für die Moral nehmen. Darf denn die Statistik entscheiden, was das Richtige ist?

Eine Mehrheit wird vielleicht sogar eher meinen: Es gibt überhaupt keinen objektiven Maßstab – außer den Gesetzen des Staates. Gemeint ist: Es gibt nur viele subjektive, die sich, durchdacht oder unüberlegt, durchsetzen.

Eine Menge von Schriftstellern schreibt; manche glänzen rhetorisch. Sie dürfen andere, die mit ihrem Mühen etwas erleben und schaffen, sozusagen berauben, sie müssen schreiben, ohne sich um die Verwirklichung der Werte kümmern zu müssen. Das ist ihre Freiheit, es ist auch schwere Arbeit. Sie beschreiben es so schön, dass wir es goutieren, und vielleicht sind wir als Leser noch viel passiver als die Schreiber in Sachen Verwirklichung eines zum guten korrigierten Lebens.

Der Islamismus machte dieses Frühjahr in Deutschland zum „Frühjahr der Religions-Bestseller“ (Martenstein, Zeit Literatur Nr. 13, März 2016); „Der zweite große Trend in der Erfolgsliteratur dieser Monate sind Bücher, die erklären, wer an allem schuld ist.“

Das Christentum hierzulande gilt als ideell bankrott. Nicht einmal ein deutscher Papst hat es reanimieren können. Die Kirchen erreichen auch trotz ihrer Wohlfühlprosa die Suchenden nicht mehr.

Der englische marxistische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton bietet die Erklärung an, das Bündnis von Thron und Altar werde bekämpft, nicht das Christentum als solches; der Ersatz durch ein metaphysisches Klimbim oder Hobby fülle die hinterlassene Leere.

Gerade erschien der Roman über das frühe Christentum „Das Reich Gottes“ des französischen Drehbuchautors und Filmproduzenten Emmanuel Carrère in deutscher Übersetzung. Er schreibt über den Glauben von Paulus und Lukas und über sich als Agnostiker. In Frankreich stellte ihn „Le Monde“ neben Houellebecq.

Das Christentum hat sich zu spät von der Staats-Abhängigkeit gelöst und hat seine Angst vor der Aufklärungs-Vernunft noch immer nicht ganz ablegen und durch eine neue Synthese aus Religionskritik und einem Leben nach dem Evangelium besiegen können. Etwas anderes Neues ist inzwischen erschienen: Christentum und Glaube in der klassischen Definition gelten der suchenden Moderne als überholt. Subjektive Orientierungen, Sinnsuche im Zusammenhang mit Natur, Kunst und Kultur gelten als der postchristlich-europäische Weg. Christliche heilige Außenseiter wie Franz von Assisi lassen sich da sogar einbeziehen.

Nis-Momme Stockmann, Hausautor am Schauspiel Frankfurt, ist mit seinem Roman „Der Fuchs“ ein Beispiel. Angesichts des Universums mit seinen über 13 Milliarden Jahren stellt er die Frage, ob wir nicht doch ein Teil von etwas Großem sind, ob unser Leben nicht zu einem ganz wichtigen Kampf gebraucht wird. Der Dorfroman wird zu einem „Schöpfungsmythos, Verschwörungsthriller“, zu einer großen „Gegenwartsdiagnose“ (Ijoma Alexander Mangold, Endlich Teil von etwas Großem sein, in dem oben genannten Heft). „Es geht um alles: um Metaphysik, um den Sinn des Lebens, um Zivilisationskritik, um das Grau der Gegenwart und das Elend der Postmoderne“.

Mangold, Literaturchef der Wochenzeitung „Die Zeit“, besuchte den Autor auf der Insel Föhr und fragte, ob er mit dem Roman eine Erlösungs-Erzählung anbiete.

Die Antwort des Schriftstellers war: „Der Roman ist in letzter Konsequenz feige, weil er den Schritt hinaus nur andeutet, aber nicht formuliert. Das ist das Dilemma der Postmoderne, dass sie immer nur weiter dekonstruiert, wir müssen aber etwas Neues bauen … Mein Gefühl ist, dass es jetzt wieder eine Ideologie-Sehnsucht gibt.“ Freilich sei das nicht die Aufgabe der Schreiber, Sinnstifter zu sein.

Liegt das ‚Böse‘ darin, dass das Interesse der Leser, der Käufer, dirigiert? Auffällig ist das Selbsturteil „feige“ in dem Gespräch, das uns auch bei Ödön von Horváth als Schlüsselwort begegnete. Das Gewissen funktioniert demnach noch. Aber auch die Literaturkritiker sind zu entschuldigen. Sie sind erst recht nicht die berufenen Religionsstifter und Propheten.

Alle berichten, es tue etwas not. Immerhin erfahren wir dadurch, dass etwas getan werden muss. Und dadurch gibt es den Scheideweg für Feigheit oder Tat, - aber nur für den, der weiß, was er zu tun hat.

Ludwig Weimer

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